
Kapitel 15
Eva funktioniert nur noch, sie fährt im Autopilot, ihre Gedanken sind ganz woanders. Sie spürt, wie sie mit jedem Kilometer, dem sie dem Hof von Jeremys Eltern näherkommen, nervöser wird.
Wie würden die beiden auf sie reagieren?
Sie hatte sich mit Uli darauf geeinigt, sich lediglich als ‘eine’ Freundin vorzustellen, alles andere wäre viel zu früh. Es war schlimm genug, dass Uli ihren Schwiegereltern wohl darüber berichten würde, dass sie sich von Jeremy getrennt hatte.
Dann erreichen sie endlich das Dörfchen, zu dessen Randgebiet der Hof zählt, auf dem Marlene und Dieter leben. Die beiden Frauen hatten während den letzten Minuten kein Wort miteinander gewechselt - Eva hatte sich auf die Straße konzentriert, während ihre Hände immer fester das Lenkrad umklammerten, und Uli hatte aus dem Fenster gestarrt und überlegt, wie sie ihren Schwiegereltern wohl am besten nahebringen könnte, dass sie und Jeremy kein Paar mehr waren.
Nach einer Viertelstunde liegt der große Vierkanthof, der aus hell getünchten Gebäuden, einer Scheune und mehreren Stallungen besteht, vor ihnen. Mit einem Knirschen rollt Evas Wagen auf den gekiesten Hof.
Sie wechseln einen letzten Blick miteinander - dann lösen sie gleichzeitig ihre Anschnallgurte und Uli steigt mit einem leisen “Dann mal los” aus dem Auto. Eva folgt ihr einen Augenblick später.
Kaum sind die Türen des Wagens zugefallen, wird auch schon die Haustür aufgerissen und eine kleine Gestalt mit hellblonden Haaren, barfuß und in Latzhosen huscht heraus. “Mama!”, ruft Ivy glücklich und wirft sich ihrer Mutter in die Arme. Uli lacht.
“Na? Wo kommst du denn her? Warst du bei den Ziegen?”
“Ja! Merle hat ein Baby gekriegt!”, berichtet Ivy stolz und mit vor Freude rotem Gesicht. Merle war ‘ihre’ Ziege, die sie schon kannte, seit sie ganz klein war. Die beiden waren gewissermaßen gemeinsam aufgewachsen und Ivy liebte ihre Ziege heiß und innig.
“Wow! Ein Zicklein! Hast du ihm schon einen Namen gegeben?”
“Nee, ich muss noch überlegen. Opa hat Emil vorgeschlagen, es ist nämlich ein Junge.” Dann fällt ihr Blick auf Eva, die immer noch ein wenig verloren neben dem Auto steht und zaghaft lächelt, und sie runzelt die Stirn.
“Wer ist das, Mama?”, fragt sie Uli, als diese sie wieder auf dem Boden abgesetzt hat.
“Das ist Eva, eine Freundin von mir”, erwidert Uli schnell. “Wir waren gemeinsam wandern und da hat dein Papa mir gesagt, dass du gerne noch hier bleiben magst, aber nicht mehr genug zum Anziehen hast. Und da bin ich mit Eva hergekommen, um dir deinen Koffer zu bringen.”
Mit diesen Worten steht Uli auf und geht zum Kofferraum, zieht Ivys hellblauen Koffer heraus und stellt ihn vor ihr auf den Boden.
“Na los, geh schon auspacken”, lacht Uli, als Ivy aufgeregt den Koffer in Empfang nimmt, und einen Moment später flitzt sie samt Koffer zurück ins Haus.
Unterdessen bemerkt Eva, dass eine zierliche Frau mit halblangen braunen Haaren und ebenfalls mit Latzhose bekleidet an die Tür gekommen ist. Sie lächelt und begrüßt die beiden mit einem Winken.
“Na Uli, lässt du dich auch endlich mal wieder blicken”, stichelt sie, während Uli mit großen Schritten auf sie zugeht und sie fest in die Arme nimmt. Als die beiden einander loslassen, ruft Marlene laut nach ihrem Mann.
“Er ist noch hinten im Stall bei den Ziegen, du hast ja schon gehört was bei uns los war…”
Dann wendet sie sich Eva zu, die noch immer wie ein falsch adressiertes Paket in der Hofeinfahrt steht und nicht weiß, wohin mit sich. “Und wer bist du?”, fragt Marlene, ohne sich groß mit dem Siezen aufzuhalten.
“Das ist Eva, eine Freundin und Kollegin aus dem Hotel”, antwortet Uli und bemerkt, dass Marlene sie dabei genau beobachtet. Dann jedoch löst sich Eva aus ihrer Erstarrung und geht mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf Marlene zu.
“Freut mich, dich kennenzulernen.”
“Ebenfalls! Ich würde dir ja auch gern meinen Mann vorstellen, aber der hört offensichtlich mal wieder nicht, wenn ich ihn rufe. DIETER!”, ruft sie dieses Mal noch lauter und aus weiter Entfernung - Eva kann nicht sagen, woher genau - hört man ein leises “JA!”.
Marlene verdreht lachend die Augen und winkt ab. “Dieser Mann…Lasst uns schon mal in den Garten gehen, ich hab frischen Kuchen gebacken. Ihr bleibt doch zum Kaffee, oder?”
Das ‘oder’ am Ende der Frage hätte sie sich sparen können - der Tonfall lässt keinerlei Widerrede zu. Uli und Eva bejahen dementsprechend eifrig und folgen Marlene um das Haupthaus in einen großen Garten.
Einige Stunden später machen sich die beiden wieder auf den Weg in die Stadt. Der Nachmittag war geradezu dahin geplätschert, sie hatten Kuchen gegessen, Kaffee getrunken, mit Ivy gemeinsam die Tiere angeschaut und sich mit Dieter und Marlene unterhalten. Uli hatte sich seit Langem nicht mehr so leicht gefühlt.
Auch hatten die beiden Eva direkt in ihr Herz geschlossen. Während Uli sich mit Marlene über ihre gemeinsame Leidenschaft, das Kochen, ausgetauscht hatte, hatte Eva sich mit Dieter über diverse Landmaschinen unterhalten - woher sie all die Dinge wusste, war Uli ein Rätsel geblieben.
Auch wenn Eva offiziell nur als ‘Freundin und Kollegin’ tituliert worden war, war Uli sich nicht ganz sicher gewesen, ob Marlene, die sie immer mal wieder mit intensiven Blicken bedacht hatte, nicht doch etwas ahnte. Aber selbst wenn. Früher oder später würden sie und alle anderen in Ulis Bekanntenkreis davon erfahren. Und bis dahin würde Uli einfach die Zeit, die sie mit Eva hatte und die sie in ihrer eigenen kleinen Welt, verborgen vor allen anderen, verbringen konnten, genießen.
Schließlich, als Ivy nach einem Stück Kuchen und einem Kakao wieder zu ihrer Ziege verschwunden war, hatte Uli ihre Schwiegereltern in einem Anfall von Mut darüber informiert, dass sie und Jeremy von nun an getrennte Wege gehen würden.
Sie war davon ausgegangen, dass damit ihr Besuch beendet gewesen wäre - aber davon keine Spur. Zu Ulis großer Erleichterung hatten Marlene und Dieter es hingenommen - zwar ein wenig erschrocken - aber auch nicht weiter nachgebohrt, warum und aus welchen Gründen sie sich getrennt hatten. Es war auch keine Rede davon gewesen, dass Ivy nicht mehr ihre Ferien auf dem Hof verbringen durfte.
Jetzt aber, auf dem Weg zurück nach Schwerin, mitsamt Apfelkuchen und frischem Gemüse aus Marlenes Garten im Gepäck, findet langsam die Realität den Weg zurück zu Uli.
Ihr Kopf schwirrt vor lauter Fragen - danach, wie es jetzt mit ihr und Jeremy weitergehen würde, und wie sie das Ganze Ivy erklären würde, schließlich war er ihr Vater.
Sie spürt, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt und ihr Atem angestrengter wird. Sie hat das Gefühl, keine Luft zu bekommen, dass ihr ganzer Körper immer mehr verkrampft. Mit den Fingern umklammert sie den Griff der Tür, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.
Eva, die während der letzten Minuten ebenfalls schweigend mit dem Blick auf der Straße gefahren war, hört den plötzlich angestrengten Atem ihrer Freundin und dreht sich mit sorgenvoller Miene zu ihr.
“Ist alles in Ordnung?”
Uli antwortet nicht sondern schließt die Augen und versucht, ihre Atmung zu normalisieren.
“Uli!”, sagt Eva jetzt deutlich beunruhigter.
“Nichts”, presst Uli zwischen den Zähnen hervor. “Fahr weiter.”
“Das kannst du sowas von vergessen”, erwidert Eva und steuert kurzerhand den Audi in eine Ausbuchtung an der Landstraße. Dort angekommen schaltet sie den Motor aus und wendet sich Uli zu, die noch immer die Finger fest am Türgriff hat und angestrengt atmet. Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn.
Da begreift Eva, was vor sich geht. Sie reißt ihre Tür auf und geht mit großen Schritten um den Wagen herum, öffnet die Beifahrertür und nimmt Ulis Hände fest in ihre eigenen.
“Okay. Schau mich an. Ich bin hier. Ich geh nicht weg. Wir atmen jetzt, gemeinsam. Okay? Ich zähle bis sieben und du atmest gemeinsam mit mir ein, dann zähle ich bis sechs und wir atmen gemeinsam wieder aus. Schaffst du das, Uli?”
“Hmpf”, entfährt es Uli mit zusammengepressten Lippen und zuerst scheint es, als ob sie es nicht schafft, dann jedoch beginnt sie mit Eva gemeinsam einzuatmen.
“Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs”, zählt Eva laut, und sie spürt, wie Uli die angestaute Luft aus ihrer Lunge drückt.
Noch ein paar Mal wiederholt sie diese Prozedur, bis sich Ulis Haltung entkrampft und ihre Atmung sich wieder normalisiert hat. Eva streichelt ihr beruhigend über die Hände, ihre Berührungen sind so sanft und zärtlich, dass Uli die Tränen in die Augen steigen.
Wenige Augenblicke später weint sie hemmungslos und lässt es zu, dass Eva, die noch immer halb am Auto steht, halb kniet, sie in ihre Arme zieht.
Leise und beruhigend redet sie auf Uli ein und streichelt ihren Rücken. So gut sie kann, versucht sie, Uli durch ihre Panikattacke zu helfen, während sie innerlich in kaum einer besseren Verfassung ist.
Sie fürchtet den Montag, fürchtet das reale Leben, den Termin mit Jeremy und die Tatsache, dass es vorerst Ulis letzte Arbeitswoche im Mondial sein würde. All diese Dinge, die in ihrem Kopf durcheinander wirbeln, schiebt sie von sich. Sie musste jetzt stark sein für Uli.
Nach einiger Zeit - es können Minuten oder auch Stunden gewesen sein - ebben Ulis Schluchzer ab. Sie schnieft und löst sich aus Evas Umarmung. “Boah, ich hab echt genug geheult die letzten Tage”, sagt sie mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. “Wird Zeit, dass ich wieder mal damit aufhöre.”
Eva schnaubt und grinst ebenfalls. Dann wird sie wieder ernst. “Du darfst immer heulen, wenn dir danach ist. Ich bin da.” Sie nimmt Ulis tränenverschmiertes Gesicht in ihre Hände und gibt ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
Uli lächelt.
“Du bist... wichtig”, sagt sie leise, als Eva sich von ihr löst und sich wieder auf den Weg zur Fahrerseite des Wagens machen will.
“Du auch”, erwidert diese ebenso leise und schaut Uli lange und intensiv an.
Dann steht sie abrupt auf und schließt die Autotür, bevor sie um den Audi herumgeht und sich wieder hinter das Lenkrad fallen lässt. Eva lässt den Motor an und mit den Klängen eines klassischen Radiosenders setzen die beiden Frauen ihren Weg nach Schwerin fort.
Eine halbe Stunde später, die beiden sind nur noch wenige Kilometer von der Stadt entfernt, unterbricht Uli plötzlich die Streicherklänge des Danse Macabre von Camille Saint-Saens, der gerade aus den Lautsprechern des Audis tönt.
“Schläfst du heute Nacht bei mir?”
Eva, noch völlig konzentriert auf die Straße und versunken in der Musik, zuckt zusammen. “Natürlich! Sehr gerne. Also wenn du das willst…” Sie lässt das Ende des Satzes in der Luft hängen.
“Klar will ich das! Sonst würde ich wohl kaum fragen”, antwortet Uli. “Ich dachte nur, wenn ich morgen früh um sieben zur Arbeit muss und da aus deinem Zimmer komme, und wenn mich dann jemand sieht…”
“Du hast absolut Recht”, sagt Eva schnell. “Ich hab nur ein Problem: ich hab nichts zum Anziehen da und auch meine Tasche steht bei mir im Hotelzimmer - aber weißt du was, ich steh einfach früher auf und dann geh ich eben vor der Arbeit rauf in mein Zimmer. Das geht schon. Und wenn mich jemand sieht sag ich einfach, dass ich joggen war. So, Problem gelöst.”
Eva grinst selbstzufrieden, als sie den Wagen schließlich am Ortsschild von Schwerin vorbeilenkt.
“Ich sags ja, ganz die Managerin”, erwidert Uli ebenfalls grinsend, legt ihre linke Hand auf Evas Oberschenkel und drückt ihn leicht.
Diese Geste, die eigentlich eine beruhigende und zärtliche Wirkung haben sollte, bewirkt jedoch genau das Gegenteil.
Eva schaut angestrengt auf die Straße und versucht, die Hitze, die von der Stelle an der Ulis Hand liegt, in ihren restlichen Körper strahlt, zu verdrängen. Auf einmal sind die Bilder von der vergangenen Nacht und dem Morgen in ihrer Suite wieder da.
Ulis lange Beine, die weiche Haut, ihr schneller Atem, wie sie ihre Fingernägel in Evas Rücken gegraben hatte.
Sie schüttelt den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, schließlich muss sie sich aufs Fahren konzentrieren.
Uli, die von alldem nichts mitbekommen hat, lässt ihre Hand genau dort liegen, so lange, bis sie in der Mozartstraße ankommen und Eva ihren Wagen - natürlich wie immer - im Halteverbot parkt.
Vollbeladen mit Kuchen und frischem Gemüse machen sich die beiden auf den Weg hinauf zu Ulis Wohnung.
Uli erreicht die Wohnungstür und schließt auf, doch bevor sie hineingeht, dreht sie sich nochmal zu Eva um.
“Willkommen zuhause”, sagt sie leise und bittet Eva mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen.
Diese lächelt, als sie mitsamt Möhren und Zucchini, die sie noch immer in den Armen hält, die Wohnung betritt.
‘Zuhause’ denkt sie. ‘Das klingt schön.’