
Kapitel 22
Eva ist gerade dabei, die Präsentation, die sie in Zusammenarbeit mit den drei Herren des Landesministeriums ausgearbeitet hatte, auf die Leinwand zu projizieren, als sie bei dem Gedanken an Lütjens für einen kurzen Moment der Ekel packt. Sie spürt, wie kalter Schweiß in ihr ausbricht und presst Zeigefinger und Daumen ihrer rechten Hand auf ihr Nasenbein. Dann schließt sie kurz die Augen und atmet einmal tief durch. Noch immer wird sie das Gefühl der Hände, die sich in ihre Taille krallen, nicht los. Sie schüttelt einmal den Kopf, um ihre Gedanken zu sortieren, ihre blonden Haare fliegen hin und her. Bevor sie sich jedoch weiter in die Situation zurückdenken kann, klopft es auch schon.
‘Erst kurz vor drei’, denkt sie sich, froh um die Ablenkung. ‘Das ist sicher Herr König.’
Und sie behält Recht - nach einem kurzen “Ja bitte?” öffnet sich die Tür und Raik König, seines Zeichens Concierge und Chef des Empfangs, betritt ihr Büro. Seine Kleidung sitzt wie angegossen, und auch das Haar liegt in einer ebenso perfekten Frisur. “Guten Tag, Frau de Vries”, grüßt er förmlich wie immer.
‘Der sieht einfach zu jeder Tageszeit aus, wie frisch aus dem Ei gepellt’, geht es Eva durch den Kopf und sie kann sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
“Guten Tag Herr König”, grüßt sie dann ebenso freundlich zurück und lächelt ihn an. “Nehmen Sie doch gerne Platz, möchten Sie etwas trinken?"
Raik König, gelegentlich immer noch überfordert davon, dass die Hotelchefin des Mondial in ihrem Büro selber die Getränke anbietet - und auch noch serviert! - antwortet schnell. “Danke, gerne - aber ich kümmere mich darum”, und bevor Eva noch etwas erwidern kann, hat er sich auch schon die Wasserflasche genommen und Eva sowie sich selbst ein Glas eingeschenkt.
Gerade als er den ersten Schluck genommen hat und Eva die Präsentationsfolien öffnet, klopft es erneut. Wieder ruft Eva “Herein!” und kurz darauf haben sich Pit Dübescheidt, der als Souschef auch eine größere Verantwortung für die Gestaltung der Menüs im Restaurant trägt, Maria Rietzel als stellvertretende Empfangschefin, Lara Hildebrandt sowie Linh Thuy am großen Konferenztisch eingefunden. Letztere würden in ihrer Position als Empfangsmitarbeiterinnen die Verantwortung für einen reibungslosen Ablauf der Kampagne und die Repräsentanz nach außen tragen. Nach kurzem Geplänkel, bestehend aus dem üblichen Smalltalk, erkundigt sich Eva nach der fehlenden Person in der Runde.
“Wissen Sie, wo Frau Kersting ist, Herr Dübescheidt?”, fragt sie knapp. Keinem der Mitarbeitenden entgeht der frostige Unterton. Sie wissen alle, wie sehr Eva de Vries Unpünktlichkeit hasst. ‘Jemand der unpünktlich ist, geht davon aus, dass seine Zeit wichtiger als meine eigene ist’, hatte Eva in einer ihrer ersten Ansprachen als neue Hotelchefin verkündet. ‘Und warum sollte jemandes Zeit wichtiger sein als meine?’, hatte sie hinzugefügt. Seit diesem Tag wussten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Mondial, dass es mehr als unklug ist, die Chefin warten zu lassen. Und ohne entsprechende Entschuldigung zu spät zu kommen grenzte an ein Himmelfahrtskommando.
“Äh, also eigentlich wollte sie schon längst hier sein”, gibt ein leicht nervöser Pit zur Antwort. “Ich hab’ sie eben noch unten in der Küche gesehen.” Er zuckt mit den Schultern. Als er die Küche verlassen hatte, hatte Uli noch an ihrem Tisch gesessen und irgendetwas notiert. Evas Gesichtszüge frieren ein und die Anwesenden spüren regelrecht, wie die Temperatur im Raum um ein paar Grad zu fallen scheint.
Während im Büro der Hotelchefin unangenehmes Schweigen herrscht, nachdem niemand so recht weiß, wo die Foodchefin steckt, ist besagte Uli Kersting noch unten in der Küche dabei, ihre Gedanken zu sortieren. Sie sitzt an ihrem winzigen Schreibtisch und dreht ihren Lieblingskugelschreiber zwischen den Fingern. Im Kopf kreisen die Gedanken und sie versucht mit aller Macht, sich zu konzentrieren.
Die Abmachung, die sie mit Eva getroffen hat, fällt ihr alles andere als leicht. Wie soll sie so tun, als ob Eva nur ihre Vorgesetzte wäre? Und dann noch eine, mit der sie sich nicht einmal wirklich gut versteht? Allein beim Gedanken daran, diesen Anschein erwecken zu müssen, spürt Uli einen Eisklumpen im Bauch. Es ist doch ihre Eva, ihre Partnerin - die Frau, die sie liebte und mit der sie die letzten Tage und Nächte geteilt hatte. Da konnte man doch nicht einfach diese Anziehung abschalten? Oder etwa doch?
Uli fährt sich frustriert durch ihre noch immer etwas zerzausten Haare. Das warme Gefühl in ihrem Bauch kehrt zurück, als sie daran denkt, was heute Vormittag in Evas Büro passiert ist. Sie lächelt verträumt und schreckt erst aus ihren Gedanken auf, als eine Kollegin sie fragt, ob sie nicht eigentlich mit Pit 'zur de Vries' hätte antreten müssen. Hastig schnappt sie sich ihr Notizbuch und den geliebten Kuli, streift sich die Schürze von den Hüften und eilt nach oben.
Im vierten Stock des Mondial verliert Eva währenddessen endgültig die Geduld. Nachdem sie noch einmal auf ihre Armbanduhr geschaut hat und feststellt, dass es bereits sieben Minuten nach drei ist, verdreht sie innerlich die Augen und beschließt kurzerhand, mit der Präsentation zu beginnen.
“Nun denn, wem die Zukunft des Mondials nicht genug am Herzen liegt, um pünktlich zu sein, dem kann ich nicht helfen. Wir fangen an.”
Auf der Leinwand ist nun eine Folie zu sehen - man sieht im Hintergrund das Logo des Landes Mecklenburg-Vorpommern ‘MV - immer eine Reise wert’ und im Vordergrund den Umriss des Eingangsbereichs des Mondial.
“Wie Sie vielleicht schon erahnt haben, habe ich Sie alle hierher gebeten, um Ihnen die Marketingkampagne, die das Mondial in Zusammenarbeit mit dem Land durchführen wird, vorzustellen. Ich werde Ihnen die wichtigsten Inhalte der bereits erarbeiteten Strategie präsentieren, Sie aber auch bitten, Ihre eigenen Vorschläge und Ideen einzubringen.”
Bei diesen Worten wechseln Linh und Maria einen überraschten Blick, der Eva natürlich nicht entgeht. Sie lächelt knapp.
“Sie haben mich richtig verstanden, Frau Thuy und Frau Rietzel. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe - ich brauche Sie alle, Ihre Ideen, Ihre Gedanken. Das Mondial funktioniert nur, wenn alle zusammenarbeiten - und deswegen will ich auch, dass Sie sich aktiv an der Erarbeitung der weiteren Strategie beteiligen. Sie - “
In diesem Moment klopft es kurz und heftig an die weiße Holztür des Büros, und noch bevor Eva die Person hereinbitten kann, öffnet sich auch schon die Tür und eine gehetzt wirkende Uli stürzt regelrecht in den Raum.
Eva, deren Herz beim Anblick ihrer Partnerin innerlich hüpft, gibt sich allergrößte Mühe, diese Freude zu verbergen. Am liebsten würde sie Uli in die Arme nehmen und sie mit einem Kuss begrüßen. Etwas, das gerade mehr als unmöglich ist. Stattdessen schlüpft sie in ihren professionellen Modus - den Uli als ‘Eis-Modus’ bezeichnet - und begrüßt Letztere knapp mit einem “Schön, dass Sie es auch noch einrichten konnten, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren, Frau Kersting”.
Begleitet werden die Worte von der in der Belegschaft bereits berühmt-berüchtigten linken Augenbraue, die bis kurz unter die blonden Haarsträhnen nach oben gezogen wird. In ihrem Bauch jedoch flattern hundert Schmetterlinge und sie muss sich wirklich sehr stark darauf konzentrieren, das, was sie bei Ulis Anblick empfindet, nicht zu zeigen.
Ihr Plan scheint aufzugehen: die anderen Kolleginnen und Kollegen würdigen ihre Chefin keines Blickes, sondern schauen nur mitfühlend zu Uli. Sie alle wissen, wie es ist, den Zorn der Chefin auf sich zu ziehen - jeder und jede von ihnen war schon einmal in genau der gleichen Situation.
Uli, die noch immer etwas kurzatmig ist von den vielen Treppen, die sie rennend zurückgelegt hat, verkneift sich einen schlagfertigen Konter, entschuldigt sich knapp und lässt sich neben Pit auf den letzten freien Stuhl fallen.
Eva wendet ihren Blick kurzerhand wieder ihren Präsentationsfolien zu und beginnt von vorne, um über die geplante Kampagne zu referieren.
Sie erklärt, dass unter anderem bestimmte Zimmer- und Übernachtungsarrangements geplant sind - so könnten Gäste zum Beispiel drei Nächte im Hotel übernachten und hätten in ihrem Buchungspaket unter anderem eine geführte Wandertour durch die Heidelandschaft außerhalb von Schwerin mit dabei. Auf diese Idee war sie selbst gekommen, als sie über ihre Wanderung mit Uli durch die Heide nachgedacht hatte.
Außerdem wäre auch eine Kooperation mit einer größeren Reitschule in der Nähe geplant, sodass dann pferdesportbegeisterte Gäste an geführten Ausritten teilnehmen und die Landschaft rund um Schwerin vom Pferderücken aus erleben könnten.
Als sie die Reitschule anspricht, bemerkt sie, wie unterschiedlich die Reaktionen unter ihren Mitarbeitenden ausfallen - während Linh Thuy mit leuchtenden Augen zuhört und sich scheinbar bereits überlegt, ob sie als Pferdeliebhaberin wohl auch einmal an einer solchen Tour teilnehmen könnte, steht Herrn König die pure Irritation ins Gesicht geschrieben.
Eva unterdrückt ein Schmunzeln und fragt “Herr König? Haben Sie irgendwelche Einwände?”
“Äh, nein, natürlich nicht…” gibt dieser stotternd zur Antwort.
Eva weiß, dass er jemand ist, der nie anecken und außerdem seine Emotionen immer zu einhundert Prozent im Griff behalten will. Leider scheint ihm das in dieser Angelegenheit nicht sonderlich gut zu gelingen. “Aber?”, hakt sie nach, ohne seiner Nervosität und den überraschten Blicken der Anderen Beachtung zu schenken.
“Nun, ich denke, dass vielleicht…Naja, dass das vielleicht ein Sicherheitsrisiko sein kann? Meinen Sie nicht? Was würde beispielsweise passieren, wenn sich ein Gast verletzt? Wenn jemand vom Pferd getreten wird oder stürzt?”
“Das stimmt natürlich”, antwortet Eva und kann geradezu spüren, wie Raik König aufatmet. “Allerdings habe ich mir das bereits überlegt - wir werden den Gästen ein entsprechendes Formular zur Unterschrift vorlegen, welches das Mondial von sämtlichen Haftungsansprüchen freistellt. Haftung übernimmt dann nur die Reitschule Lembert, mit der wir zusammenarbeiten - und die sind aufgrund ihrer Tätigkeit selbstverständlich mit entsprechenden Versicherungspolicen ausgestattet.”
“Nun, ja, dann wäre dem wohl Genüge getan”, antwortet Herr König schnell und verstummt sogleich wieder. Eva lächelt und fährt mit ihren Ausführungen fort.
Sie berichtet dann, dass geplant sei, die Mitarbeitenden im Empfangsbereich entsprechend zu schulen beziehungsweise weiterzubilden, damit sie auswärtigen Gästen zu spezifischen Fragen, welche die Geschichte der Stadt Schwerin und auch die Natur in der Region betreffen, Rede und Antwort stehen können.
An dieser Stelle wechseln Lara und Linh einen kurzen, angesäuerten Blick - Eva kann sich vorstellen, warum. ‘Die beiden fragen sich, wann sie denn noch an einer solchen Fortbildung teilnehmen sollen, bei der Menge an Überstunden, die sie jetzt schon schieben’, denkt sie und setzt kurz darauf an, ihnen ihren Plan zu erläutern.
“Sie werden für diese Kurse keine weiteren Überstunden machen müssen, Frau Hildebrandt und Frau Thuy. Keine Sorge. Ich werde sicherstellen, dass das Seminar innerhalb ihrer regulären Arbeitszeit stattfinden wird - in dieser Zeit wird dann eben die Rezeption etwas eingeschränkter besetzt sein. Machen Sie sich keine Sorgen Herr König”, fährt sie rasch fort, als sie das Entsetzen auf Raik Königs Gesicht bemerkt.
“Es werden nicht gleich Sodom und Gomorrha im Mondial herrschen, nur weil unsere zwei wichtigsten Empfangsmitarbeiterinnen an einem dreistündigen Kurs teilnehmen.” Sie lächelt. “Es wäre doch für Sie sicher machbar, auch wieder verstärkt an der Rezeption auszuhelfen, oder Frau Rietzel?”
“Ja sicher”, antwortet Maria Rietzel schnell und mit diesen Worten verschwindet das Unbehagen aus Herrn Königs Gesicht - größtenteils jedenfalls. Nachdem dieser Bestandteil der Kampagne besprochen ist, klickt Eva sich weiter auf die vorletzte Präsentationsfolie, welche den Titel “MV - regionale Küche” trägt.
“Nun will ich zum letzten und mit wichtigsten Bestandteil der Kampagne kommen - er betrifft das Herz des Mondial, unser geliebtes Restaurant.” Bei diesen Worten tauschen Uli und Pit erstaunte Blicke aus, wenden sich dann aber wieder der Präsentation und ihrer Chefin zu, die sich mittlerweile vom ihrem Stuhl erhoben und sich genau vor der Leinwand positioniert hat.
Ulis Herz beginnt zu rasen und sie spürt förmlich, wie ihr Gesicht von Röte überzogen wird, als sie ihren Blick an Evas langen Beinen, mit der weiten schwarzen Hose bekleidet und durch die mörderisch hohen Absätze noch länger wirkend, entlang gleiten lässt. Ihr Kopf fühlt sich an, als sei er mit rosa Zuckerwatte gefüllt, und sie muss sich sehr bemühen, nicht hier und jetzt vom Stuhl aufzuspringen und Eva zu zeigen, was sie jetzt gerade empfindet. Sie krallt ihre Hände so fest in die Armlehnen des Stuhls, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.
Eva, die äußerlich ebenfalls hochkonzentriert wirkt, spürt Ulis Anspannung natürlich und gibt sich größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die Aufmerksamkeit ihrer Partnerin genießt. Sie beginnt darüber zu referieren, dass auch für das Restaurant sogenannte ‘Themenwochen’ vorgesehen sind, in denen die typisch mecklenburgische Küche serviert werden soll. Gerade als sie ausführt, dass diese Gerichte ausschließlich mit regionalen Zutaten zubereitet werden sollen, wird sie in ihren Ausführungen unterbrochen.
Denn an dieser Stelle entfährt Uli und Pi synchron ein Schnauben, was Eva dazu veranlasst, mit hochgezogener Augenbraue zu fragen, was denn daran so amüsant sei.
“Gibt es etwas, das Sie anbringen möchten, Frau Kersting? Herr Dübescheidt?”
Nach einem kurzen Blickwechsel erklären Uli und Pit ihr fast gleichzeitig, dass die Preisgestaltung im Restaurant dann wohl eine andere werden müsste - schließlich seien regionale Zutaten in weiten Teilen wesentlich teurer als importierte Massenware.
Pit hebt hervor, dass das wohl bei den Stammgästen keinen sonderlich guten Eindruck machen würde. Und das wiederum sei ein Faktor, der zu berücksichtigen sei - denn was wäre der Nutzen der besten Marketingstrategie für auswärtige Gäste, wenn dann die Stammkundschaft wegen zu hoher Preise ausbliebe?
Eva, die sich dessen bewusst ist, wiegelt ab und gibt knapp zur Antwort, dass dann eben anderswo eingespart werden müsse. Die Preise zu erhöhen sei keine Maßnahme, und schließlich sei das Mondial trotz des mittlerweile dickeren finanziellen Polsters durch die Kampagne noch immer nicht davor gefeit, wieder in die roten Zahlen zu rutschen.
Die Aussage führt dazu, dass Uli, die sich so stark darauf konzentriert, keine Zuneigung und Wärme nach außen dringen zu lassen, schärfer als beabsichtigt, nachfragt, wie sich Frau de Vries denn eine solche Einsparung vorstellen würde.
“Sollen wir dann einfach beim Stundenlohn kürzen oder was?”, fragt sie mit einem schnippischen Unterton, der so deutlich ist, dass ihre Kolleginnen und Kollegen überraschte Blicke wechseln.
Eva, von diesem Tonwechsel für einen kurzen Moment irritiert, gibt daraufhin nicht weniger spitz zur Antwort, dass Uli und ihr Souschef einfach besser darauf achten sollten, dass “ihre Mitarbeiter sich nicht ständig am Essen bedienen”.
Nach dieser Aussage schreit alles in ihr danach, diese zurückzunehmen - sie weiß genau, dass das Küchenpersonal lediglich übrig gebliebenes Essen mitnimmt, das sonst im Müll landen würde. Und schließlich hasst sie selbst nichts mehr, als weggeworfene Lebensmittel in einer Wohlstandsgesellschaft. Dennoch zwingt sie sich, das nicht zu tun. Im Gegenteil, sie setzt noch einen drauf mit der Bemerkung, dass sie das schon öfter genau beobachtet habe, wenn sie sich in der Küche aufgehalten hätte.
Uli, die innerlich kurz vorm Zerbersten ist über dieses absurde Schauspiel, das sich gerade im Chefinnen-Büro ereignet, verkneift sich gerade so noch die Frage ‘Was haben Sie denn so regelmäßig überhaupt in der Küche zu suchen, Frau de Vries? Dass Ihnen das so auffällt?’
Es stimmte, Eva war in der vergangenen Woche tatsächlich sehr oft in der Küche und im Flur vor der Küche anzutreffen gewesen - und Uli weiß natürlich auch, warum. Beim Gedanken daran spürt sie wieder die Schmetterlinge im Bauch, zwingt sich aber dazu, ihr Lächeln zu unterdrücken und kontert stattdessen mit einem norddeutsch-nüchternen “Naja, die paar Reste, die meine Leute sich mitnehmen, weil sie übrig sind, werden die Bilanz des Mondial schon nicht ruinieren”.
Eva atmet heftig aus und antwortet betont scharf, dass ‘Kleinvieh eben auch Mist mache’ und sie ein solches Verhalten in der Zukunft nicht mehr tolerieren würde.
Uli, die sich nun in der Verantwortung sieht, ihr Personal vor ihrer Chefin zu verteidigen, schießt zurück, dass die Reste, die sich ihre Leute mit nach Hause nehmen würden, ansonsten sowieso weggeworfen würden.
“Und außerdem”, fügt sie hinzu, “ist es echt nicht mein Problem, dass meine Leute sich nicht in ihren Pausen mit gescheitem Essen versorgen können. Die Personaldecke ist so dermaßen dünn, dass wir so gut wie keine Pausen machen können. Und wenn wir das doch mal hinkriegen, müssen die so kurz sein, dass man vielleicht ‘n bisschen Wasser trinken und ‘ne Zigarette rauchen kann, aber sicher nicht, um was Richtiges zu essen.” Mit jedem Wort wird ihr Tonfall rauer, was den Anderen in der Runde nicht verborgen bleibt.
Eva, die ihr innerlich Recht gibt - sie weiß besser als alle anderen, welche Leistungen das Küchenpersonal bringt - spielt jedoch der Außenwirkung halber mit und kontert erneut scharf. “Wollen Sie mir damit sagen, das sei meine Schuld, Frau Kersting?”
Uli schnaubt nur. “Nee, keine Sorge. Sie können da nix dafür”, erwidert sie in einem sarkastischen Tonfall. Damit ist das Thema für sie erledigt und auch Eva scheint der Ansicht zu sein, mit ihrer Scheinstreiterei genug Eindruck hinterlassen zu haben und erklärt das Meeting kurz Zeit später für offiziell beendet.
“Dann geh’ ich besser mal kontrollieren, ob sich nicht doch jemand wieder an den Resten bedient”, sagt Uli, während sie das Büro als erste verlässt. Ihre Stimme trieft regelrecht vor Ironie.
“Ja, am Besten tun Sie das, Frau Kersting”, antwortet Eva in einem nicht weniger ironischen Tonfall und entlässt kurz nach Ulis Abgang auch die anderen Mitarbeitenden in den Nachmittag mit den Worten “Danke für Ihre Zeit, ich freue mich auf Ihre Ideen und Vorschläge!”
Nachdem Herr König als Letzter das Büro verlassen hat, schließt sie aufatmend die Tür. Wieder alleine in ihrem Büro und hinter geschlossener Tür, kann sie sich nicht länger zusammenreißen. Sie prustet los und hat sich wenige Augenblicke später in einen heftigen Lachanfall hineingesteigert.
‘Dieses Gesicht vom König! Das wird mir ewig in Erinnerung bleiben’, denkt sie sich und wischt sich die Lachtränen aus dem Gesicht. Dann lässt sie sich in den weißen Chefsessel fallen und greift nach ihrem Handy.
Sie öffnet den Chat mit Uli und tippt
>>Du warst grandios! Das war eine absolut filmreife Leistung! Daran werden deine Kolleginnen und Kollegen noch lange denken😀<<.
Dann sperrt sie ihr Handy und will gerade ihre eingegangenen Emails durchgehen, als ihr Smartphone vibriert.
>>Uli – eine neue Nachricht<< steht auf dem Display. Sie lächelt und wischt nach oben, um sie zu lesen.
>>Ja oder? Ich hab mir aber auch wirklich große Mühe gegeben😃<< Eva lächelt. Nach einem Blick auf die Wanduhr - mittlerweile ist es halb fünf - schreibt sie Uli zurück.
>>Das hab’ ich gemerkt. Ich hol’ dich dann um halb sieben ab, okay? Stehe im Halteverbot - wie immer…<<
>>Natürlich - meine Gesetzesbrecherin, Retterin der chronisch klammen Schweriner Stadtkasse😃. Ich bin dann bereit. Bis später, ich liebe dich<<
Als Eva die Nachricht liest, hüpft ihr Herz. Sie lächelt und tippt, wenn auch mit etwas zittrigen Fingern >>Ich dich auch.<<
Es ist für sie das erste Mal, dass sie diese drei Worte an Uli schreibt.
Und noch nie hat sich etwas so dermaßen richtig angefühlt.