
Ein unverhoffter Ausflug
Harry Potter rang nach Luft. Er hatte gerade die Geschichte mit dem Tod gelesen - Zauberer schienen wohl irgendeine merkwürdige Obsession mit ihm zu haben - als ganz plötzlich eine Stimme und Licht aus dem Nichts erschienen war. Und dann war da dieser alte Mann und das unsichtbare Ding hatte ihn gepackt und hier her gebracht. Dadurch wurde Harry so übel, dass er aktuell auf allen Vieren auf der Pflasterstraße saß. Oder vielleicht eher lag. Eine Person tauchte neben ihm aus dem Nichts auf und er merkte, wie sich etwas in seiner Kehle zu lösen schien, was nichts mit seiner Übelkeit zu tun hatte. Könnte er seinen Umhang schnell genug los werden, um weg zu rennen? Er war eigentlich immer sehr schnell gewesen, aber die Person, die ihn hier her gebracht hatte war ganz sicher magisch. Wie könnte er sich da schon wehren. Er spürte das Holster mit seinem Zauberstab an seinem rechten Unterarm. Als ihn ein weiterer Hustenanfall überkam versuchte er heimlich den Stab in seine Hand gleiten zu lassen. Nichts passierte. Also anders. Mit einem Schwung richtete sich Harry auf und zog mit der linken Hand den Stab aus den Holster und richtete ihn auf die dunkle Gestalt neben ihm. Er konnte gerade noch erkennen, dass er den Stab dadurch natürlich falsch herum gehalten hatte, als er sich auch schon wieder auf seinem Hintern wieder fand. Sein Zauberstab war verschwunden.
„Wie ist dein Name?“
Harry blickte auf. Ein Stab war auf ihn gerichtet. Bedrohlich nahe an seinem Gesicht. Da erkannte er, wer ihn hielt.
„Professor Snape?“, fragte er ungläubig.
„Wohl kaum. Zweiter Versuch. Wie ist dein Name?“, schnarrte der Professor.
„Ich bin Harry Potter. Professor, wir waren heute zusammen in der Winkelgasse.“
Harry versuchte sich aufzurichten. Vielleicht war der Professor ja verrückt und hatte deshalb immer so miserable Laune.
„Sitzen bleiben. Harry Potter ist Rechtshänder“, schnarrte der Professor und schob seinen Zauberstab gegen Harrys Brust. Eine Pistole wäre eindrucksvoller, stellte Harry fest.
„Warum warst du nicht im Haus?“
„Ich… Sir. Was soll das hier?“
„Antworte“, sagte er bedrohlich und einige Funken schossen aus dem Zauberstab und hinterließen kleine Rußflecken auf dem neuen Umhang. Gut, doch bedrohlich.
„Weil ich nicht rein gekommen bin, okay? Also wenn sie mich jetzt bitte wieder zurück bringen könnten und mir diese verdammte Tür öffnen könnten…“
„Wie lautet der Mädchenname deiner Mutter?“, fragte Snape abrupt.
„Ich… Ich weiß nicht. Warum fragen sie mich das?“
„Nächste Frage. Welches Symbol befindet sich auf dem Potter Verließ.“
„Ein Dreieck und ein runder Edelstein, meinen Sie das?“
„Was waren die ersten Worte, die ich an dich gerichtet habe?“
„Es war auf jeden Fall kein höffliches Hallo, damit haben sie es ja scheinbar nicht so. Ich werde keine Fragen mehr beantworten, wenn Sie mir nicht sofort sagen, was hier ab geht!“
Snape schien anders als heute Mittag. Diesen Ausbruch hätte er ihn in der Winkelgasse nicht durchgehen lassen. Doch statt ihm eine Standpauke zu geben kniete er sich ebenfalls hin und starrte Harry in die Augen.
„Dann eben anders. Legilimens.“
Vor Harrys Augen erschienen Ausschnitte des Tages. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Als ob er einem Film zusehen konnte und dennoch war es in seinem Kopf. Das Verließ der Potter erschien. Das gruselige Märchenbuch. Er streichelte Hedwig. Er schrieb Hagrid den Brief. Dann das Treffen vor einigen Tagen. Er im Schrank, wie er das Gespräch zwischen Snape und Onkel und Tante belauschte. Onkel Vernon zerrte ihn heraus. Onkel Vernon, wie er ihn nach dem Vorfall mit der Boa einschloss. Eine Bratpfanne traf ihn an der Stirn. Ein Spielzeugflugzeug von Dudley flog ihm aus der Hand und kreiste durch das Wohnzimmer. Harry war in der Spielzeugkiste eingesperrt. Dudley saß darauf. Freak. Die Erinnerungsbruchstücke rasten an ihm vorbei. Er konnte sie kaum noch greifen. Erinnerungen, von denen er teilweise nicht mal mehr wusste, dass er sie besaß. Ein Motorrad. Das grüne Licht, das ihn manchmal aus dem Schlaf riss.
„Potter“, spuckte Snape aus.
Harry merkte, dass er sich erneut übergeben hatte. Direkt vor die Füße des Professors.
„Auch schon bemerkt“, sagte er matt und wischte sich den Mund an seinem Umhang ab. Vielleicht hatten die Dursleys Recht gehabt. Ein Haufen Verrückter. Er wünschte sich in seinen Schrank zurück. Er war nur noch müde.
„Wir gehen nach Hogwarts, Potter“, sagte Snape angewidert.
Mit einem Schwung seines Zauberstabs verschwand die Sauerei, die Harry dort hinterlassen hatte. Na, das war ja mal wirklich praktisch.
„Ich dachte ich sollte erst am ersten September in die Schule kommen. Sie sind einen Monat zu früh befürchte ich, Sir.“
„Sparen Sie sich Ihre Witze, Potter. Es ist niemand hier, der sie lustig finden könnte.“
Harry wollte schon wiedersprechen, doch die Miene des Professors hielt ihn davon ab. Sie schien noch grimmiger zu sein, als sie heute schon den ganzen Tag über gewesen war. Vor einigen Stunden hätte er das nicht für möglich gehalten.
„Schon gut“, murmelte er und rappelte sich auf.
„Wir nehmen das Flohnetzwerk im Eberkopf. Mitkommen.“
Harry folgte, wenn auch schwankend. Im Pub saßen vereinzelt noch Gäste und der Wirt schien bereits auf sie gewartet zu haben.
„Albus hat mich informiert. Ist er es?“
„Er ist es. Ich bringe ihn nach Hogwarts.“
„Ich werde es Albus ausrichten. Nehmt den Kamin oben.“
Severus nickte knapp und rauschte zu den Stufen hinter der Theke. Sein schwarzer Umhang bauschte sich dramatisch dabei auf. Harry musste zugeben, dass das ziemlich cool aussah. Wie lange musste er wohl mit seinem Umhang herum laufen, bis es sich nicht mehr bei jeden zweiten Schritt um seine Beine schlingen würde.
Das prominenteste in dem kleinen Raum über der Schenke war ein großer Kamin. Darüber hing ein großes Bild eines Mädchens das ihnen zulächelte. Harry war gerade noch damit beschäftigt schockiert zu sein, dass sich das Portrait bewegte, da fand er sich schon inmitten von grünen Flammen im Kamin wieder.
„Severus Snapes Büro, Hogwarts“, sagte Snape mit fester Stimme und die Welt begann sich abermals um Harry zu drehen.
„Uncool“, stöhnte er.
Er wurde auf einen Stuhl gedrückt. Gut, dass sein Magen inzwischen leer war. Ihm wurde etwas kaltes in die Hand gedrückt und er öffnete unwillig die Augen.
Er war in einem dunklen Raum gelandet. Nur Fackeln an den Wänden erleuchteten ihn und warfen gruselige Schatten über die fragwürde Dekoration. Hohe Regale waren über und über mit Gläsern gefüllt. Darin schwammen widerliche Dinge umher. Eine Wand war voller Bücher, die wenigstens nicht ganz so gruselig waren, solange man nicht auf die Titel achtete. Vor ihm stand ein großer Schreibtisch und Snape machte sich an einer Vitrine dahinter zu schaffen.
„Was ist das?“, fragte Harry und beäugte das Glas, das er in die Hand gedrückt bekommen hatte.
„Ein bisschen spät um jetzt misstrauisch zu werden, oder Potter?“
Harry wiedersprach nicht, aber roch zunächst vorsichtig an dem Getränk. Roch nach nichts.
„Wo bin ich denn?“, fragte Harry.
„Das ist mein Büro“, schnarrte Snape, weiterhin mit den gruseligen Gläsern in der Vitrine beschäftigt.
„Tut mir leid für Sie“, sagte Harry und nahm rasch einen Schluck aus dem Glas in der Hoffnung, dass der Professor ihn nicht gehört hatte. Schmeckte nach Wasser. Gut.
„Hatten Sie schon immer einen so leicht reizbaren Magen?“, fragte Snape sachlich.
„Ähm… nein. Eigentlich nicht, Sir.“
Er konnte sich nicht erinnern, ob er sich davor schon jemals übergeben hatte. Aber heute war ihm schon vor seiner Entführung hier her etwas flau im Magen gewesen. Die Aufregung und die ganzen Süßigkeiten, die er noch nie essen durfte – schon gar nicht in diesen Mengen. Dazu kam natürlich noch, dass die Zaubererwelt dachte, dass ein gutes Transportmittel sich so anfühlen musste, wie sich Harry eine Achterbahnfahrt vorstellte. Den Fahrenden Ritter und die Gringottsbahn würde Harry aber jederzeit dem Teleportieren und den grünen Flammen vorziehen.
„Nehmen Sie das. Das wird Ihnen bei der Übelkeit helfen“, sagte Snape und reichte ihm eine kleine Viole mit hellblauer Flüssigkeit.
Harry entkorkte sie und stürzte sie unzeremoniell herunter. Mit einem hatte Snape recht. Jetzt war es wirklich schon zu spät, um misstrauisch zu werden und er war außerdem viel zu müde dafür. Fast sofort breitete sich ein wohliges Gefühl in seinem Magen aus und er seufzte.
„Danke“, murmelte er und Snape nahm ihm die leere Flasche wieder ab.
Gläser klirrten und Harry wartete was als nächstes passierte. Doch Snape setze sich nur auf die andere Seite seines Schreibtisches und zog einige Papiere daraus hervor. Nach einiger Zeit nahm er eine Feder und schrieb damit. Beeindruckt sah ihm Harry dabei zu. Eines der Extra Bücher, die er heute gekauft hatte erklärte, wie man mit Tinte und Feder umgehen sollte. Aber Harry war nicht klar, warum er nicht einfach seinen Füller aus der Schule oder Buntstifte nutzen konnte. Aber wie Snape da in seinem Gruselkeller saß, fragte er sich, ob die Zauberer das für die Ästhetik taten. Genau wie die unpraktischen Umhänge. Die waren zumindest warm. Es vergingen weitere schweigende Minuten und Harry wurde unruhig.
„Professor?“
Snape sah nicht auf. Konnte er es wagen ihn zu unterbrechen? Vernon wurde immer furchtbar wütend, wenn er ihn beim Zeitungslesen unterbrach und Schreiben schien für Harry in die selbe Kategorie zu fallen. Eine weitere Minute ging vorbei. Nur das Kratzen der Feder war zu hören.
„Sir, könnten Sie mir bitte erklären, wieso ich hier bin?“, platze es aus Harry heraus.
Snape bedeutete ihm zu schweigen. Er setzte mit einem Schwung eine Unterschrift auf das Papier und tippte es mit dem Zauberstab an. Es faltete sich, steckte sich selbst in einen Umschlag, versiegelte sich und verschwand mit einem leisen Plopp. Kaum war er verschwunden starrte ihn Snape eindringlich an. Seine Augen waren gruselig dunkel. Zu dunkel, fast schwarz. Harry erinnerte sich was vorhin passiert war, als sie sich so angestarrt hatten und tat so, als ob er die Buchrücken ganz plötzlich furchtbar interessant fand. Höchst Potente Zaubertränke. Ew. Der Fleck auf dem Einband sah definitiv nach Blut aus.
„Potter. Wann hast du erfahren, dass du ein Zauberer bist?“, fragte der Professor.
Harry rutschte unruhig auf seinem Sitz umher. Er konnte mit den ganzen merkwürdigen Fragen nichts anfangen und sein Hirn war gefühlt sowieso schon durchgekocht vom heutigen Tag.
„Das haben Sie mir gesagt, wissen Sie nicht mehr?“
„Ich bin davon ausgegangen, dass du es schon wusstest“, korrigierte ihn Snape.
„Deine Tante und dein Onkel, haben es dir nicht gesagt?“
Harry schnaubte.
„Nein. Naja schon. Also ich wusste schon, dass ich ein… das ich anders bin. Aber ich wusste nicht, dass das Magie ist.“
Snape starrte ihn durchdringend an. Ein vollständiger Band der Heilkräuter Nordirlands und ihrer Anwendungen. Nett.
„Professor. Können Sie mich bitte einfach nach Hause bringen?“, fragte er leise.
„Das wird leider nicht möglich sein, Potter.“
Opioide in der Medizin. Dieses sah überraschend normal aus.
„Warum?“, fragte er Harry etwas genervter, als er es gewollt hatte.
Wenn er nicht bald Antworten bekam oder zumindest in sein Bett durfte, dann würde er noch platzen.
„Ich habe Hinweise darauf, dass es nicht sicher für dich ist dich dort aufzuhalten.“
Harry zuckte zusammen. Er hatte den verdacht gehabt, dass der Professor die Erinnerungen auch gesehen hatte. Als ob die dunklen Augen sie aus ihm herausgesogen hatten. Er würde so Ärger von Vernon bekommen, wenn der herausfand, was er dem Professor alles erzählt hatte. Ihn würde es nicht interessieren, dass er es nicht mit Absicht gemacht hatte. Seine Sachen konnte er nach dem Tag auf jeden Fall wieder aus seinem neuen Zimmer holen. Aber der Professor hatte erst in seinen Gedanken rumgewühlt nachdem er ihn von Little Whinging entführt hatte. Hatte Harry in seinem Brief an Hagrid etwas falsches erwähnt oder vielleicht heute in der Winkelgasse?
„Hör auf damit“, sagte Severus unvermittelt.
Harry sah ihn mit großen Augen an und wollte schon nachfragen, was er meinte, als Severus auf sein Bein zeigte. Harry stoppte sofort das nervöse Tippen. Er hatte es gar nicht bemerkt. Auch so etwas, das Onkel Vernon an ihm hasste. Es war oft genug Grund dafür gewesen, dass Harry ohne Abendessen vom Esstisch verschwinden musste.
„Ich verstehe immer noch nicht…“, setzte Harry erneut an, als ein riesiger silbriger Vogel durch die Wand in den Raum geflogen kam.
„Alles sicher. Alles geklärt. In meinem Büro in zehn Minuten“, schien eine tiefe Stimme aus dem Tier selbst zu kommen. Dann verschwand es.
„Das soll dir der Schulleiter selbst erklären“, sagte Severus und stand auf.
„Wirst du eine weitere Reise mit Flohpulver überstehen, ohne dich im Büro des Schulleiters übergeben zu müssen?“, schnarrte Snape.
Er schien zu bemerken, dass Harry keine Ahnung hatte, was er von ihm wollte und zeigte auf dem Kamin. Die grünen Flammen!
„Oh, verdammt, nein!“, sagte Harry, als er begriff.
„Dann werden wir in das Büro des Schulleiters laufen und du wirst dabei schweigen“, sagte Snape und stürmte los.
Im dritten Stockwerk bereute Harry bereits seine Entscheidung. Die Portraits beäugten sie neugierig, doch er konnte sich nur auf die Stufen konzentrieren und darauf Snape hinterher zu keuchen. Im fünften Stockwerk hörte Harry auf zu zählen. Snapes Beine waren fast so lange, wie Harry groß war. Er hatte Schwierigkeiten hinterher zu kommen. Als er das Gefühl hatte, dass seine Übelkeit wieder in ihm hochstieg, wollte er sich schon beschweren, da blieben sie endlich stehen.
„Scherbert Zitrone“, sagte Snape zu einem Wasserspeier und kurze Zeit standen Sie im Büro des Schulleiters. Doch sie waren nicht die einzigen dort. Hagrid und Hedwig fielen Harry als erstes in den Blick. Hinter einem imposanten Schreibtisch saß ein alter Mann mit langen weißen Haaren und davor stand eine Frau mit einem grünen Spitzhut. Auf einer Stange saß der große Vogel, der ihnen gerade die Nachricht gebracht hatte. Nur dieses mal in Farbe. Und alle versammelten starrten ihn erwartungsvoll an. Harry konnte ein seufzen nicht unterdrücken.