
Ein Schock für Loki
Ein greller Blitz, ein unglaublich lautes, nicht definierbares Geräusch und dann ein harter Aufprall... bevor es Schwarz um Loki wurde.
Als er wieder zu sich kam, lag er inmitten von Schrott an einem ihm völlig unbekannten Ort. Sein Kopf dröhnte, als würde jemand mit einem Hammer darauf einschlagen, und sein Blick war verschwommen und unklar, als er sich langsam aufzurichten versuchte. Auch seine Glieder schmerzten, was ihn angesichts des tiefen Falls, der hinter ihm lag, nicht erstaunte.
Er brauchte mehrere Minuten, ehe er seine Umgebung klar erkennen konnte. Und dann nochmals einen Moment, ehe er realisierte, dass er jemand fehlte...
Sylvie und Mobius waren nirgends zu sehen.
Dafür standen drei andere Gestalten um ihn herum. Loki blinzelte nochmals, um sicher zu gehen, dass ihm seine Augen keinen Streich spielten. Aber nein, das Bild blieb: er sah einen etwas älteren Mann, einen Jungen und einen Alligator... Und alle trugen sie Rüstungen und Helme, wie er sie in Asgard angehabt hatte. Ausserdem sahen sie ihm auch irgendwie ähnlich. Naja, bis auf den Alligator natürlich.
Hatte ihn der Aufprall etwa doch mehr mitgenommen als gedacht? Doch so sehr er sich auch die Augen rieb, das Bild veränderte sich nicht. «Wer seid ihr denn?» fragte er verwirrt. «Und wo bin ich?»
«Du bist in der Leere gelandet,» erwiderte der ältere Mann. «Und wenn du nicht bald auf die Füsse kommst, wird Alioth dich zum Mittagessen verschlingen.»
«Alioth?»
Der Knabe, der ihn an eine jüngere Version seiner selbst erinnerte, deutete wortlos hinter ihn. Loki drehte den Kopf und zuckte zusammen. Eine violett-schwarze Wolke begann sich mächtig zu formieren und aufzutürmen. Und die Geräusche, die zu hören waren, klangen ebenfalls alles andere als beruhigend.
Der Magier sprang auf und folgte den dreien, die ihn von der Wolke wegführten. Der Junge trug dabei das Tier auf den Armen. Während er versuchte, mit den anderen Schritt zu halten, schaute sich Loki immer wieder nach Mobius und Sylvie um, konnte sie aber nach wie vor nirgends entdecken. Auch seine Gefährten versicherten ihm, dass sie ausser ihm niemanden hatten ankommen sehen.
«Aber wenn sie tatsächlich auch hier sind,» meinte der Junge, «haben sie sich entweder ein gutes Versteck gesucht oder sind inzwischen tot. Alioth verschlingt alles, was ihm in die Quere kommt.»
«Nett.» Lokis konnte nicht verhindern, dass ihn ein kalter Schauer durchfuhr. «Und wer seid ihr nun?»
«Wir sind das gleiche wie du,» erwiderte der Mann kurz angebunden. «Wir sind Loki Varianten.»
«Ich bin keine Var...» hob Loki an, unterbrach sich dann aber selbst. Er blieb stehen, deutere auf den Alligator und meinte: «Ihr macht Witze, oder?»
«In letzter Zeit eher selten.» gab der Junge bissig zurück und das Tier auf seinem Arm fauchte. Loki erkannte, dass es ihnen bitter ernst war, und er konnte ein leises Auflachen nicht verhindern. Aber die anderen drehten sich einfach um und liefen weiter.
«Du kannst gerne da stehenbleiben und dich weiter über alles wundern,» rief der ältere Mann über die Schultern zurück. «Aber das wird dann so ziemlich das Letzte sein, was du tust.»
«Schon gut, schon gut, ich hab's kapiert. Weiter geht's.» Loki setzte sich wieder in Bewegung und folgte seinen Führern durch die komplett verwüstete Landschaft. Er fühlte sich immer noch ziemlich benommen, was ihn beinahe genauso beunruhigte wie das Monster, vor dem sie gerade flohen – offenbar schienen seine Selbstheilungskräfte hier verlangsamt.
Ausserdem fragte er sich, was um alles in der Welt 'die Leere' sein sollte.
Aber er musste seine Neugier wohl zügeln, denn die anderen waren nicht gewillt, ihren Schritt zu verlangsamen und ihm weitere Fragen zu beantworten. Sie führten ihn in einen unterirdischen Schutzbunker, der zwar extrem chaotisch, aber eigentlich ziemlich gemütlich eingerichtet und überraschend geräumig war.
«Die Leere ist der Ort, an dem der ganze Müll der TVA abgeladen wird,» begann der junge Loki, sobald sich die Luke über ihren Köpfen geschlossen hatte. Er liess sich lässig in einen Sessel fallen und schlug die Beine übereinander. «Sie schicken ganze abzweigende Realitäten hierher, die in einem Augenblick vernichtet werden. Oder genauer gesagt: verschlungen werden. Und zwar von Alioth.»
«Okay, was ist Alioth?»
«Alioth ist ein riesiger lebendige Sturm, der alles verschlingt, was ihm in die Quere kommt. Du bist in einem Haifischbecken gelandet, und er ist der Hai.»
«Genau.» das war der ältere Loki, «der Hai, der dafür sorgt, dass niemand von hier weiter kommt.»
«Weiter kommt?» Loki kniff die Augen zusammen. «Wohin denn weiter?»
«Ins Nichts hinter der Leere.»
Der Magier war verwirrt. Ja, er hatte die TVA erschaffen – aus reinem Spass damals – und auch die ganze Idee mit den Zeitlinien und was alles so dazu gehörte. Selbst die Leere ging auf seine Kappe. Aber das hier war sie definitiv nicht. Wer immer diesen Ort hatte entstehen lassen: er war es nicht gewesen.
Das Siegel hätte sie eigentlich ganz woanders hinbringen müssen. Und obschon die Aussichten dort auch nicht viel besser gewesen wären, hätte Loki zumindest gewusst, wo sie sich befanden – und wie man da wieder rauskam.
Aber von diesem Ort hier wusste er gar nichts. Und von einem Alioth hatte er auch noch nie gehört. Geschweige denn von einem 'Nichts' hinter der Leere.
Die anderen konnten ihm da allerdings auch nicht wirklich weiterhelfen. Sie wussten kaum mehr als er selbst über diesen Ort und absolut gar nichts über das 'Nichts'. Ausser, dass es existierte – darin waren sie sich einig.
Zudem unterschied sich die Art und Weise, wie sie hier gelandet waren, denn sie waren alle gestutzt worden. Und ihres Wissens nach auch alle anderen Wesen, die je hier gelandet waren.
'Interessant,' dachte Loki, 'in der Hinsicht scheinen die Stäbe, mit denen die TVA Mitarbeitenden so gerne herumfuchtelten, die gleiche Wirkung zu haben wie das Siegel.' Ein Portal also – nur dass es einen nicht an den erwarteten Ort transferierte. Noch so eine Modifikation, von der er nichts wusste. Und er wurde die unheimliche Gewissheit nicht los, dass die Welt, die er und sein Freund einst im Jux erschaffen hatten, längst ein sehr eigenständiges Leben entwickelt hatte.
Ein sehr gefährliches, eigenständiges Leben.
«Tja, nachdem ich Captain America besiegt hatte – und Iron Man – nahm ich mir meine Beute.» Die Stimme des vierten Loki riss den Magier aus seinen Gedanken. Er hatte hier unten auf sie gewartet und er war angeblich noch nicht die letzte Variante, die es hier gab. Der Kerl war ein Riese von einem Mann und erinnerte ihn eher an Thor als an ihn selbst. Loki hatte nur mit halbem Ohr zugehört, als er von 'den guten alten Zeiten' zu faseln begonnen hatte. Wohl, um ihn von weiteren Fragen, die sie eh nicht beantworten konnten, abzuhalten. «Und zwar alle sechs Infinity-Steine.»
Loki wollte gerade auflachen, als der Alligator schon zu knurren begann und die ältere Version seiner selbst meinte: «Das war alligatorisch für 'hör auf zu lügen'.»
Der Hüne brummte und erwiderte bissig, zu dem Tier gewandt: «Immerhin war mein Grund, hier zu landen, etwas gravierender als nur die Katze des falschen Nachbarn zu fressen!»
Das fand der Alligator offenbar gar nicht witzig. Er knurrte nochmals, weitaus agressiver diesmal, und wollte dem anderen offenbar gerade an die Gurgel gehen, als ihn Lokis Stimme zurückhielt: «Lass das!»
Der Alligator verhielt mitten in der Bewegung und die anderen drei starrten Loki an, als sähen sie ihn zum ersten Mal. «Wie hast du...» begann der Junge, unterbrach sich aber gleich selbst. Er kniff die Augen zusammen, neigte sich nach vorne, kniff sie noch etwas mehr zusammen und sagte dann: «Erzähl uns deine Geschichte.»
«Meine Geschichte?» Loki schaute sich um, entdeckte einen fünften, abgenutzten Sessel und liess sich hineinfallen. «Die müsstet ihr doch kennen, ihr seid ja auch Lokis.»
«Sie varieren alle,» meinte der Ältere. «Jedenfalls von dem Moment an, wo Thanos uns auf die Erde losgelassen hat. Also lass mal hören. Ich bin gespannt, wie die Geschichte des echten Loki gelaufen ist.»
«Des echten Loki?» Der Hüne ruckte hoch. «Was soll das denn heissen?»
«Hast du eben geschlafen?» gab der Alte bissig zurück. «Er hat unseren Alligator-Freund hier gestoppt. Mit Worten! Nur der echte Loki kann sowas. Die eigentliche, ursprüngliche Version unserer selbst.»
Loki war genauso verwirrt wie die übrigen, hütete sich aber, es sich anmerken zu lassen. Zumal seine Verwirrung nicht wie die der anderen aus der Enthüllung resultierte, dass es eine echte Version gab, sondern vielmehr daher, dass der ältere das offenbar wusste.
«Also?» Drei – vier – gespannte Augenpaare starrten ihn an. Loki seufzte. Musste das jetzt wirklich sein?
Er räusperte sich. «Naja, ihr wisst doch sicher, dass New York nicht ganz so lief wie geplant.» begann er dann vorsichtig. «Die Avengers...»
«Lief es wirklich nicht so wie geplant?» fiel ihm der ältere Loki ins Wort.
Der Magier blinzelte verwirrt. «Was meinst du?»
«Naja, bist du sicher dass tu tun wolltest, was du tun wolltest?»
Loki stockte. Im ersten Moment wollte er auflachen und den Einwand mit gewohntem Sarkasmus überspielen, aber ihm wurde schnell klar, dass er den anderen nichts vormachen konnte.
Also seufzte er leise und erwiderte: «Nein, eigentlich lief es fast nach Plan. Allerdings hatte ich vor, am Ende irgendwie abzuhauen... Glaube ich jedenfalls. So genau weiss ich das nicht mehr.» Er räusperte sich nochmals. «Ich meine, ich wollte die Erde erobern. Wirklich. Aber dann... wollte ich es auch irgendwie nicht. Ich war innerlich wie... zerrissen und versuchte, einen Ausweg zu finden. Für die Erde, aber auch für mich.» Er raufte sich die Haare, versuchte es erneut. «Ich denke, die Menschen sehnen sich im Grunde genommen danach, beherrscht zu werden. Ihnen tut Freiheit gar nicht gut. Und ja, ich wollte sie beherrschen. Aber... aber nicht so, wie Thanos das wollte... Und als ich sah, wie sie sich wehrten, war ich mir plötzlich auch nicht mehr so sicher, dass sie...»
Fast hilflos brach er ab. Es war alles so schnell gegangen, dass er sich den inneren Zwiespalt, den er während des Angriffs auf New York gespürt hatte, noch gar nie so richtig vor Augen geführt hatte. Ihm war inzwischen völlig klar, dass der Gedankenstein ihn zu grossen Teilen beeinflusst – und manipuliert - hatte. Aber alle seine Handlungen alleine darauf zu schieben, wäre zu einfach gewesen.
Und es wäre auch zu einfach gewesen, es allein mit dem, was bei Thanos geschehen war, zu entschuldigen...
Loki fröstelte und straffte die Schultern. Nein, dahin wollte er jetzt nicht zurück – nicht mal in Gedanken.
«Was hast du gefühlt, als Odin dich zu lebenslangem Kerker verurteilt hat?» fragte der ältere Loki und riss den Magier damit aus seinem Gefühlschaos.
«Wie bitte, was?» Den Unsinn hatte er doch schon mal gehört, in der TVA. Was sollte das?
«Weich jetzt nicht aus. Ich weiss, es ist schwer, aber ich will es wissen: was hast du gefühlt als Odin dich dazu verdammt hat, für deine Verbrechen auf Midgard für den Rest deines Lebens im Kerker zu schmoren? Ohne dir die Chance zu geben, dich zu erklären – und ohne sich überhaupt dafür zu interessieren, was mit dir geschehen war? Wo du gewesen bist, all die Zeit nach deinem Sturz vom Bifröst bis zu dem Moment, wo du auf Midgard wieder aufgetaucht bist? WAS HAST DU GEFÜHLT?»
Loki sass nur da, unfähig, sich zu rühren.
Sollte das etwa bedeuten, dass die TVA ihm nichts vorgetäuscht hatte? Dass alles, was sie ihm gezeigt hatten, tatsächlich geschehen war?
Als der Alte nochmals nachhakte, wollte Loki etwas antworten, doch die Stimme versagte ihm.
Denn wenn das stimmte, dann bedeutete das auch...
Er atmete tief und heftig ein.
Dann bedeutete das, dass er tot war.