
Stoffbündel
„MISS KIRAMMAN!!!“ ertönte ein lauter Schrei.
Beide Frauen schossen aus dem Bett. Violet einen Sekundenschlag schneller als Caitlyn, die Fäuste instinktiv gehoben, starrte die Tür an.
„MISS!!!“ schrie das Dienstmädchen erneut.
Violet und Caitlyn blickten sich kurz an, bevor sie losrannten. Caitlyn griff allgegenwärtig noch einen Kimono und warf sich diesen schnell über die Schultern. Violet hingegen war bereit auch in Boxershorts und Sport-BH zu kämpfen.
Auch Tobias Kiramman kam aus seinem Arbeitszimmer neben dem Foyer gerannt, sich hastig eine Brille aufsetzend. „Was ist los!?“ rief er, während er aus einem Hausschuh stolperte.
Das Dienstmädchen drehte sich langsam an der offenen Haustür, auf den Armen ein Bündel Stoff. Ihre Augen waren groß. „I-ich hörte Geräusche vor der Tür. I-i-ich wollte nachsehen und da lag das auf der Türschwelle.“ Stammelte sie. Sie stand unter Schock.
Einen Augenblick lang bewegte sich keiner im Foyer, bevor schließlich Caitlyn den ersten Schritt tat. Als Hausherrin war es ihre Verantwortung, was man vor ihre Haustür auf ihre Hausschwelle legte. Violet blickte ihr nach, sah wie sie ihren Rücken stramm machte. Kopf hoch. In diesen Momenten ähnelte sie so sehr ihrer Mutter, Cassandra.
Das kleine Stoffbündel begann sich zu bewegen und kleine Geräusche von sich zu geben.
Caitlyn schob etwas Stoff zur Seite, schien in das Bündel hineinzublicken, bevor sie nickte, sich zu den anderen umdrehte und ohne Miene verkündete: „Es ist ein Baby.“
Tobias Kiramman murmelte leise „oh je.“
-
„Die Kleine ist ein bisschen unterkühlt und wirkt auch etwas unterernährt, scheint sonst aber gesund zu sein.“ Stellte Tobias Kiramman mit professionellem Tonfall fest. Er wog die Kleine zweimal im Arm, bevor er beide Frauen forschend anblickte.
Das Dienstmädchen hatte schnell im Foyer den Kamin angezündet und ein extra Stück Holz hinzugetan. Violet spürte die Schweißtropfen sich sammeln an ihrer Schläfe. Bevor sie sich diese jedoch wegwischen konnte, drückte ihr Caitlyns Vater das Kind in den Arm. Überrascht schreckte Violet auf, griff das Kind jedoch wie automatisch richtig. Den Arm so gedreht, dass der Hals des Kindes sauber gestützt wird, die rechte Hand sanft auf dem Bäuchlein des Kindes.
„Ich gehe ins Krankenhaus und hole der Kleinen etwas Milch. Sie wird sicherlich bald hungrig werden!“ verkündete der Mann und machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Caitlyn zog sich ihren Kimono etwas enger um den Hals, als würde sie frieren, stand jedoch mit dem Rücken zum Feuer gedreht. „Alles in Ordnung?“ fragte Violet als sie diese Bewegung sah.
Caitlyn nickte und setzte sich erschöpft in einen Ohrensessel.
Violet setzte sich langsam in den zweiten Ohrensessel, versuchte dabei das Kind so wenig wie möglich zu bewegen damit sie nicht aufwachten würde.
„Du siehst nicht so aus.“ Meinte Violet besorgt.
Caitlyn starrte eine Weile in das Feuer und antwortete nicht. Nach einer gefühlten Unendlichkeit murmelte sie „Wer tut so etwas? Wir müssen die Mutter finden. Das arme Kind.“
Violets Augenbrauen zogen sich zusammen. In Caitlyns perfekten Piltover Welt gab es so etwas wie ein Aussetzen eines Kindes wohl nicht. Violet wagte es nicht zu reden, sondern betrachtete stattdessen das Kind in ihren Armen.
Ihre Haut war etwas dunkler als ihre Eigene, das Haar schien jedoch hell zu werden. Sie hatte die niedlichste kleine Stubsnase und einen runden roten Mund. Sie schien einem Engel zu ähneln.
Violets Herz verkrampfte sich. Sie erinnerte sich an den Tag als ihre Mutter nach Hause kam mit der winzigen Powder im Arm. Sie war viel kleiner als dieses Kind in ihren Armen, viel zerbrechlicher.
Violet erinnerte sich daran, wie stolz sie darauf war eine große Schwester zu sein. „Ich werde sie auf ewig beschützen! Versprochen!!“ quietschte sie ihrer Mutter entgegen. Diese lachte nur und antwortete „das ist bereits meine Aufgabe Vi-Schätzchen. Sei ihr einfach nur eine große Schwester, ja?“ Sie erinnerte sich daran, dass sie zwar nickte, in ihrem Herzen ihr Versprechen jedoch das einzige war das galt.
„Vi?“
Violet blinzelte und ihr Kopf schnellte zu Caitlyn.
„Ich habe gefragt, was wir jetzt machen sollen?“ fragte Caitlyn, ihr Ton merkwürdigerweise gereizt.
Violet schüttelt den Kopf. „Sie warmhalten und füttern?“ antwortet sie mit den Schultern zuckend.
Caitlyn sprang aus dem Sessel und begann im Salon auf und abzugehen. Sie begann eine typische Diskussion wie nur ein Kiramman sie halten kann; Fakten und Möglichkeiten laut aufzählend.
„Mitten in der Nacht legt uns irgendjemand ein Neugeborenes auf die Türschwelle.“ Zählte Caitlyn auf. Violet nickte stumm.
„Aber wieso? Weil ich das größte Haus hier in der Umgebung habe?“ keine Arroganz hinter diesen Worten, einfach nur ein realistischer Fakt. ‚Haus‘ ist jedoch untertrieben. Violet brauchte ganze zwei Tage, um sich den Weg in den Garten zu merken. Die Villa repräsentierte hervorragend den Kiramman-Größenwahn.
„Der Gedanke war also womöglich ‚Die haben genug Geld die Kleine groß zu ziehen‘ oder? Ganz einfacher Gedankengang.“ Erklärte Caitlyn weiter auf. „aber wer in Piltover würde so etwas tun!?“
Violet analysierte die Kleine in ihrem Arm wieder und meinte leise: „Ich denke nicht, dass es jemand aus Piltover war. Die Kleine ist doch unterernährt. Den Leuten hier oben geht es zu gut, dass ein Kind der Ihres, jemals hungern müsste.“ „Ein Zaunit also!?“ kreischte Caitlyn auf. „Das könnte es erklären!“
Violet verzog ihr Gesicht wegen der Beleidung, doch Caitlyn hatte ihr den Rücken gedreht. Sie wollte gerade argumentieren, dass nicht jede Frau in Zaun ihre Kinder weggibt, als Caitlyn weiterredete. „Das ist schlecht. Sehr schlecht. Wir haben keine Akten für Geburten in Zaun!“
„Ja weil wir die Kinder im dunklen und Dreck der Mienen gebären.“ Murmelte Violet mit triefendem Sarkasmus in der Stimme und die Augen verdrehend.
„Was?“ fragte Caitlyn nichts ahnend und sich zu Violet drehend.
„Hm?“ fragte Violet unschuldig, die Augenbrauen fragend hochgehoben, lieb lächelnd.
„Huh“ Caitlyn wirkte kurz verwirrt, bevor sie seufzte und sich sehr unelegant in den leeren Sessel fallen ließ. Sie ließ sich in diesem runterrutschen, Arme links und rechts über die Armlehnen hängend. Ihre Mutter würde bei einem solchen nicht damen-haftem Sitzen empört hüsteln dachte sich Violet und musste leicht grinsen. Sie liebte Caitlyn dafür, dass sie langsam aus ihrer erzogenen Steifheit ausbrach.
Die Kleine begann sich in Violets Armen zu bewegen, mitsamt kleinen Schmatz Geräuschen. „Sie wacht auf.“ Flüsterte Violet und Caitlyn schoss so schnell in eine aufrechte Position, den Rücken stramm und gerade, als käme Piltovers Konsulat persönlich zur Tür rein. „Glaubst du sie schreit gleich?“ flüsterte sie erschrocken.
Violet zuckte leicht mit der Schulter, das Gesicht des Kindes fixierend „Vielleicht.“ „oh bitte nicht“ flüsterte Caitlyn und Violet blickte überrascht zu ihr rüber.
Caitlyn war Einzelkind. Dazu wohl noch ein recht verzogenes Einzelkind. Ein Kind, schlimmer, ein Neugeborenes war Caitlyns schlimmster Albtraum.
„Hattest du nie ein Kleinkind auf dem Arm?“ fragte Violet leise und Caitlyn verzog das Gesicht leicht. „Nein. Nie. Ich habe Cousins, ja, aber ich hatte nie Kontakt. Ich bin abgesehen von Schulkameraden nicht mit Kindern groß geworden.“ Erklärte sie faktisch. „Ich weiß nichts mit solch kleinen Kindern anfangen.“ Schlussfolgerte sie, auf das Kind zeigend.
Unmerklich für Caitlyn, schlossen sich Violets Finger etwas fester um die Kleine in ihren Armen. Violet spürte eine Anspannung in sich, eine aufsteigende Angst, die sie nicht verstand.
In diesem Augenblick schlug die Haustür etwas zu fest zu. Tobias Kiramman war zurück.
Wie auf Kommando begann die Kleine zu Schreien. Caitlyn flog blitzschnell zu ihrem Vater, während Violet die kleine sanft wog und versuchte sie zu beruhigen mit sanften „shhh“ Geräuschen.
„Ich habe die Milch und komme wohl scheinbar genau richtig!“ meinte Caitlyns Vater gut gelaunt.
Violet wusste es besser, sagte jedoch nichts. Sie wog die Kleine weiter, bis die etwas hysterischere Tonlage in ihrem Weinen abebbte. Sie war nur erschrocken das arme Ding. Jetzt weinte sie in einem tieferen, regelmäßigeren Ton und Violet wusste; sie ist hungrig.
Sie drehte sich in ihrem Sessel, um nachzusehen wo die Kirammans verschwunden sind und bemerkte beide vor ihr stehen.
Tobias Kiramman meinte strahlend „Wow Violet! Du bist die geborene Mama!“ während Caitlyn, einen Schritt hinter ihrem Vater, mit nicht lesbarem Blick die Beiden beobachtete.
Violet lächelte leicht, wollte aber nicht antworten. Die Antwort war zu offensichtlich. „Macht ihr die Milch warm?“ fragte sie stattdessen.
Tobias Kirammans strahlen verschwand und beide Kirammans schauten sich kurz überfordert an.
Violet seufzte schwer.