
Die Wahrheit
- Hyouga Neji –
Neji kennt Lee und Gai schon seit so vielen Jahren – er ist glücklicher, wenn er die genaue Zahl nicht kennt –, aber seit sie Team Gai bilden, hat er sie noch nie in zivilen Klamotten gesehen, längere Krankenhausaufenthalte nicht mit eingerechnet. Ihre dortige Kleidung ist nicht freiwillig ausgewählt, auch wenn sie es erstaunlicherweise immer schaffen, dass das ansonsten ein wenig angegraute Weiß grünlich wirkt. Es ist wie ein Fluch, von dem er seit ebenso vielen Jahren, wie er sie kennt, befreit zu werden hofft. Vergebens, wohlgemerkt, wie er jeden Tag aufs Neue feststellen muss, besonders jedoch in den letzten Tagen ihrer gemeinsamen Mission.
Doch jetzt stehen sie da in völlig ziviler und völlig normaler Kleidung, kein einziger Hauch von Grün, sondern schwarz und weiß in verschiedenen Schattierungen und er würde seinen Augen nicht glauben, wenn er nicht wüsste, dass sie ihn absolut niemals anlügen.
Überhaupt wirkt die ganze Situation fürchterlich ironisch auf ihn. Er seufzt. Er schafft und schafft es einfach nicht, bekommt sowohl auf Bitte als auch auf Befehl, wenigstens einmal, ein einziges Mal, nicht grün zu tragen, einen stundenlangen Vortrag gehalten, warum ausgerechnet doch grün und ausgerechnet so und jetzt erst recht. Die einzige Frau im Team denkt darüber ebenso wie er, aber sie hat nie Vorträge gehalten bekommen. Ein Satz zu ihr „Grün ist eine leidenschaftliche Farbe!“, und Schluss. Jetzt bittet sie einmal um angemessene Kleidung und die beiden springen sofort. Wie unfair.
Er beschwert sich in seinen Gedanken, sagt jedoch nichts weiter dazu und versucht es einfach aus der Perspektive zu sehen, dass er davon ebenso profitiert wie TenTen, rein optisch zumindest.
Vielleicht sogar ein bisschen mehr. Eine kleine Ruhepause für die untäuschbaren Augen.
Neji nickt ihnen als Begrüßung zu, nimmt mit einem Hauch von einem Grinsen wahr, dass die Klamotten nun überhaupt nicht mehr zum verdrehten Verhalten von ihnen passen.
Immerhin besser als nichts.
Lee und Gai machen sich gar nicht erst die Mühe, ihn in ihr Gespräch mit einzubeziehen und reden weiter über irgendwelche Nichtigkeiten, im Moment über das schlechte Wetter während ihrer Mission verglichen mit dem schönen Sonnenschein hier in Konoha. Neji schweigt, steht einfach neben ihnen und fühlt sich im Moment sogar recht wohl (anstatt des üblichen Ignorierens mit geschlossenen Augen). Er achtet nicht auf die Uhr in der Hoffnung, TenTen würde möglichst vor der Zeit auftauchen, um wenigstens einen vernünftigen Menschen um sich zu haben. In ihrem Fall ist „vernünftig“ jedoch nicht das Adjektiv, das am besten passte, sonder eher –
TenTen kommt angerannt, scheint ein wenig hektisch, obwohl sie maximal zwei Minuten zu spät ist, wenn überhaupt, und das einzige Wort, das ihm einfällt, ist „wunderschön“.
Ebenso wenig, wie er Lee und Gai noch nie zuvor in Zivil gesehen hatte, hat er TenTen noch nie ein Kleid tragen sehen. Einen Rock, ja, an der Gedenkfeier von der dritten Generation, aber an diesem Tag trugen alle Mädchen und Frauen einen Rock. Aber auch sonst trug sie nie einen Rock, geschweige denn ein Kleid und dazu noch so ein schönes.
Es ist schlicht, bei den Familientreffen der Hyougas oder irgendeinem besonderen Anlass der Stammfamilie hatte er bereits sehr viel aufwendigere Kleider gesehen, aber keines von ihnen konnte mit ihrer Ausstrahlung mithalten. Doch er wäre nicht Neji Hyouga, würde er jetzt irgendetwas dazu sagen. Er schaut sie an und widerspricht Lee und Gai ausnahmsweise durch bestimmte Blicke und Gesten nicht, sondern lächelt nur schwach zu ihrem „TenTen, du bist eine wunderschöne Blüte! Du strahlst mit der Kraft der Jugend!“. Sie schreien es, und Passanten in mindestens 25 Metern Entfernung drehen sich nach ihnen um – wie üblich. Doch dieses Mal hören sie, sehen sie und stimmen vorbehaltlos zu. Neji kann es sehen.
„Ich hab mir extra Mühe gegeben“, meint sie strahlend, glücklich über diesen einen Kommentar, den sie sonst immer hört. Elegant und in der Bewegung durch schier endloses Training ihrer Jutsus völlig aufgehend dreht sie sich einmal um die eigene Achse. Eine vollkommene Pirouette um ihre ganze Arbeit zu präsentieren. Ihr braunes Haar hat sie, garantiert in mühevoller Kleinstarbeit, hochgesteckt, er sieht die ganzen Klammern, die sich unter der Masse verbergen, beachtet aber nur die weißen, die kunstvoll zwischen ihren Locken hervorblitzen. Die wenigen lockeren Strähnen fliegen durch die Luft bei der Drehung, scheinen in der Sonne zu glänzen und sogar zu glitzern – wie sie das gemacht hat?
Ihr Kleid lüftet sich ein wenig und er dankt dem Schicksal, ein Hyouga mit so unfehlbaren Augen zu sein. Er bekommt die Freudenausbrüche der andren beiden gar nicht mit, sieht nur die fünf Zentimeter mehr dieser wunderschönen Beine.
„Aber ihr seht auch wirklich gut aus – kaum zu glauben, dass ich das mal sagen würde“, sagt die Schöne und mustert die beiden üblichen Verdächtigen, die sich daraufhin breit angrinsen und einen erhobenen Daumen zeigen. Neji seufzt, was für eine dumme Herausforderung sie sich jetzt schon wieder gestellt haben mochten? „Aber leider passt ihr Verhalten nun nicht mehr dazu.“
Sie lacht und stimmt ihn zu, ist mehr denn je eine strahlende Blume.
Gemeinsam gehen sie zu ihr, er zu ihrer linken, Lee und Gai an ihrer rechten Seite und sie fragen sie über alles Mögliche aus, was normalerweise unter Frauensachen, sehr stereotypisch gedacht, fällt, für Gai und Lee aber keinen Unterschied macht.
TenTen geht so nah an ihm, dass er ihr Kleid an seinem Arm spürt, ihr Handgelenk mit einem kleinen silbernen Armbändchen an seinen Fingern. Ihr dezentes Parfum, der Duft von so exotischen Aromen, dass sie garantiert eine Menge Zeit dafür aufgebracht hatte, das passende auszuwählen, verwöhnt seine Nase. Er mag ihren eigentlichen Geruch, so viel Natürlichkeit wie bei ihr hatte er noch bei keiner jungen Frau ihres Alters gesehen und er hatte es immer aufs Neue genossen, in ihrer Nähe zu sein.
Ihr übliches Auftreten ist gesetzter, verglichen mit diesem Moment nüchterner, aber er fand es nie schlimm, sah absolut keine Notwendigkeit dafür, dass sie ihre eigentliche Schönheit noch künstlich hervorhebt um auf sich aufmerksam zu machen.
Sie verdient nur einen Mann, der willens und auch in der Lage ist, ihre besondere Ausstrahlung auch ohne all die künstlichen Mittel, mit deren Unterstützung die Frauen sich erst schön zu fühlen vermögen, zu sehen. Seltsam, dass TenTen nun ebenfalls darauf zurückkam und dann noch in einem solchen Ausmaß.
„In einem solchen Ausmaß“, weil selbst ihr dezenter Gebrauch verglichen zu vorher recht viel wirkt. Oder eher weniger viel als viel mehr ungewöhnlich. Neji war nie der Meinung, sie hätte es nötig oder wollte es gar selbst um mit den anderen Mädchen gleichauf zu sein.
Erstaunlich, dass ihm dieser Wunsch von ihr entgangen ist – dafür aber nicht, dass TenTen einen Augenblick lang zu ihm schaut, ihm ein süßes Lächeln schenkt und nach seiner Hand greift, sie vorsichtig hält. Er drückt sie leicht, sie versteht und hält sie richtig, verschlingt ihre Finger mit seinen, geht wenige Zentimeter näher neben ihm.
Als sie bei TenTen ankommen, ihr bescheidenes kleines Apartment, in dem sie trotz ihrer Einsamkeit eine einzigartige Note ihrer Persönlichkeit einbringen konnte, die er jedes Mal, wenn er hierher kommt, zu finden erfreut ist, riecht er noch mehr exotischer Gerüche.
„Hast du für uns gekocht, TenTen?“
Lees Augen sind weit aufgerissen und er wirkt mehr schockiert als erfreut.
„Ich hab es zumindest versucht“, antwortet sie mit einem beinah entschuldigenden Lächeln, geht mit ihren Schuhen (keine hohen, aber dafür viel zu dünne Absätze und er fragt sich, wie sie darauf vorhin so problemlos laufen konnte) durch den kleinen Flur weiter in ihre Wohnküche, während die Herren sich vorher ihrer Schuhe entledigen, wie sie es ihnen jedes Mal bei ihren vorherigen Besuchen eingetrichtert hatte.
„Aber es ist verdammt schwer, es euch recht machen zu wollen, wenn es ums Essen geht. Ein Glück, dass ihr die letzten Tage auf einer Mission wart, da hatte ich genug Zeit, es auch Diven recht zu machen.“
Ihre Stimme hat einen etwas zu starken Hauch von Selbstverständlichkeit, als sie von Glück spricht und Neji ist sich sicher, dass in diesem scheinbaren Zufall weitaus weniger Glück steckt als sie zugibt. Dass er sich da so sicher ist, verunsichert ihn jedoch nur noch mehr bei der Tatsache, warum er das andere, diesen Wunsch nach Aufmerksamkeit, übersah.
Er verdrängt den Gedanken, morgen kann er immer noch versuchen, sie zu verstehen; heute reicht es völlig, ihre Nähe zu genießen. Sie lacht, redet, strahlt und glänzt und wird ganz rot, als Neji ihr Essen komplimentiert. Das Staunen steht ihm nahezu ins Gesicht geschrieben – TenTen hat sich wirklich jede Kleinigkeit gemerkt, die jeder von ihnen irgendwann einmal bezüglich bestimmter Vorlieben geäußert hatte. Besonders sich selbst und seinen doch anspruchsvollen Geschmack findet er in all den kleinen Gerichten vertreten und er kann nur daran denken, dass TenTen das alles für ihn gemach hatte. Und für Lee und Gai … fügt er in Gedanken verzögert noch hinzu.
Sie stößt ihn mit dem Ellbogen in die Seite, damit er wieder aufwacht und den anderen beiden nicht die Möglichkeiten die Gelegenheit gibt, das erste Mal über ihn lachen zu können. Kameradschaftlich natürlich.
Für einen Augenblick, denselben wie vorhin, lächelt sie ihn wieder an und in ihren Augen sehen die seinen den Grund. Das Warum zu all der Mühe, der eingefädelten Mission, dem aufwendigen Kochen und dem noch aufwendigern Herrichten ihrer selbst.
Auf einmal ergibt alles Sinn. Nur wenige Male zuvor hat er sich mit dieser seiner besonderen Gabe – oder vielleicht trotz ihr – so blind gefühlt wie jetzt. Erst in diesem Augenblick versteht er, was all die kleinen Zeichen ihm sagen wollen.
Zufrieden und mit einem wohlig warmen Gefühl erwidert er ihr Lächeln, verrät ihr damit das Geheimnis, das er gerade entdeckte.