
Chapter 2
Als Eva unten ankam, kochte die Wut in ihr über. Der Dampf, der aus ihr herausplatzte, war fast greifbar. „Was zum Teufel ist hier los?!“ Ihre Stimme zerschnitt die Stille wie ein Peitschenhieb. Augen weiteten sich, Gespräche verstummten. Ein eiskaltes Brennen lag in ihrem Blick.
„Wenn das ein Hoteltester war, dann gnade euch Gott! Was da heute passiert ist, war nichts im Vergleich zu dem, was ich euch noch zeigen werde!“ Ihre Worte hallten von den Wänden wider, scharf wie Glassplitter.
Die Mitarbeiter sahen einander an, als hätten sie eine Sturmwarnung erhalten und wüssten nicht, wo sie Schutz suchen sollten. Aber Eva wollte keine Schutzsuchenden. Sie wollte Bewegung. Veränderung. Und wenn sie dafür alles niederbrennen musste, dann würde sie es tun.
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und marschierte den Flur entlang, ihr Puls hämmerte in ihren Ohren. Draußen schlug ihr die kalte Luft ins Gesicht, als wolle sie ihr die Hitze aus dem Körper treiben. Sie atmete tief ein, doch es reichte nicht, um den brodelnden Druck in ihrer Brust zu dämpfen. Der Wind riss an ihren Haaren, doch sie blieb stehen, ihre Fäuste geballt. Kriegerin, dachte sie. Eine Kriegerin vor der Schlacht. Doch gegen wen kämpfte sie eigentlich?
Sekunden verstrichen. Dann traf die Erkenntnis sie wie ein Faustschlag – sie konnte nicht weglaufen. Nicht vor dem, was sie veränderte. Also drehte sie sich um und stürmte zurück ins Hotel.
Im Büro angekommen, riss sie mit einem Ruck die Bilder von den Wänden. Staub wirbelte auf. Ihre Finger gruben sich in die Rahmen, als könnte sie den Stillstand mit bloßen Händen zerbrechen. Dann schob sie die Möbel zur Seite, als würde sie dadurch die erstarrten Strukturen in ihrem Kopf aufbrechen. Musik donnerte aus den Lautsprechern, laut genug, um die Gedanken zu übertönen – doch es war zwecklos. Die Wut war eine tobende Flut, die alles mit sich riss.
Sie biss die Zähne zusammen. Es musste sich etwas ändern. Jetzt. Sofort.
Da klopfte es an der Tür.
„Was?!“ Evas Stimme war schärfer als beabsichtigt.
Die Tür öffnete sich, und Uli trat ein. Ohne Hast, ohne Zögern. Sie hielt einen Bestellzettel in der Hand. „Ich bräuchte eine Unterschrift für die Bestellung der nächsten Woche.“
Eva riss ihr das Brett aus der Hand, ihre Augen verengten sich beim Lesen der Zahlen. „Wird ja auch immer teurer“, murmelte sie, die Wut noch immer in jeder Faser ihres Körpers spürbar.
„So ist das, wenn man Qualität haben will“, sagte Uli ruhig. Doch ihr Tonfall trug einen Unterton – eine Herausforderung, kaum hörbar, aber unübersehbar.
Eva hob den Blick. Ihre Augen funkelten. „Ich bin mir sicher, dass man im Großhandel auch gutes Fleisch bekommt.“
Uli trat einen Schritt näher, und plötzlich fühlte sich der Raum enger an. Ihr Lächeln war schmal, fast spöttisch. „Okay“, sagte sie leise. „Dann kommen Sie doch mit.“ Sie hielt ihrem Blick stand. „Ich zeige Ihnen den Unterschied.“
Eva funkelte Uli an. „Meinen Sie, ich sitze hier den ganzen Tag herum und habe nichts zu tun?“ Ihr Ärger schwelte, ein brodelnder Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
Uli ließ sich nicht beirren. Ihre Stimme blieb ruhig, doch jedes Wort war ein gezielter Schlag. „Nun ja, wenn ich mich hier umschaue, dann ja.“ Sie ließ den Blick langsam durch das Büro schweifen – die verrückten Möbel, die schief hängenden Bilder, die leeren Wände, in denen sich nichts außer Frust und Stillstand spiegelte. „Wenn es Ihnen wichtiger ist, die Dekoration umzustellen, als sich um die Qualität des Fleisches und Fisches zu kümmern, dann sollten Sie vielleicht überlegen, ob dieser Job überhaupt noch der richtige für Sie ist.“
Eva spürte, wie etwas in ihr riss. Ein unsichtbarer Schnitt, tief unter der Haut. Sie biss die Zähne zusammen, doch die Worte waren bereits vergiftet in ihre Gedanken eingesickert. „Ganz dünnes Eis, Frau Kersting“, zischte sie.
Doch Uli wich nicht zurück. Ihre Augen funkelten herausfordernd. „Wenn es Ihnen so wichtig ist, dann kommen Sie mit. Wir fahren jetzt zum Großhandel.“
Eva verschränkte die Arme. „Wenn sich der Weg nicht lohnt, ist wirklich was los!“
Uli lachte leise, ein Klang, der mehr Spott als Belustigung in sich trug. „Vielleicht hilft es ja, wenn Sie mal wieder etwas bessere Laune bekommen.“ Mit einer lässigen Bewegung öffnete sie die Tür. „Kommen Sie. Wir fahren los.“
Eva knirschte mit den Zähnen. „Sie haben ein großes Mundwerk, Frau Kersting!“
Uli drehte sich noch einmal um und sah ihr direkt in die Augen. Ihre Stimme war nun leise, aber jedes Wort hatte das Gewicht eines Vorschlaghammers. „Also, Frau de Vries, so wie Sie heute mit den Mitarbeitern umgehen, wundert mich nichts mehr. Sie schreien jeden an – für nichts. Dann kritisieren Sie mein Essen, das köstlich schmeckt. Und das Schlimmste? Sie entschuldigen sich bei niemandem. Sie denken wirklich, dass Sie mit jedem so umgehen können?“
Evas Wut erreichte ihren Höhepunkt. Ihr Herz raste. „Wie bitte?! Wollen Sie mich den ganzen Weg zum Großhandel beleidigen? Dann fahre ich lieber nicht mit!“
Uli trat näher. Ihre Stimme senkte sich auf ein gefährlich ruhiges Level. „Steigen Sie ein und widersprechen Sie mir nicht.“
Eva wollte protestieren, doch Uli schnitt ihr das Wort ab. „Wenn Sie jetzt nichts Nettes zu sagen haben, dann schweigen Sie bitte einfach.“
Eva schnaubte. „Unfassbar.“ Doch schließlich setzte sie sich auf den Beifahrersitz, knallte die Tür zu und verschränkte die Arme.
Als Ablenkung schaltete sie das Radio an, doch Uli griff sofort nach dem Knopf und stellte es aus. „Ich möchte, dass Sie Ihren Gedanken zuhören. Nicht der Musik.“
Eva verdrehte die Augen, drehte sich beleidigt zur Fensterseite und starrte hinaus. Der Weg zog sich endlos hin.
Als sie schließlich ankamen, sprang Uli aus dem Wagen. „Kommen Sie, wir kaufen sowieso nichts hier.“
Eva stöhnte genervt, folgte aber. Die Fleischabteilung roch nach kaltem Blut und Konservierungsmitteln. Uli griff nach einem Stück Fleisch, hielt es ins Licht.
„Sehen Sie das? Die Sehnen, die verhärteten Muskeln? Das Tier hatte Stress. Und das wird man schmecken.“
Eva verschränkte die Arme. „Na und?“
Uli sah sie herausfordernd an. „Na und? Sie sind doch immer diejenige, die behauptet, dass Qualität das Wichtigste ist.“
Eva seufzte genervt. „Wahrscheinlich würde ich selbst nicht schmecken, so viel Stress, wie ich mir mache.“
Uli grinste. „Endlich sagen Sie mal was Wahres! Aber wissen Sie was? Wir nehmen ein Stück mit. Ich mache es Ihnen später, und Sie entscheiden, welches besser schmeckt.“
Eva gab keinen Kommentar dazu ab. Doch als sie den Fischbereich betraten, blieb sie abrupt stehen. Der Gestank nach altem Wasser und moderndem Fleisch schlug ihr entgegen. Sie konnte fast spüren, wie Ungeziefer in den Regalen hockte.
Uli beobachtete sie still. „Ich bin stolz auf Sie“, sagte sie schließlich. „Sie haben etwas eingesehen.“
Eva warf ihr einen genervten Blick zu. „Ja, ja. Sie haben gewonnen.“
Nachdem sie den Biohof erreicht hatten, fuhr Uli den Wagen langsam auf das weitläufige Gelände. Die weite Landschaft, die sanften Hügel und die riesigen Wiesen, auf denen Tiere in freier Wildbahn grasten, strahlten eine Ruhe aus, die Eva für einen Moment innehalten ließ. Ohne ein Wort zu sagen, stieg sie aus und sog die frische, klare Luft ein. Uli beobachtete sie einen Moment, dann ging sie mit festen Schritten in Richtung Kuhstall.
„Sehen Sie das?“, fragte sie und deutete auf die großen Tiere, die gemächlich in einem sauberen Stall standen und ruhig auf die Wiesen blickten.
Eva runzelte die Stirn. „Ich sehe Kühe in einem Stall“, erwiderte sie trocken.
Uli schüttelte den Kopf. „Falsch, Frau de Vries. Das sind Rinder, die tatsächlich auf die Wiese dürfen. Sie entscheiden selbst, wann sie drinnen oder draußen sind. Kein Gedränge, keine Massentierhaltung – sie leben so, wie es für sie am besten ist.“ Stolz lag in ihrer Stimme, als sie die Tiere betrachtete.
Eva schwieg. Der Gedanke, dass es in der Fleischproduktion tatsächlich Unterschiede gab, hatte sie nie wirklich beschäftigt. Doch jetzt, wo sie es sah – es fühlte sich anders an. Echtes Leben. Echte Verantwortung.
„Das ist…“, begann sie, wusste aber nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Stattdessen schüttelte sie langsam den Kopf.
Uli bemerkte den Moment der Erkenntnis und legte sanft eine Hand auf Evas Arm. „Kommen Sie. Ich zeige Ihnen noch etwas.“
Ehe Eva reagieren konnte, griff Uli nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Ihr Griff war bestimmt, doch nicht grob, und für einen Moment durchzuckte Eva ein unerwartetes Gefühl – Irritation, vielleicht sogar ein Funken Nervosität.
Als sie den Schweinestall betraten, hielt Eva abrupt inne.
„Mein Gott, sind die niedlich!“, hauchte sie, als ihr Blick auf die kleinen, quiekenden Ferkel fiel. Ihre Augen leuchteten auf, während sie ein besonders winziges Exemplar in der Ecke des Stalls betrachtete.
Uli lächelte. Ohne zu zögern, hob sie das Ferkel auf und legte es Eva vorsichtig in die Arme.
„Ich kann das nicht“, protestierte Eva sofort, doch ihre Finger umschlossen bereits instinktiv das kleine, warme Wesen.
„Doch, Sie können“, erwiderte Uli leise.
Eva spürte das sanfte Gewicht des Ferkels, sein warmes, leicht zitterndes Atmen, das vertrauensvolle Quieken. Ihre Finger glitten zögernd über das weiche Fell. Ihr Herz schlug schneller, und für einen Moment war da nur dieses kleine Leben in ihren Armen.
Dann lächelte sie – kein spöttisches Grinsen, kein abfälliges Zucken der Mundwinkel. Ein echtes, sanftes Lächeln.
„Schönes Leben noch, kleines Baby“, flüsterte sie und hauchte dem Ferkel einen Kuss auf die Stirn.
Uli beobachtete sie genau. Etwas in Eva veränderte sich. Etwas, das lange verborgen gewesen war. Ein Funke, eine Erkenntnis, vielleicht sogar eine Emotion, die sie sich selbst nicht eingestehen wollte.
Lautlos zog Uli ihr Handy hervor und machte ein Foto.
Eva bemerkte es nicht. Sie war versunken in den Moment.
Dann blinzelte sie und räusperte sich, als wolle sie die plötzliche Nähe zu diesem Gefühl wieder abschütteln. „Ich muss das mitnehmen, bevor es in deiner Pfanne landet“, scherzte sie, doch ihre Stimme war weicher als sonst.
Uli lachte. „Am besten noch in deinem Zimmer, oder? Stell es dir vor – die Mitarbeiter würden sich sicher freuen, den ganzen Mist wegzumachen.“
Eva lachte mit, schüttelte aber den Kopf. „Aber daraus darf man doch kein Schnitzel machen“, sagte sie dann leise und blickte auf das kleine Wesen in ihren Armen.
Uli nickte, strich dem Ferkel sanft über den Kopf. „Genau deshalb kostet gutes Fleisch mehr. Weil die Tiere nicht nur Ware sind. Sie leben hier, haben ihre Familien, ihre Freiheit. Und das schmeckt man.“
Eva hob langsam den Blick und sah Uli direkt in die Augen. Es war, als würde sich ein unsichtbares Band zwischen ihnen spannen, ein unausgesprochenes Verstehen, das weder Worte noch Argumente brauchte.
Sie schluckte. „Ich verstehe“, flüsterte sie.
Uli hielt ihrem Blick stand, dann nickte sie zufrieden. „Setzen Sie es zurück“, sagte sie sanft.
Mit einem Hauch von Wehmut drückte Eva das Ferkel ein letztes Mal an sich. „Tschüss, kleines Baby“, murmelte sie und setzte es vorsichtig auf den Boden.
Das Ferkel quiekte leise und tapste davon. Doch als es sich umdrehte, zierte ein winziger, rosa Lippenstiftabdruck seinen Kopf.
Uli grinste. „Ähm… dein Lippenstift ist verschmiert.“
Eva fuhr sich mit den Fingern über die Lippen. „Besser so?“, fragte sie und blickte Uli mit einem leicht unsicheren Ausdruck an.
Uli zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und trat näher. Sie hob die Hand, um Eva sanft die verschmierten Spuren wegzuwischen, doch in dem Moment schloss Eva reflexartig ihre Finger um Ulis Handgelenk.
Für eine Sekunde standen sie sich näher, als sie es gewohnt waren.
Evas Blick war fragend, aber nicht abweisend. Ulis Atem war ruhig, doch ihre Augen funkelten herausfordernd.
„Was wird das?“, flüsterte Eva.
Uli ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann, mit einem leichten Lächeln, das mehr sagte, als Worte es je könnten, erwiderte sie leise:
„Was glauben Sie denn?“