
Die Entdeckung
Credence war nervöser als üblich. Er stand hier, umgeben von Büchern und konnte sich zum ersten Mal, seit er den Bücherei-Ausweis besaß, nicht wirklich darauf konzentrieren. Das lag nicht an dem Ort an sich – viel mehr an der kleinen Last in seiner Umhängetasche, die er sich unter den Arm geklemmt hatte. Es wackelte verdächtig darin, auf eine Art, die er schwer vorhersehen konnte. Mal vorn, mal hinten, mal kam ein Stoß von der Seite. Das machte es nicht gerade einfach, die Tasche zu halten. “Beruhige dich”, flüsterte er und versuchte dabei, nicht die Aufmerksamkeit der anderen Büchereibesucher auf sich zu ziehen.
Die Tasche ignorierte seine Worte und das, was sich darin befand, zappelte weiter.
Credence holte tief Luft. Er hätte die Bücherei schon längst verlassen, wenn er sich hier nicht zuvor mit Percival verabredet hätte, der eben in den unsichtbaren Teil verschwunden war, der hinter dem dreizehnten Regal lag und die Zauberbücher enthielt.
Credence war dankbar für seine Hilfe und seine Bereitschaft, ihn zu unterrichten. Er war dankbar für die Zeit, die der Ältere sich nahm. Aber er hatte es nicht über sich bringen können, sein kleines Geheimnis so lang sich selbst zu überlassen. Und nun bereute er den Entschluss, es mitgebracht zu haben.
Von drinnen ertönte ein unzufriedenes Quieken.
“Still jetzt”, murmelte Credence ein wenig strenger, “Wir sind gleich wieder draußen. Mach nicht so ein Theater.”
“Wer soll nicht so ein Theater machen?”, fragte Percivals Stimme hinter ihm und Credence erschreckte sich so heftig, dass er zusammenfuhr.
Er wirbelte herum. “Mein Magen”, log er ohne zu zögern und setzte dann ein entschuldigendes Lächeln auf. “Ich habe ziemlich Hunger.”
Credence wusste nicht, was Percival davon halten würde, wenn er erfuhr, was Credence getan hatte. Er hatte sich noch nicht dazu überwinden können, es ihm zu sagen. Credence fürchtete, dass Percival es nicht gutheißen und auf ihn einreden würde.
Seine Ablenkung schien mittelmäßig zu funktionieren. Percivals Blick blieb noch einen Augenblick prüfend auf ihn gerichtet, dann schmunzelte er. “Dann sollten wir deinen Magen nicht warten lassen.” Er hielt den Stoffbeutel hoch, den er mitgebracht hatte. “Hier drin sind die Bücher für deine nächsten Lektionen. Ich denke, damit kommen wir erst mal zurecht.”
“Sehr schön”, sagte Credence lächelnd, doch nicht so fröhlich wie sonst. Angespannt hielt er die Tasche fest und betete, dass sein kleines Mitbringsel sich nicht zu viel bewegte und auch ja keinen Laut von sich gab.
Er sah Percival an, dass dieser mit mehr Enthusiasmus gerechnet hatte und hoffte, dass er sich nicht allzu auffällig verhielt.
“Alles in Ordnung?”, fragte Percival nach.
Credence schluckte. “Nur der Hunger”, behauptete er, “Ich habe ein Loch im Magen.”
Percival nickte. Credence war sich nicht sicher, ob er ihm glaubte.
Sie verließen die Bibliothek.
An jedem anderen Tag wäre Credence darüber traurig gewesen und hätte sich gewünscht, noch weitaus mehr Bücher auszuleihen. Aber heute waren seine Gedanken woanders. Bei dem kleinen Schatz in seiner Tasche.
Während sie die Straße entlang gingen, die von der winterlichen Sonne beschienen wurde, schwieg Credence und als aus seiner Tasche ein frustriertes kleines Wimmern erklang, versuchte er, es mit einem Husten zu übertünchen. Er schwieg angespannt, während sie zu Percivals Wohnung gingen, die nur zwei Straßenblocks entfernt lag.
“Du bist so still”, stellte Percival fest, als sie beinahe die gesamte Strecke hinter sich gebracht hatten. “Beschäftigt dich etwas?”
Credence schwieg im ersten Moment. Er fragte sich, ob das die geeignete Gelegenheit war, um Percival von seinem Fundstück zu erzählen. Er brachte den Mut dafür nicht auf. Wenn es in einer Grundsatzdiskussion endete und Percival ihm ins Gewissen reden und ihm sagen würde, dass er sich trennen sollte, dann wäre Credence am Boden zerstört. Er wusste, dass er es nicht ewig aufschieben konnte... aber vielleicht ein wenig länger?
“Es ist nichts”, sagte er also, “Ich bin nur in Gedanken.”
“Geht es in deinen Gedanken zufällig um den Inhalt deiner Tasche?”, fragte Percival beiläufig.
Credences Herz setzte einen Schlag aus. Er versteifte sich in dem Versuch, sich nicht auffällig zu verhalten, hielt den Blick starr auf den Bordstein vor sich gerichtet und seine Finger verkrampften sich um die Henkel der Tasche. “Ehm... nein”, sagte er, wenig überzeugend und mit höherer Stimme als üblich.
“Sicher?”, fragte Percival sachlich weiter, “Und wieso klammerst du dich dann an sie als hinge dein Leben davon ab?”
Credence schwieg ertappt. Seine Füße liefen weiter, aber er bemerkte es gar nicht. Seine Gedanken rasten zu sehr um die Frage, was er tun sollte.
“Was ist so schlimm, dass du es mir nicht sagen kannst?”, fragte Percival und seine Stimme war sanfter geworden.
Credence duckte sich schuldbewusst. “Ver-versprichst du mir, dass du mir erst zuhören wirst?”, fragte er. “Und dass du nicht wütend wirst?” Nervös blickte er zu Percival auf, dem bei diesen Fragen im Bruchteil einer Sekunde eine Vielzahl Emotionen übers Gesicht huschten. Credence erkannte Verwirrung, einen Anflug von Entrüstung, Bestürzung und zuletzt Zuneigung. Dann glätteten sich seine Gesichtszüge und er nickte.
“Natürlich”, sagte er.
Credence blieb stehen. Er zog den Reißverschluss seiner Tasche so weit auf, dass seine Faust hineinpassen könnte, und kaum hatte er das getan, schob sich ein flauschiger Hundekopf hindurch und bellte ein aufgeregtes kleines Bellen.
Unsicher schaute Credence zu Percival auf, der tatsächlich überrascht schien. “Ein Hund?”, fragte er und sah von dem Welpen zu Credence zurück. “Wo hast du ihn her?”
“Er lief mir vor zwei Tagen über den Weg. Oder ich ihm...”, antwortete Credence mit einem liebevollen Lächeln, das bei seinen nächsten Worten schmerzerfüllt wurde. “Jemand hatte ihn ausgesetzt. Er saß in einem kleinen nassen Pappkarton in einer Gasse. Ich bin hinein gegangen, weil ich... ein wenig Ruhe brauchte...”
Er führte seine Begründung nicht weiter aus. Percival kannte ihn gut genug. Er wusste, dass Menschenmengen Credence anstrengten. Und dass Anstrengungen im schlimmsten Fall zu einem Ausbruch des Obscurus führten. Dass Credence sich eine Auszeit in einer dunklen, ruhigen Gasse nahm, war beinahe Normalität geworden.
“Ich konnte ihn dort nicht einfach zurücklassen”, murmelte Credence kopfschüttelnd, “Er hätte vielleicht nicht überlebt.”
Percival schwieg, während er auf den Hundewelpen hinunterschaute. Dann, als schien er einen Entschluss gefasst zu haben, sagte er: “Komm. Lass uns nach Hause gehen.”
Credence nickte und folgte ihm eilig, während in ihm die Hoffnung wuchs, dass Percival den Welpen akzeptieren würde. Er hatte immerhin nicht von vornherein ausgeschlossen, dass Credence ihn vorerst behielt. Das war ein guter Anfang.
Als sie in die Wohnung eingetreten waren, Percival die Bücher auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte und sie sich aus ihren Wintermänteln schälten, war es noch immer still zwischen ihnen. Credence war sich nicht sicher, ob Percival das Thema noch einmal aufgreifen würde. Zumindest schien er den kleinen Kerl nicht vollkommen abzulehnen, also öffnete Credence die Tasche weiter und holte ihn heraus.
Der Welpe wackelte aufgeregt mit den Schwänzen, gab zwei, drei kleine Winsel- und Bellgeräusche von sich und sprang dann auf seinen kleinen Pfoten durch die Wohnung, um sie zu erkunden.
Percival, der ihnen zugesehen hatte, während er sich die Manschettenknöpfe richtete, schmunzelte bei dem Anblick. “Und du dachtest, ich würde ihn vor die Tür setzen? Hältst du mich für so herzlos?”
“Ich weiß, dass du kein besonderer Freund von Tieren bist”, sagte Credence leise und schlüpfte in seine Hausschuhe.
Percival kam auf ihn zu. “Illegalen Tierwesen, mein Herz. Gegen einen kleinen Cruppy ist nichts einzuwenden, solange dir klar ist, dass du dich gut um ihn kümmern musst.”
Credence nickte, doch dann runzelte er die Stirn. “Was ist ein Cruppy?”, fragte er irritiert. Er hatte so wenig Ahnung von Hunden, dass er nicht alle Rassen kannte.
“Ein genehmigtes Tierwesen”, sagte Percival, ging in die Hocke und hob den kleinen Hund auf, der eben um ihre Beine herumgetollt war. Er hielt ihn vor Credence hin. “Crups sind Zaubererhunde, erkennbar an den gegabelten Schwänzen. Ihre Welpen heißen Cruppys.” Er deutete auf das, was Credence für eine Fehlbildung gehalten hatte und womit der Hund fröhlich wedelte.
“Das ist ein Tierwesen?”, fragte Credence überrascht.
Percival lachte über Credences Verblüffung und setzte den kleinen Cruppy wieder auf den Boden. “Vor einigen Jahrhunderten haben die Zauberer begonnen, Tiere mit Magie zu züchten.” Er runzelte die Stirn. “Nicht sonderlich rücksichtsvoll den Tieren gegenüber. Dabei gab es einige hässliche Unfälle. Deshalb bin ich im Allgemeinen kein Freund von Tierwesen, weil die wenigsten Hexen und Zauberer wissen, wie sie verantwortungsvoll mit ihnen umgehen. Ob nun gezüchtet oder nicht.”
Er seufzte und ging zum Sofa. Credence folgte und ließ sich neben ihm nieder.
“Nun, Crups haben sich von Anfang an großer Beliebtheit erfreut”, erzählte Percival weiter, “Sie gelten als sehr treu und den Zauberern zugetan. Sie erkennen No-Majs und sind ihnen gegenüber misstrauisch eingestellt.” Percival sah Credence dabei zu, wie er den kleinen Cruppy hochhob und auf seinem Schoß absetzte, um ihn zu streicheln. “Wir werden dein Cruppy in der Abteilung zur Regulierung und Kontrolle magischer Kreaturen registrieren lassen. Dort bekommst du eine Lizenz. Und du musst darauf achten, dass du ihn gut erziehst. Wenn es zu Zwischenfällen mit No-Majs kommt, könnte er eingeschläfert werden. Die Haltung eines Crups in einer von No-Majs bewohnten Gegend wie New York ist nicht ganz einfach.”
Credence nickte, während er versuchte, sich alles zu merken. Er hatte damit gerechnet, einen Hundewelpen aufzuziehen. Für diese Tiere gab es kaum Regularien, er wäre nur mit ihm zum Tierarzt gegangen und hätte ihm ein Halsband und Futter besorgt. Aber das hier schien eine Nummer größer. Seltsamerweise machte es das für Credence nur interessanter. Ein Zaubererhund... Ein Hund, der vielleicht selbst magisch war. Das klang großartig.
“Wir gehen morgen zum MACUSA und melden ihn an”, verkündete Percival, “Dann können wir ihn dort auch gleich untersuchen lassen. Schauen, ob er gesund ist und dergleichen.”
Credence nickte eilig. Er stellte fest, dass sich Percival ganz anders verhielt, als er befürchtet hatte. Anstatt Credence zu sagen, er solle den Hund wieder loswerden, weil Tiere nur Dreck machen und zeitraufreibend sind – Zeit, die er während seiner derzeitigen Ausbildung in den magischen Künsten nicht hatte – hatte er das Gegenteil getan. Er hatte den Cruppy sofort akzeptiert, es gar nicht in Frage gestellt, dass er blieb und begonnen, Verantwortung zu übernehmen, obwohl Credence darum nicht gebeten hatte.
Gerührt beugte Credence sich vor. “Danke”, sagte er leise und drückte Percival einen Kuss auf die Lippen.
Er konnte Percival in den Kuss schmunzeln fühlen. “Wenn ich für solche Dinge immer mit Küssen belohnt werde, kannst du gern noch mehr Tierwesen hierherbringen”, schnurrte er, ehe er Anstalten machte, den Kuss zu vertiefen. Doch seine Worte hatten Credence zu sehr begeistert.
“Darf ich?”, fragte er, den Kopf zurückziehend. Er hatte eigentlich schon immer eine Katze haben wollen.
Percival bemerkte seinen Fehler zu spät. Mit einem leisen Lachen sagte er: “Ich hätte die Anzahl deiner neuen pelzigen Freunde wohl von vornherein beschränken sollen.”
Credence nickte grinsend. “Das wäre klüger gewesen.”
Ein leises Geräusch ließ ihn aufhorchen. Der Cruppy hatte sich aus Credences Griff freigemacht und war ihm vom Schoß gesprungen, als Credence Percival geküsst hatte. Nun hatte er offensichtlich die Vorräte entdeckt. Ein Rascheln ertönte aus der Küche.
Credence sprang auf die Füße. “Oh oh”, entwich es ihm in dunkler Vorahnung, als er hinüber ging und den Cruppy auf frischer Tat dabei ertappte, wie er Kekse aus einer Papiertüte stahl, die er aus einem der unteren Regale gezogen hatte.
“Oh nein, die Zimtsterne”, jammerte Credence, eilte hinüber und zog dem Cruppy einen Keksrest aus dem Maul. Eigentlich hatte er sie gebacken, um sie nachher selbst zu essen. Und vermutlich waren Zimtsterne nicht die perfekte Ernährung für Cruppys.
Er verschloss die Tüte sorgfältig, legte sie auf die Anrichte, wo der Cruppy sie nicht würde erreichen können, und kehrte die Krümel zusammen, bevor sie gefressen werden konnten.
“Ich glaube, wir suchen dir erst einmal anständiges Futter”, stellte Credence fest. Sein kleiner Hund kommentierte den Vorschlag mit einem freudigen Bellen.