
Heimlich
Aufmerksam folgte Credence dem Unterricht. Er trug sogar einen Schulumhang, obwohl es nicht von ihm verlangt wurde. Aber es wäre zu schade gewesen, es nicht zu tun, und außerdem konnte er so die Stunden viel besser verleben. Es motivierte ihn.
“Also”, sagte Queenie, die ihm zwei Mal die Woche Haushaltszauber beibrachte und eben vorgeführt hatte, wie man ein Messer dazu brachte, Gemüse zu schneiden. “Versuch es selbst.”
Credence nickte konzentriert und hob seinen Stab. Sie saßen in Percivals Büro, das seit einigen Wochen zu einer Art kleinem Klassenzimmer umgebaut worden war, mit breiter Tafel hinter dem ‘Lehrertisch’ und einem einzelnen Schülertisch, an dem Credence saß. Vor ihm lagen eine Karotte und ein Messer. Er hob den Stab, vollführte die Bewegung wie von Queenie vorgeführt und dachte dabei das Wort. Es wäre einfacher, wenn er es laut aussprechen dürfte. Aber Tina hatte ihm geklärt, dass das nicht ging. Dass man in Amerika vorsichtig sein musste, wenn man ein Zauberer war. Sie hatte es nicht weiter ausführen müssen, Credence hatte es verstanden. Schließlich war er selbst von einer Hexenhasserin aufgezogen worden.
Das Messer setzte sich schlingernd in Bewegung. Zugegeben, die Stücke wurden nicht so fein wie bei Queenie, aber immerhin folgte das Messer Credences Anweisungen.
Ein kleines verspieltes Bellen ertönte. Credence hustete.
“Was war das?”, fragte Queenie und schaute sich irritiert im Raum um.
“Was?”, fragte Credence und hob ahnungslos den Blick vom Messer, “Ich habe gehustet.”
“Nein, da war etwas anderes”, erwiderte Queenie irritiert. Sie spähte umher, konnte die Quelle des Geräuschs aber nicht ausmachen und zuckte dann mit den Schultern. “Wie auch immer. Das sieht doch schon sehr gut aus, Darling.” Sie kam zu Credences Tisch und schenkte ihm ein Lächeln. “Dann zeige ich dir jetzt, wie man etwas kocht.”
Nachdem Credence den Unterricht bei Queenie hinter sich gebracht hatte, waren eine Stunde bei Newt und eine weitere bei Tina gefolgt. Newt brachte ihm die Tierwesen näher und wie er mit ihnen umgehen sollte. Außerdem Kräuterkunde. Tina wiederrum war für Verwandlung, Illusionen und Zaubereigeschichte zuständig. Zu guter Letzt – denn heute war einer der langen Unterrichtstage, an dem er fast acht Stunden in dem kleinen Raum saß - hatte er ein paar Stunden mit Percival. Sie würden mit Verteidigung gegen die dunklen Künste beginnen und dann mit Zaubertränke-Brauen weitermachen. Und obwohl Percival der strengste und forderndste seiner Lehrer war, freute er sich doch auf diesen Unterricht immer besonders. Immerhin hatten sie diese wenigen Stunden nur für sich.
Credence hatte über die vergangenen Wochen nicht nur Fortschritte in allen Bereichen gemacht, sondern das neue Wissen hatte auch sein Selbstbewusstsein gestärkt und dafür gesorgt, dass er sich in seiner Haut, die er sich mit dem Obscurus teilte, immer wohler fühlte.
Er war ein vorbildlicher Schüler, aber heute war er nicht bei der Sache.
Obwohl er versuchte, es zu verstecken und er die anderen damit hatte täuschen können, bemerkte Percival sofort, dass etwas nicht stimmte. Spätestens als Credence beim Zaubertränkebrauen unauffällig die oberste Schublade seines Tisches aufgeschoben und dem Cruppy, der ihm freudig entgegenfiepte, leise zugeflüstert hatte: “Du musst still sein”, wurde Percival hellhörig. Über seinen eigenen Trank gebeugt, den er am Ende gegen den von Credence vergleichen würde, hob er den Kopf.
“Wie war das?”, fragte er verwundert.
Credence, der die Schublade eilig wieder zugeschoben hatte, setzte eine unschuldige Miene auf. “Nichts”, behauptete er, “Ich habe mit mir gesprochen.”
Percival hob die Augenbrauen. “Tatsächlich?”, fragte er und seine offene Verwunderung wandelte sich zu Skepsis. Credence versuchte, seinem Blick so unschuldig wie möglich standzuhalten, während er fürchtete, dass der Ältere ihm bereits auf die Schliche gekommen war.
“Sag, Credence”, begann Percival, der nun langsam auf ihn zutrat und ihn und den Tisch umrundete. “Ich habe deinen Cruppy heute nicht bei Mr. Scamander gesehen, als ich ihn getroffen habe. Ist er denn bei ihm?”
“Sicher”, antwortete Credence eilig – und mit verdächtig höherer Stimme als zuvor. Er fühlte sich ertappt. Percival kannte ihn einfach zu gut. Oder waren es seine Auroren-Sinne, die ihn direkt auf die richtige Fährte geführt hatten?
“Wo ist er wirklich?”, fragte Percival, der mit einigem Abstand hinter Credence stehengeblieben war. Credence konnte fühlen, wie sich der Blick in seinen Nacken brannte. “Ich.... ich weiß nicht. Bei Mr. Scamander, schätze ich”, antwortete er bemüht unbekümmert und tat so, als würde er die Farbe seines Trankes prüfen wollen. Er schaute scheinbar interessiert in den Kessel und dann auf das aufgeschlagene Rezeptbuch daneben.
“Er ist nicht zufällig den ganzen Tag schon hier und lenkt dich vom Unterricht ab?”, fragte Percival und Credence konnte hören, wie seine Schuhe auf dem Boden leise klackten, als er nähertrat. Dann fühlte Credence seine Wärme im Rücken und verschluckte sich an der Luft, die er eben einatmen wollte.
“N-nein”, stammelte er fahrig. Die Hand, die den Löffel hielt, mit dem er den Trank umrührte, zitterte. “Wie kommst du denn darauf?” Credence lachte gezwungen.
“Credence”, grollte Percival hinter ihm und so nah an seinem Ohr führte es dazu, dass sich Credence die Nackenhaare aufstellten. “Du hast ihn doch Mr. Scamander gegeben, damit er tagsüber auf ihn aufpasst, wenn du im Unterricht bist, oder?”
“N-Natürlich”, sagte Credence eilig. Seine Stimme bebte. Er hatte mit Percival vor einigen Tagen, als er ihm eröffnet hatte, dass er einen Cruppy aufgesammelt hatte, ausgemacht, dass er ihn phasenweise abgeben würde, während er im Unterricht saß. Dass er dazu den Kontakt mit Mr. Scamander suchen und ihn einweihen würde. Und dass der Cruppy an diesen Tagen, an denen Credence lange Unterricht hatte, in Mr. Scamanders Koffer lebte, wohlbehütet und in Gesellschaft der anderen Tierwesen.
Aber Credence hatte es nicht über sich gebracht, den kleinen Welpen abzugeben. Er war noch so nervös und schüchtern und fing gerade erst an, sich mit Credence anzufreunden. Es würde ihm sicher Angst machen, schon wieder in einem vollkommen fremden Umfeld zu sein und überdies würde Credence ihn in all der Zeit schrecklich vermissen.
“Wo ist er, Credence?”, fragte Percival nah an Credences Ohr und er erschauderte, als der heiße Atem seinen Nacken traf.
Credence presste die Lippen aufeinander. Percival würde ihn maßregeln, wenn er den Cruppy fand. Natürlich wäre er dabei nicht ansatzweise so rücksichtslos wie Credences ehemalige Ziehmutter. Aber er würde ihm Vernunft einreden wollen und obwohl Credence wusste, dass Percival Recht hatte, wollte er sich dieser Ansicht doch nicht unterordnen.
Während er schwieg, fühlte er, dass Percival ihm eine Hand auf die Hüfte legte und die andere an ihm vorbei streckte. Unter seiner Handfläche zog sich das oberste Schubfach auf.
Es war leer, aber ein kleines, in der Stille gut hörbares, Bellen ertönte.
Credence schluckte.
“Ein Zauber?”, fragte Percival. Er klang nicht so zornig, wie Credence erwartet hatte. Mildes Amüsement schwang in seiner Stimme mit. Er wischte mit der Hand durch die Luft und die Illusion, die den Cruppy unsichtbar gehalten hatte, löste sich auf. Freudig hüpfte er auf und ab, mit den gegabelten Schwänzen wedelnd.
Nun, da der kleine Hund sichtbar war, griff Credence eilig nach ihm und holte ihn aus der Schublade heraus. Er drückte ihn an seine Brust, weil er sich nicht von ihm trennen wollte. Natürlich hatte Percival Recht. Der Cruppy hatte ihn den ganzen Tag über abgelenkt. Aber es war so süß gewesen.
“Credence, sieh mich an”, bat Percival sanft und trat einen Schritt von Credence fort, der sich langsam zu ihm herumdrehte.
Er hielt den Blick weiter auf den Boden gerichtet und kraulte den Cruppy hinter den Ohren.
“Dein Zauber war sehr gut”, hörte er Percival wohlwollend sagen. “Es war weise, keinen Silencio auf ihn zu wirken. Du hättest ihn sonst nicht wiedergefunden, unsichtbar und stumm.”
Credence nickte betreten.
“Aber Credence, das ist keine geeignete Umgebung für einen kleinen Hund”, sagte Percival ruhig.
“Ich weiß”, murmelte Credence. Er sah es ja ein. Es fiel ihm nur so schwer.
“Wirst du morgen mit Mr. Scamander sprechen?”, fragte Percival, der ihm nicht vorzuhalten schien, dass er gelogen hatte.
Credence nickte betrübt.
“Wirklich?”, hakte Percival nach.
“Ja”, sagte Credence leise, “Wirklich.”
Percival kam auf ihn zu, legte ihm eine Hand auf die Wange und küsste ihm die Stirn. “Es ist ja nicht für immer”, erinnerte er ihn, “Nur für die Tage, an denen du keine Zeit für ihn hast. Und wenn dein Unterricht beendet ist, kannst du ihn die ganze Zeit über in deiner Nähe halten.”
Credence schloss die Augen und nickte erneut. Er wusste, was er an Percival hatte. Der Mann machte ihm keinerlei Vorwürfe, war nicht wütend auf ihn oder enttäuscht, weil er ihn mehrfach angelogen hatte. Er war so sanft, dass Credence sich fast sicher war, ein solch nachsichtiges Verhalten nicht verdient zu haben. “Danke”, flüsterte er leise.
Percival antwortete mit einem weiteren Kuss auf seine Stirn. “Und jetzt”, sagte er und löste sanft den Welpen aus Credences Fingern, “Solltest du deinen Trank weiterbrauen, bevor er noch vollkommen zerkocht. Ich kümmere mich in der Zeit um ihn.”
Credence nickte. Er ließ den Cruppy gehen, wandte sich herum und versuchte, sich auf das Rezept zu konzentrieren, während Percival zurück zum Lehrertisch ging, sich auf dem Stuhl dahinter niederließ und den kleinen Hund streichelte.
Es war schwer, dem Trank seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Credences Blick wanderte immer wieder zu Percival und dem Cruppy hin. Bis vorhin hatte er noch geglaubt, dass das niedlichste, das er je gesehen hatte, der Welpe war, der ihn mit großen Augen ansah. Nun musste er feststellen, dass ihn der Anblick Percivals, der mit dem Cruppy kuschelte, fast noch schwacher machte. Er schmunzelte und wandte sich eilig wieder seinem Trank zu, damit Percival ihn nicht dabei ertappte, wie er sie beobachtete – und zog die Bilanz, dass es dafür, dass er sich mit dieser Aktion weit aus dem Fenster gelehnt hatte, am Ende doch ganz gut gelaufen war.