
Die Arche
Mobius setzte alles ein, was er hatte, aber was auch immer er versuchte, das Resultat blieb stets das gleiche: keine Spur von den beiden! Sie waren irgendwo in Zeit und Raum verschwunden und vermutlich gerade dabei, ihr nächstes Massaker zu planen. Zumindest die eine Variante, hinter der sie schon die ganze Zeit her waren.
Bei dem Loki, den Mobius neu kennengelernt hatte, war er sich nicht so sicher. Irgendetwas an ihm war anders.
Jägerin B-15 versuchte ihm zu helfen, kam aber auch nicht weiter. Keiner der Spuren, die sie verfolgten, wies auf die beiden Varianten hin.
Und egal wie lange sie auf die Bildschirme starrten in der Hoffnung, irgendwo eine Abweichung im normalen Fluss der Zeit zu finden: es gab keine. Alles lief normal. Seltsam, beunruhigend, ärgerlich normal…
«Was ist mit C-20?» Die Frage der Jägerin neben ihm riss Mobius aus seinen Gedanken. Er zuckte zusammen und gab eine ausweichende Antwort. Aber tief im Innern liess ihn diese Frage auch nicht los. Immer wieder hörte er ihre Stimme und die Worte «Es ist nicht echt.»
«So kommen wir nicht weiter.» Mobius seufzte tief und gab sich einen Ruck. «Ich schaue mir selbst noch einmal die Akten der Variante an. Vielleicht finde ich etwas, das mir bisher entgangen ist.»
«Mobius…»
«Ja, ich weiss: ich klammere mich an einen Strohhalm. Aber manchmal ist ein Strohhalm besser als nichts.»
Auf dem Weg ins Archiv kam er an der Krankenstation vorbei. Irgendwo in einem dieser Zimmer war C-20. Mobius bemühte sich, nicht an sie zu denken und ging zielstrebig weiter. Im Archiv angekommen, suchte er nach den Akten über die Variante. Er fand sie schnell und blätterte sie halbherzig durch. Irgendwie war er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Bei C-20, um es genau zu sagen.
Mobius wusste, dass es über jeden TVA Mitarbeitenden ebenfalls Akten gab. Alle ihre Fälle wurden genau protokolliert und dokumentiert. Auf einmal verspürte er den starken Drang, sich die Akte der Jägerin anzuschauen, die von der Variante entführt worden war. Er wusste zwar nicht, was er sich davon versprach, aber es war schon ungewöhnlich, dass C-20 entführt und nicht getötet worden war. Sowas hatte die Variante noch nie getan. Vielleicht gab es irgendetwas, das C-20 für diesen Loki interessant gemacht hatte.
Entschlossen griff Mobius nach der entsprechenden Akte und blätterte sie durch. Er begann mit den neuesten Ereignissen, also dem, was C-20 über ihre Entführung gesagt hatte. Merkwürdigerweise waren die Worte «Es ist nicht echt» in der Akte nicht festgehalten. Das machte Mobius stutzig, wusste er doch, dass wirklich alles genaustens aufgezeichnet wurde, in der Regel Wort für Wort.
Doch es war nicht das einzige, das ihn nachdenklich machte. Es gab keinerlei Notizen über die Behandlung von C-20, nachdem sie zurückgebracht worden war. Auch nicht über weitere Befragungen.
Das war das eine.
Das andere war das komplette Fehlen ihres Geburtsdatums.
Mobius war verwirrt: das konnte doch nicht sein! Aber so sehr er die Akte auch durchforschte, nirgendwo war das Datum zu finden, an dem die Jägerin C-20 geboren worden war. Genaugenommen war überhaupt kein einziger Hinweis auf ihre Geburt zu finden.
Ebenso wenig wie ein Hinweis auf das Datum ihrer Anstellung bei der TVA.
Noch mehr beunruhigt als zuvor schnappte sich Mobius die nächstbeste Akte. Sie betraf den Jäger A-11. Er wusste selbst nicht genau, warum er das tat. Aber er hoffte inständig, dass bei der Akte von C-20 nichts weiter als ein dummer, erklärbarer Fehler vorlag. Dass irgendwer diese Einträge verlegt, oder, im schlimmsten Fall, gestohlen hatte. Aber dass sie grundsätzlich existierten. Darum die nächstbeste Akte, welche alle diese Informationen mit Sicherheit enthalten würde.
Er blätterte also die erste Seite um in der Erwartung, den Eintrag der Geburt von Jäger A-11 zu finden.
Nichts.
Das gleiche bei den nächsten fünf Personen, deren Akten er sichtete.
Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Warum gab es keine Hinweise auf ihre Geburtsdaten? Die mussten doch in ihren Akten vorhanden sein – genauso wie die Daten der Anstellung als Jägerinnen und Jäger bei der TVA, die er auch nirgendwo finden konnte.
Mit klopfendem Herzen öffnete er schliesslich seine eigene… und erstarrte.
Das durfte doch nicht wahr sein!
Ein lautes Summen auf seinem TemPad liess ihn aufschrecken. Jägerin B-15 war dran. Er zögerte kurz, nahm den Anruf dann aber doch entgegen. Seine Nachforschungen hier mussten warten. Und bestimmt gab es auch irgendeine einfache, logische Erklärung. Ganz sicher, es musste so sein.
«Mobius!» Die Stimme von B-15 zitterte vor Aufregung und Furcht. «Das müssen sie sich ansehen! Sofort!»
Loki konnte den nächsten grossen Gesteinsbrocken, der die Arche gerade treffen wollte, in letzter Sekunde abwehren. Aber er wusste, dass die drei Projektionen seiner selbst, die er nach draussen geschickt hatte, um die Arche zu reparieren und weitere Schäden abzuwenden, nicht mehr lange durchhalten würden. Ihre Magie wurde bereits schwächer. Sie würde bald ganz erlöschen und seine künstlichen Ichs würden verpuffen.
Er hatte ihnen einen Aufschub verpasst, aber diese Zeit war nun definitiv um. Es gab nur eine Möglichkeit: er musste dafür sorgen, dass die Arche startete. Und zwar jetzt sofort.
Aber Sylvie – oder wer auch immer sie beherrschte – liess ihn nicht.
Ein Stoss Magie haute Loki von den Füssen, eine immense Kraft, wie Sylvie sie unmöglich besitzen konnte. Er fiel mehrere Meter nach hinten, und obwohl er sich gleich wieder aufrappeln konnte, war er sekundenlang wie benommen.
«Ok, jetzt hast du mich wirklich neugierig gemacht.» versetzte er, während er wieder auf die Beine sprang. «Wer bist du? Und was soll das hier? Weisst du nicht dass du ebenfalls sterben wirst, wenn du mich an dem hinderst, was ich tun muss?»
«Sterben?» Sylvie stiess ein lautes, boshaftes Lachen aus. Ein Lachen, das wie ein Donnergrollen klang und ganz sicher nicht von ihr kam. «Du wirst sterben – ich garantiert nicht!» Der Jemand in ihr hob die Hand und fügte hinzu: «Und was deine andere Frage anbelangt… du weisst, wer ich bin!»
Loki konnte dem Energiestoss gerade noch ausweichen. Während er zur Seite sprang und seinerseits einen magischen Blitz schleuderte, dachte er zynisch ‘schön wärs!’ Aber die Erinnerung, die kurz in ihm aufgeflammt war, als er Sylvie das erste Mal gesehen hatte, war weg. Und so sehr er sich auch bemühte: er konnte sie, zumindest im Moment, nicht mehr hervorholen.
Was allerdings zur Zeit auch ziemlich zweitrangig war. Wenn er hier nicht endlich die Oberhand gewann, war das sowieso unbedeutend… Denn dann würde er auf dieser Arche sterben.
Er sammelte seine ganze Kraft und schleuderte auf den Gegner, was er konnte.
Leider ohne den geringsten Erfolg. Seine Magie traf zwar, richtete jedoch kaum Schaden an oder wurde beinahe mühelos abgeblockt.
Wenn er noch den geringsten Zweifel gehegt hätte, dass Sylvie von jemand anderem beherrscht wurde, wäre er jetzt definitiv ausgeräumt worden. Loki wusste, dass sie nicht einmal über halb soviel Magie verfügte, wie sie hier gerade gegen ihn verwendete. Wer auch immer sein Gegner war: er war stark.
Es half alles nichts, Loki musste es ohne Magie schaffen. Er hechtete nach vorn und verpasste Sylvie einen solchen Haken, dass sie sofort zu Boden ging. Sie landete auf dem Rücken, rollte sich jedoch herum und kam wieder auf die Beine, als Loki zum nächsten Schlag ausholte.
«Na sowas,» sagte Sylvie mit dieser fremden, unheimlichen Stimme überrascht. «Du kannst ja sogar richtig zuschlagen.»
«Gefällts dir?» Loki grinste zynisch. «Kannst gerne noch mehr haben!»
Er hechtete nach vorn. Die beiden prallten aufeinander und rangen miteinander. Loki durfte dabei feststellen, dass das Ding in Sylvie zwar magisch stärker war, aber offenbar nicht körperlich.
Nach ein paar Faustschlägen ging die Frau entdgültig zu Boden.
Na endlich – jetzt wurde es Zeit, dieses Schiff zu retten…
Loki wandte sich um und wollte gerade seine Magie spielen lassen, als es passierte: ein lautes Krachen ertönte, ein Ruck fuhr durch die Arche und dann…
…brach sie auseinander.