
Lamentis
Was immer das hier war, eines stand fest: Loki hatte es nicht erschaffen. Das war echt, definitiv echt.
Leider.
Gesteinsbrocken und Trümmer flogen ihnen buchstäblich um die Ohren und Loki fragte sich, warum um alles in der Welt Sylvie diesen fürchterlichen Ort angepeilt hatte.
Oder hatte sie das gar nicht?
«Hey!» Die junge Frau hatte sich hinter einer halb zerfallenen Hütte in Deckung gebracht, und Loki hastete an ihre Seite. «Wo sind wir hier? Und warum hast du uns ausgerechnet hierher geführt.»
«Ich habe keine Ahnung.» gab sie unwirsch zurück.
«Was? Keine Ahnung wo wir sind oder warum du hierher wolltest?»
«Beides.» Ein Anflug von Unsicherheit lag in ihrer Stimme. «Ich musste… improvisieren.»
Ein Felsbrocken raste auf sie zu und Loki schaffte es gerade noch, ihn zu entmaterialisieren, bevor er sie beide unter sich begrub. «Wieso das denn? Etwa meinetwegen nervös geworden?»
«Bilde dir nur nichts ein!» Sie stiess ein Lachen aus, aber es klang unecht.
«Ok. Also, wo auch immer wir hier sind: es ist ziemlich ungemütlich.» Lokis Blick ging nach oben. Trotz der vielen schwarzen Wolken, die sich über ihnen türmten, war deutlich der grosse Mond zu sehen, der viel zu nahe an diesen Planeten herankam.
Der Mond, der offenbar kurz davor stand, mit dem Planeten zu kollidieren.
Die Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Blitz. «Lamentis! Wir sind auf Lamentis.»
«La… was?» gab Sylvie zurück und verwandelte ihrerseits ein umherfliegendes Trümmerteil zu Staub.
Statt einer Antwort ergriff Loki ihre Hand und zog sie weg. «Das TemPad zum Öffnen von Zeittüren: hast du das noch?» Er zog sie mit sich Richtung der Siedlung, die vor ihnen lag. Er wusste: falls Sylvies Antwort ‘nein’ lautete, gab es nur noch eine Möglichkeit, von hier wieder zu entkommen.
«Natürlich hab ich das noch.» erwiderte sie schroff und wühlte in ihrem Umhang. ‘So natürlich ist das nicht,’ dachte Loki, sprach es aber nicht laut aus.
Sylvie zog das TemPad hervor – und erstarrte.
«Das kann doch nicht wahr sein!» entfuhr es ihr. Ja, das TemPad war zwar noch da, aber leider nicht mehr in einem Stück vorhanden. Es war komplett in seine Einzelteile zerlegt und somit vollkommen unbrauchbar geworden.
Loki war entsetzt, wenn auch nicht wirklich überrascht. Die Tatsache, dass Technologie aus einer nicht realen Welt den Weg in eine reale Welt nicht schadlos überstand, verwunderte ihn leider nicht im Geringsten.
Womit sie ein Problem hatten. Ein sehr ernsthaftes Problem.
Wenn er sich richtig erinnerte, würde Lamentis heute untergehen. Das hiess, dass ihnen bestenfalls ein paar Stunden blieben, um es zur Arche zu schaffen, welche die Bewohner dieses Planeten in aller Eile gebaut hatten, um wenigstens ein paar von ihnen das Überleben zu sichern.
Leider wusste er genau, dass die Arche den Start nicht schaffte.
Also würde er dafür sorgen müssen, dass sie es tat – womit er allerdings den Lauf der Geschichte verändern würde.
Wiederum fragte er sich, was hier eigentlich vorging. Es war offensichtlich, dass sie in der Zeit – in der echten Zeit – zurück gereist waren. Loki konnte sich wieder deutlich erinnern, wie er mit Thor Lamentis aufgesucht hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. Sie hatten sich beide einen Spass daraus gemacht, damals, nicht wissend, dass die Welt bald untergehen würde. Für sie war es ein grosses Abenteuer gewesen und ausserdem das erste Mal, dass sie Odin entkommen waren. Noch heute überraschte es Loki, dass Heimdall sie hatte gehen lassen - aber seine 'Silberzunge' hatte schon damals ihren Dienst perfekt getan. Und Lamentis war wirklich aufregend gewesen. Thor hatte es einfach nur gefallen, mit den umherfliegenden Gesteinsbrocken und Trümmern zu ‘spielen’, und Loki hatte seine Magie verfeinern können.
Damals hatten sie sich schrecklich darüber aufgeregt, dass Odin plötzlich aufgetaucht war und ihren Spass beendet hatte, indem er sie persönlich nach Hause brachte.
Jetzt wünschte sich Loki fast, der Bifröst würde sich öffnen und sie hier herausholen.
Aber er wusste, dass dies nicht geschehen würde. Sie mussten es selbst irgendwie schaffen. Und die einzige Möglichkeit war die Arche.
Aber warum waren sie überhaupt hier gelandet? Wie hatte Sylvie – oder wer auch immer sich in ihr verbarg – diesen Ort und diese Zeit überhaupt anwählen können?
«Hast du einen Plan?» Sylvies Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Zum ersten Mal, seit er ihr begegnet war, klang ihre Stimme fast ängstlich.
«Überleben.» erwiderte er knapp und ging weiter, indem er mehreren Geschossen auswich. «Wir müssen in die Hauptstadt. Dort gibt es eine Arche, die heute abheben wird.» 'Zumindest hoffe ich das', dachte er, sprach es aber nicht laut aus.
«Klingt nach einem guten Plan.» Die Stimme der Frau hatte wieder an Festigkeit gewonnen. «Und wie weit ist es bis zur Hauptstadt?»
Loki brauchte nur wenige Sekunden, um ihr die Frage beantworten zu können. Sein magischer Sinn suchte die Umgebung ab und stellte fest, dass sie sich in einer Siedlung befanden, die etwa 120 km von der Hauptstadt entfernt lag.
Zu weit, um zu Fuss zu gehen – aber es gab ja zum Glück noch andere Möglichkeiten.
Statt einer Antwort ergriff er Sylvies Hand und öffnete eins seiner eigenen, magischen Portale.
Als sie hindurch gingen, schlug gerade ein Meteorit hinter ihnen ein und riss ein riesiges Loch in den Boden, auf dem sie eben noch gestanden hatten.
«Das ist ihre Schuld!» Die Augen von Richterin Renslayer funkelten zornig, als sie Mobius anschaute. Sie war die oberste Richterin der TVA und wenn sie wütend war, war nicht gut Kirschen essen mit ihr.
«Ich wollte Loki ja bei mir behalten, aber Hunter B-15 bestand darauf, dass er mit ihr geht. Es ist also genau genommen ihre Schuld.» gab Mobius zurück. Er hoffte, dass seine Stimme selbstsicherer klang, als er sich fühlte.
«Kommen sie mir nicht so, Mobius!» Renslayer wurde nicht ruhiger, im Gegenteil. Ihr Atem ging schwer und stossweise. «Am Ende bin ich es, die ihre Fehler ausbügeln muss.»
«Wie meinen sie das?»
«Na wie wohl?» Sie schnaufte und blieb dicht vor ihm stehen. «Was glauben sie wohl, wen die Zeithüter dafür verantwortlich machen werden?»
Mobius erschrak. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. «Warum sollten die sie be..?»
«Weil ich die Mission genehmigt habe!» unterbrach sie ihn erregt. «Meine Mission, meine Schuld.»
«Ravonna, bitte beruhigen sie sich.» Mobius atmete tief durch und legte der Richterin besänftigend die Hände auf die Schultern. Sie waren sehr gute Kollegen und er hoffte, dass sie ihm das durchgehen lassen würde. «Wir werden Loki finden. Beide Lokis! Aber die Mission war dennoch ein Erfolg: wir haben Jägerin C-20 zurück.»
«Das stimmt…» Renslayer schien gar nicht mehr daran gedacht zu haben. Sie wurde tatsächlich etwas ruhiger. «Wie geht es ihr?»
«Als wir sie fanden, war sie in einem sehr seltsamen Zustand. Als stünde sie völlig neben sich. Und sie hat ein ums andere Mal gesagt ‘es ist nicht echt’.» Mobius erschauerte innerlich, als er sich dieses Bild wieder vor Augen malte. Er hatte die Worte der Jägerin als Unsinn abgetan, als er sie zuerst gehört hatte. Wirres Gestammel, dem Schock entsprungen.
Aber jetzt, im Nachhinein, lösten sie plötzlich ein sehr beklemmendes Gefühl in ihm aus.
Renslayer sah ihn völlig verwirrt an. «Was meinte sie damit?»
«I… ich weiss es nicht.» stammelte Mobius. «Ehrlich. Ich habe keinen blassen Schimmer. Aber ich finde, wir sollten es rauskriegen.»
Die Richterin warf ihm einen langen, sehr seltsamen Blick zu, dann meinte sie nur: «Finden sie die beiden flüchtigen Varianten, Mobius. Um C-20 kümmere ich mich.»
Einen Augenblick lang wollte er widersprechen, doch Renslayers Blick verbot ihm jede Widerrede. Er seufzte und machte sich an die Arbeit.
Einfach würde das nicht werden, das war ihm klar…
Andererseits war er gut darin, verschwundene Varianten zu finden.
«Wenn du sowas kannst, wofür brauchen wir dann das TemPad?» fragte Sylvie, sichtlich beeindruckt. Das Portal öffnete sich und sie sahen die Hauptstadt vor sich – und die riesige Arche, die sich an ihren Ausläufen auftürmte.
«Ich kenne zwar Wege, um einige Welten ohne den Bifröst zu besuchen oder zu verlassen, aber leider ist Lamentis keine davon,» erwiderte Loki knapp und zog Sylvie mit sich. Die Arche hatten sie zwar gefunden, aber hinein zu gelangen würde etwas weniger einfach werden.
Denn ja, er hatte sich nicht getäuscht: es gab eine magische Sperre. Portal öffnen und unbemerkt reinschleichen war also nicht…
Vor der Arche bildete sich eine lange Schlange verzweifelter Leute. Die Soldaten, welche die Reihen abschritten, hatten grosse Mühe, sie in Schach zu halten.
Als ‘normale’ Passagiere würden sie da nie reinkommen, das war klar. Aber zum Glück waren sie darauf nicht angewiesen.
Ein rasches Neigen mit dem Kopf, ein kurzes, grünes Aufflimmern von Magie, und Loki verwandelte sich von einem TVA Angestellten zu einem Soldaten aus Lamentis. Im gleichen Moment spürte Sylvie, wie sich auch ihr Äusseres veränderte: ihr Haar wurde lang und schwarz, ihre Kleidung die einer edlen Dame. Verwirrt – und wütend – drehte sie sich zu Loki um. «Was soll das?»
«Wir wollen doch da rein, schon vergessen?» raunte er zurück. «Das ist unser Ticket: du bist eine der oberen Zehntausend hier, eine Abgeordnete namens Brazenna, und ich dein ganz persönlicher Wachhund. Und jetzt bemüh dich, als Dame durchzugehen.»
«Und wer ist diese Brazenna? Hast du die soeben erfunden oder was?»
«Nein.» Loki erinnerte sich dunkel an einige Namen der Flüchtenden auf der Arche. Denn nach ihrem ‘Spass’ hatte Odin ihn und Thor damals dazu verknurrt, die tragische Geschichte von Lamentis zu studieren. Abgeordnete Brazenna war eine von vielen Unglücklichen gewesen, deren Hoffnung, durch die Arche der Apokalypse entgehen zu können, grausam zerschlagen worden war. «Es gibt sie wirklich.»
«Und wenn sie schon an Bord ist?»
«Lass das meine Sorge sein.»
«Meinetwegen. Aber eins sage ich dir…» Sylvies Stimme war durchtränkt von Ärger. «Dafür, dass du mich hier die Dame geben lässt, bring ich dich um!»
«Später, meine Liebe.» gab Loki gelassen zurück. «Erst rette ich mal unsere Leben.»
Er straffte sich und rief laut «Platz da!» während er Sylvie an der wartenden Menge – und den Soldaten – vorbeischleuste. Dank seiner Magie, die unbemerkt von ihm abstrahlte, schaffte es auch niemand, ihren Weg zu blockieren. Ungehindert kamen sie bis ganz nach vorn, zu dem Beamten, der das Einsteigen kontrollierte.
Und die Tickets.
«Fahrscheine bitte.» sagte der Kontrolleur steif.
Sylvie hob das Kinn und versuchte, ihre Rolle perfekt zu spielen. «Ich bin die Abgeordnete Brazenna. Lassen sie mich und meinen Bodyguard sofort eintreten.»
«Ihr Ticket, meine Dame?» Der Mann war nicht beeindruckt.
Loki, dem klar gewesen war, dass es nicht so einfach laufen würde, berührte den Beamten kurz am Arm. Die Augen des Mannes veränderten sich, wurden starr. «Hier sind unsere Fahrscheine.» sagte Loki lächelnd und stellte befriedigend fest, wie der Kontrolleur nickte und sie durchwinkte.
«Wie hast du..?» fragte Sylvie leise, als sie im Innern des riesigen Schiffes verschwanden.
«Schon mal was von Magie gehört?» flüsterte Loki zurück und grinste breit.
«Aber das war…»
«Gedankenkontrolle, genau!» Loki zog sie mit sich. «Kinderspiel. Ich bings dir bei wenn du willst, aber jetzt müssen wir erst einmal…»
Weiter kam er nicht. Ein ohrenbetäubendes, lautes Geräusch, das gefährlich nach einem Einschlag klang, durchdrang das ganze Schiff und rüttelte es durch, als wäre es aus Gummi.
Loki fluchte innerlich. Offenbar blieb weniger Zeit, als er gedacht hatte.
Nur noch Sekunden, um es genau zu sagen.
Da hörte er Sylvie plötzlich mit völlig veränderter, männlicher und sehr unheimlicher Stimme sagen "Und was nun, du Held?"