
Das Waisenhaus
Vorwort:
Diese Fanfiction Story enthält einige Abweichungen in der Timeline. Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn Tom heutzutage aufwachsen würde und zur Generation Z gehören würde. Harry Potter und seine Freunde und einige weitere Charaktere, die ich relevant finde, habe ich ebenfalls in unsere Generation gepackt. Einige andere Charaktere bleiben aber in einer anderen Generation oder entfallen. Es wurden aber auch einige Charaktere und Fakten hinzuerfunden. Die Waisenkinder habe ich, da es heutzutage in der westlichen Welt etwas aktueller ist, zu Sozialwaisen anstatt zu Vollwaisen gemacht. So viel zur Verständniserleichterung vorab. Viel Spaß beim Lesen!
An einem kühlen, regnerischen Spätnachmittag am Anfang der Sommerferien saß Tom mal wieder alleine draußen auf der Wiese am Wool’s Orphanage und wartete auf Jeanette. Manch ein Muggel würde vielleicht denken, Jeanette sei ein hübsches Mädchen, welches er gerne treffen würde, aber in Wahrheit war Jeanette eine Ringelnatter. Tom hatte sie zum ersten Mal entdeckt, als er sich vor dem zwei Jahre älteren Billy Stubbs und seinen teilweise noch älteren Freunden in Sicherheit gebracht hatte. In Waisenhäusern konnte es durchaus vorkommen, dass die älteren Kinder die jüngeren schikanierten und Tom gab durch seine gewissen Auffälligkeiten ein großes Ziel für sie ab. In seiner Nähe passierten seltsame Dinge, wenn er über irgendetwas traurig oder extrem wütend war. Letzteres kam ziemlich häufig vor. Aufgrund der unerklärbaren Dinge, die in seiner Nähe passierten, würden die einen Kinder vielleicht sagen, er sei seltsam. Er jedoch war der Ansicht, er sei, wenn man es positiv formulierte, etwas ganz Besonderes. Manche der Kinder bewunderten ihn auch aufgrund seiner Fähigkeiten, unerklärbare Dinge geschehen zu lassen und waren der Ansicht, er sei vielleicht ein Elf oder so etwas in der Art. Die kleine Clarissa fand, seine Schönheit gliche auf jeden Fall der eines Elfen. Clarissa war Amy Bensons jüngere Halbschwester und bewunderte ihn sehr. Er war fünf Jahre älter als sie und als die Bensons ihrer drogenabhängigen, alleinerziehenden Mutter weggenommen worden waren, war Clarissa gerade einmal zarte zwei Jahre alt gewesen. Damals hatte er ab und an den Auftrag erhalten, auf die Kleine aufzupassen. Seitdem war Clarissa sein größter Fan.
Bereits als kleines Kind hatte sie immer mit ihrer winzigen Hand seinen Zeigefinger umklammert und war ihm überallhin gefolgt. Fast hatte er den Eindruck, sie sah ihn so ein bisschen als ihren älteren Bruder an. Ansonsten war er noch mit Amy Benson und Dennis Bishop befreundet, oder eher verbündet, aber das waren auch seine einzigen Verbündeten. Die einen Kinder waren ihm zu alt und die anderen Kinder zu jung und unter den Gleichaltrigen polarisierte er sehr. Dennis, der auch mit ihm in eine Klasse ging, fand seine speziellen Fähigkeiten bewundernswert, aber es gab auch viele Kinder, die nicht glaubten, dass er zaubern konnte und die seltsamen Dinge, die ganz zufällig in seiner Nähe geschahen, als Humbug oder Einbildung abstempelten und es gab Kinder, die glaubten, dass diese Geschehnisse durch Tom verursacht wurden und ihn dafür verachteten. Die Erwachsenen hielten auch nicht sonderlich viel von ihm. Einmal hatte er mitbekommen, wie sich eine junge Auszubildende mit einer Erzieherin über ihn unterhalten hatte und ihn als Spinner tituliert hatte. Mrs Sweeney, eine ältere, streng katholische Erzieherin mit irischen Wurzeln, die noch mit den Sagen über die Fae, Zauberer und Hexen großgeworden und überzeugte Anhängerin der Hexenverbrennung war, glaubte, dass er zaubern konnte und raunte oft genug: „Leute wie ihn sollte man heutzutage immer noch auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Er ist eine Gefahr für die Menschheit. Magie ist ein Werk des Teufels. Dieser Junge ist der Satan höchstpersönlich. Mir war schon seine Mutter nicht geheuer.“ Sie hielten ihn immer für so naiv, dass er all dies nicht mitbekam, doch da täuschten sie sich. Er hatte Ohren wie ein Luchs und hörte jedes böse Wort über ihn und seine Mutter, welches sie einander zuflüsterten. Seine Mutter hatte ihn über eine anonyme Geburt abgegeben und war direkt nach der Geburt gestorben, keiner wusste, wer sie war, aber alle lästerten über ihr Auftreten und Erscheinungsbild.
Wenn Billy Stubbs ihn ärgern wollte, sagte er ihm, dass einer seiner älteren Freunde gesehen hatte, wie hässlich seine Mutter gewesen sei. „Chris hat gesehen, dass sie kaum Haare auf dem Kopf hatte. Und die waren superverfilzt, Digga. Ich schwör, ich hab gelesen, dass Haarausfall über den Großvater mütterlicherseits vererbt wird. Das bedeutet, wenn du Mitte zwanzig bist, wirst du sicher auch einmal so beschissen aussehen, Freak.“ Billy und seine Freunde johlten. „Ach was, das tust du ja jetzt schon!“, fügte Billy hinzu. „Nimm das zurück!“, zischte Tom daraufhin und packte Billy am Kragen seines T-Shirts. Dadurch, dass Tom für sein Alter groß gewachsen war, waren sie einander an Größe und körperlicher Kraft nahezu ebenbürtig. „Mitnichten“, entgegnete Billy kühl. „Du hast meine Mutter beleidigt, du verdammtes Schwein!“, knurrte Tom und leierte bewusst Billys T-Shirt aus. „Wirst du wohl mein T-Shirt loslassen!“, Billy entriss Tom den Zipfel seines T-Shirts. „Das wirst du büßen. Außerdem ist deine Mutter sowieso schon tot. Die kriegt das gar nicht mehr mit, wenn ich sie als hässlich bezeichne.“ Billy krempelte sich seine Ärmel hoch. „Prügelei, Prügelei!“, feuerten die anderen Jungen die beiden an. Tom dachte nach. Eine simple Prügelei wäre unter seiner Würde gewesen. Stattdessen würde er ihnen eine bessere Show abliefern. In dem breiten, verlassenen Gang, in dem sie standen, befand sich in Billys Nähe ein Regal mit einem Globus im obersten Fach. Tom wusste aus Erfahrung, dass er irgendwie Dinge bewegen konnte, ohne sie zu berühren. Also ließ er den Globus, der etwas größer als ein menschlicher Schädel war, auf Billys Kopf hinunterkrachen. Tom grinste leicht, während Billy vor Schreck und vor Schmerz aufschrie. „Was ist hier los?“, Mrs Cole, eine ungefähr Ende-Zwanzig-jährige Erzieherin und Leiterin des Wool’s Orphanage musste unbemerkt den Gang entlanggeschlichen sein. „Nun ja, wir hatten, sagen wir mal, eine kleine kontroverse Diskussion und dann hat Tom mir den Globus an den Kopf geworfen“, log Billy so halbwegs. Tom hatte ihm den Globus ja schließlich nicht an den Kopf geworfen. Er hatte nur irgendwie dafür gesorgt, dass der Globus ein wenig ins Wanken geriet, was zwar denselben Effekt hatte, aber egal. Doch Billys Freunde stimmten ihm zu, sodass Billy im Recht dastand. Heiße Wut brodelte in Tom. Billy hatte seine Mutter und ihn beleidigt! Das würde Rache geben, beschloss er. Und mit dieser Rache musste er Billy an einer Stelle treffen, wo es ihm richtig wehtat, so wie Billy ihn auch an einer äußerst schmerzhaften Stelle getroffen hatte.
Seine Mutter war, wie bei vielen Kindern, ein sehr verletzlicher Punkt bei ihm. Kein Kind hörte es gerne, wenn jemand seine Mutter beleidigte und erst recht nicht, wenn man sie auf solch eine furchtbare Art und Weise verloren hatte, wie er. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, seine Mutter kennenzulernen. Und seinen Vater auch nicht. Erneut fühlte er eine Mischung aus Verzweiflung, glühend heißem Zorn und dem unstillbaren Wunsch nach Rache. Also überlegte er sich, wie er Billy am besten eins reinwürgen könnte. Er musste irgendjemanden attackieren, den Billy so richtig liebte, so wie Billy es auch bei ihm getan hatte. Er dachte nach. Billys Freunde waren für Billy eher Publikum oder Verbündete. Mit ihnen hatte er keine sonderlich tiefe seelische Verbindung. Er konnte mit ihnen zwar Spaß haben, indem er sich gemeinsam mit ihnen auf Kosten jüngerer Kinder amüsierte, aber er konnte mit ihnen nicht über seine Probleme sprechen und ließ sie nicht sonderlich viel an seinem Privatleben teilhaben. Aber es gab ein Lebewesen auf dieser Welt, welches Billy abgöttisch liebte: seinen Hasen. Clarissa hatte Tom erzählt, dass sie Billy mal alleine mit seinem Hasen hatte schmusen sehen. Er hatte wohl geweint, denn auch er kam aus einem problematischen Umfeld. Sein Vater hatte seine Mutter vor seinen Augen erstochen und saß nun im Gefängnis. Billy war aufgrund dieses Ereignisses und der eigenen Hilflosigkeit, seiner Mutter irgendwie beizustehen und diese vor dem Tod zu bewahren, hochgradig traumatisiert und musste getriggert worden sein, denn er weinte maßlos und sein Hase war sein einziger Halt. Tom grinste böse in sich hinein und fühlte absolute Genugtuung bei dem Gedanken daran, Billy diesen einzigen Halt unwiederbringlich zu zerstören. Also heckte er einen Plan aus: Weil Tiere ihm sonderbarerweise gehorchten, ohne dass er sie hätte trainieren müssen, würde er Billys Hasen irgendwie dazu bringen, zum Dachbalken hochzuklettern, an dem er vorher mithilfe seiner magischen Kräfte eine Schlinge befestigt hätte. Dann müsste er den Hasen nur noch dazu bewegen, mit dem Kopf durch die Schlinge zu gehen. So gut, wie er seine magischen Kräfte bereits kontrollieren konnte, dafür, dass es ihm nie jemand beigebracht hatte, war das eine der der einfachsten Aufgaben für ihn. Es war also Zeit, seinen finsteren und seiner Ansicht nach zugleich extrem genialen Plan in die Tat umzusetzen!
Tom, der während des Ausheckens seines teuflischen Planes ziellos durch die Gänge gestreift war, machte sich nun auf den Weg, Billys Hasen und ein Seil ausfindig zu machen. Zunächst schlug er den Weg in Richtung von Billys Zimmer ein. Auf einmal kam ihm Clarissa entgegen. „Toooommmmmyyyyyyyy!“, rief sie, „Spielst du mit mir?“ Tom ärgerte sich maßlos. Warum musste diese verdammte Göre ausgerechnet jetzt auftauchen, wenn er sie am wenigsten gebrauchen konnte? Wenn er sagen würde, er hätte noch was vor, dann würde er sich ja gleich verdächtig machen. Er bezweifelte, dass ein kleines Mädchen wie Clarissa ein Geheimnis für sich behalten konnte. Er blickte auf seine winzige, gebrauchte Armbanduhr, deren Glas ursprünglich voller Risse war, welches er jedoch mithilfe seiner Kräfte repariert hatte. Es war später Nachmittag und wenn Clarissa im Spielrausch war, dann dauerte es meist zwei bis drei Stunden. Seine schnelle Rache konnte er sich also abschminken. Aber Rache wird am besten kalt serviert, weshalb er sich kurzerhand dazu entschloss, diese am nächsten Tag umzusetzen. „Du kennst die Bedingungen“, sagte er also nach einer gefühlten Ewigkeit zu Clarissa. Clarissa nickte und zog eine Ritterfigur aus ihrer kleinen Umhängetasche. Er hatte mit ihr nämlich einen Deal abgeschlossen. Tom war kein sonderlich selbstloser und sozialer Mensch, der seine wertvolle Zeit mit der jüngeren Halbschwester seiner besten Freundin, die eigentlich praktisch auch nur ein jüngerer weiblicher Fan war, mit welcher er sich aus Mitleid abgab, verschwendete. Er war schließlich kein Babysitter. Das konnten ruhig die Erzieherinnen des Kinderheims übernehmen. Dafür wurden sie schließlich bezahlt. Also musste Clarissa, wenn er ihr ein paar Stunden seines Tages schenkte, ihm im Gegenzug jedes Mal eine ihrer Spielsachen schenken. Manchmal regte sich ein äußerst schwacher, rudimentärer Anflug eines schlechten Gewissens in ihm, dass er einfach kleine Kinder abzockte, aber er rechtfertigte diese Aktion mit seiner Vorstellung von Gerechtigkeit.
Amy und Clarissa bekamen ab und zu von ihrer Mutter oder ihrer Tante Spielsachen ihrer Wahl geschenkt und durften zumindest die Weihnachtstage bei ihrer ursprünglichen Familie verbringen, er hingegen wurde nie von irgendwem besucht und erhielt auch keine Spielsachen, obwohl er sie seiner Ansicht nach mindestens genauso sehr verdient hätte, wenn nicht sogar mehr. Also rechtfertigte er seinen erpresserischen Deal mit der Ansicht, er sei so etwas wie Robin Hood, der all die Reichtümer an diejenigen verteilte, die gar nichts hatten. Also praktisch ihn selbst. Er nahm die Ritterfigur in die Hände. Die Ritterfigur hatte ein sehr schönes grünes Wappen mit einem silbernen Kreuz darauf und trug eine silberne Lanze in ihrer Hand. Sie war wirklich wie für ihn gemacht, denn Silber und Grün waren seine absoluten Lieblingsfarben. „Es ist eine sehr schöne Figur“, sagte er und beugte sich zu Clarissa herab, „Das nächste Mal besorgst du mir ein Pferd, verstanden?“ Clarissa nickte erneut. „Okay, dann komme ich mit in dein Zimmer.“ Clarissa hatte extrem sorgfältig ein Feenschloss aufgebaut. Der Feenkönig hatte lange, platinblonde Haare, ein spitzes Kinn und spitze Ohren. Seine Tochter trug ein feines, seidenes Kleid und teilte ihr Aussehen größtenteils mit ihrem Vater, jedoch schimmerten ihre Haare goldener. „Die Ritter müssen das Feenschloss angreifen“, teilte Clarissa ihm mit, „Sie wollen die Feenprinzessin entführen. Spielst du auch noch die Feenkönigin, ich habe sie dir letztes Mal geschenkt.“ „Ich muss sie noch aus meinem Zimmer holen, warte kurz.“
Genervt rannte er zurück zu seinem Zimmer und holte gleich die ganze Kiste mit seinen abgezockten Spielfiguren. Er war ein zehnjähriger Junge und wurde in wenigen Monaten elf Jahre alt und hatte ganz sicher keine Lust mehr darauf, mit einer Fünfjährigen jedes Mal mit dem Feenschloss zu spielen. Eine Ritterburg mit Kanonen, die jedoch gar nichts gegen einen bösen Zauberer brachten, wäre eher nach seinem Geschmack gewesen. Das Abknöpfen von Clarissas hochwertigen Spielfiguren sah er dann also auch ein Stück weit als berechtigte Entschädigung dafür an, sich immer nach den Wünschen einer kleinen Fünfjährigen richten zu müssen. Wenigstens konnte er ihr ab und zu im Voraus sagen, was sie sich von ihrer Tante oder ihrer Mutter wünschen sollte, damit sie es dann ihm schenken konnte. Nachdem er die Kiste mit den Spielfiguren geholt hatte, beeilte er sich, wieder in Clarissas Zimmer zu kommen, bevor die Kleine ungeduldig wurde. Als er in den Gang abbog, in dem ihr Zimmer lag, hörte er durch die leicht geöffnete Tür, dass Clarissa bereits angefangen hatte, ein Selbstgespräch zu führen, welches wohl einen Dialog zwischen dem Feenkönig und der Feenprinzessin darstellen sollte. „Papa, ich fürchte mich, bald kommen die Menschen und wollen die magische Welt erobern und zerstören“, fiepte Clarissa mit hoher, verstellter Stimme. „Buh!“, Tom trat durch die Tür und nahm den Ritter mit dem grünen Wappen. Clarissa fing an, filmreif zu kreischen und Tom verzog leicht sein Gesicht. Äußerst unangenehm, er hasste extrem laute, schrille Geräusche dieser Art. Also musste er Abhilfe schaffen, um nicht endgültig die Nerven zu verlieren und nahm die wunderschöne Feenkönigin mit dichten, dunkelroten Locken und einem grünsilbernen Kleid. „Nicht doch, nicht doch, die Mama passt auf dich auf“, er stellte die Figur in das Kinderzimmer im Feenschloss. „Kannst du denn auch gut genug zaubern, um eine ganze Armee abzuwehren?“, Clarissa verstellte immer noch ihre Stimme und Tom musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen. „Das weiß ich nicht“, sagte Tom aka die Feenkönigin. Falls sich irgendjemand fragen sollte, warum er sich als total straighter Junge explizit eine weibliche Figur gewünscht hatte, so muss eine kleine Backgroundinformation her. Bevor er einige äußerst erleuchtende Beschreibungen zur Optik seiner Mutter vernommen hatte, hatte er sich seine Mutter so vorgestellt, wie Clarissas Spielfigur, weshalb er diese unbedingt haben wollte. Seine weiteren Figuren waren jedoch männliche Idole für ihn.
Vor ein paar Monaten konnte er Clarissa dazu bringen, ihm eine Figur von einem dunklen Magier zu schenken. Dieser trug einen schwarzen Umhang und eine silberne Kristallkugel und schaute ausgesprochen finster drein. Das hatte Tom von Anfang an vorzüglich gefallen. Aus diesem Grund wollte er seine persönliche Lieblingsfigur unbedingt in das Spiel miteinbauen, damit es wenigstens ein bisschen nach seinem Geschmack gestaltet wurde. Mit Grabesstimme raunte er: „Doch was niemand wusste, war, dass die Ritter nicht von den Menschen geschickt worden waren. Ein böser Zauberer, der ein Cousin des Feenkönigs war, hatte von ihren Gedanken Besitz ergriffen und sie für sich in den Krieg geschickt und mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Sie hatten einen Schutzbann, der sie gegen jegliche magische Attacken unverwundbar machte.“ Er sah, wie Clarissa zitterte und dann leichenblass wurde. „Ich spiele nicht mehr mit, ich habe Angst“, wisperte sie und ihr standen Tränen in den Augen. Und das war der Grund, weshalb Tom lieber mit Dennis spielte, falls er selbst überhaupt einmal Lust dazu hatte, sein Zimmer zu verlassen und etwas mit anderen zu machen. Dennis war ein Junge seines Alters und kniff nicht sofort, sobald in einem Spiel mal ein ernstzunehmender Gegner auftauchte. Im Gemeinschaftsraum gab es eine große Ritterburg, die allen zur Verfügung stand. Dort spielten Tom und Dennis mit ihren eigenen Figuren, denn es gab sonst nur blöde Playmobilfiguren. Im Gegensatz zu Clarissa liebte Dennis die Herausforderung, sich Wege auszudenken, vermeintlich unbesiegbare Gegner auszuschalten, auch wenn es noch so unmöglich erschien. Aber Tom beschloss, gnädig zu sein und Clarissa zu erleuchten. Voldemort war halt schon immer ein gnädiger Lord, hehe.
„Verlier nicht den Mut, edle Königstochter“, munterte er sie immer noch mithilfe der Feenkönigin auf, „Immun gegen unsere Magie zu sein, heißt nicht, dass wir die Ritter nicht mithilfe von roher Gewalt besiegen können. Sieh hin, da kommen sie. Wir müssen unsere Möbel auf sie werfen!“ Kleine Kinder konnten halt eben noch nicht so gut um die Ecke denken. Nach Toms bahnbrechendem Impuls hellte sich Clarissas Gesicht jedoch schlagartig auf. „Das ist eine gute Idee!“, rief sie begeistert, „Ich spiele doch wieder mit.“ Ging doch. Also kickten sie die Möbel mit ihren Fingern durch die Fenster nach draußen und Tom ließ die Ritter mit theatralischen Schmerzensschreien zu Boden fallen. „Hilfe, warum hat unser düsterer Magier uns nicht vor der Gewalt der Sterblichen gewarnt“, schrie er, als sein neuer Ritter vom imaginären Pferd herabfiel. Clarissa kringelte sich vor Lachen, doch zu einfach sollte der Sieg für die Feen nicht werden. Nun musste der Jackpot her. Insgeheim freute sich Tom darauf, in die Rolle des bösen Zauberers zu schlüpfen und einen beeindruckenden Schurkenmonolog zu halten. „Nicht schlecht, nicht schlecht“, spottete der finstere Lord mit der silbernen Kristallkugel, „Aber mir und meiner Magie seid ihr mit eurer rohen Gewalt nicht gewachsen. Du, mein geliebter Cousin, mein Feenkönig… Du hast mir meinen Posten streitig gemacht. ICH werde die Herrschaft über die magische Welt übernehmen, ICH ganz alleine. Und wenn ihr nicht kuschen wollt, muss ich euch leider umbringen. Wobei… Was heißt hier leider?“, Tom lachte irre, „Eigentlich bereitet es mir sogar ein extremes Vergnügen, euch endlich um die Ecke zu bringen. MUHAHAHAHAHA“ Clarissa zuckte zusammen. Sie nahm die Figur der Feenprinzessin und drückte sie fest an sich. Dann wendete sie die Figur der Feenkönigin zu. „Mama“, wimmerte sie mit verstellter Stimme, „Was sollen wir jetzt tun, wenn er Papa angreift?“ „Ja, geliebte Ehefrau“, sagte Clarissa als Feenkönig, „Wir brauchen deinen Rat. Wie können wir ihn besiegen?“ „Mich könnt ihr nicht besiegen“, lachte der finstere Lord.
Um Clarissa nicht vollends gegen sich aufzubringen und sich die Chance auf das Pferd für seinen Ritter zu verderben, beschloss Tom, mithilfe der Königin preiszugeben, wie man seinen liebgewonnenen dunklen Lord besiegen konnte. „Seine Kristallkugel verleiht ihm die Fähigkeit, schwarze Magie auszuüben. Die gute Magie hat ihn nämlich schon längst verlassen. Wir müssen die Kugel vernichten“, raunte die Königin ihrer Tochter zu. „Du bist die beste Mama“, die Feenprinzessin drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Ein Anflug von Trauer ereilte Tom. Er stellte sich vor, er wäre an der Stelle der Feenprinzessin. Er wäre ein magischer Prinz, der seiner Mutter einen Kuss auf die Wange drückt und ihr sagt, sie sei die beste Mutter der Welt. Ach hätte er diese Erfahrung doch nur machen können! Auf einmal fühlte er sich unfassbar leer. Wie gerne hätte er seine Eltern auch kennengelernt. Er fragte sich außerdem, ob vielleicht eines seiner Elternteile auch magisch war wie er. Wenn ja, welches Elternteil? Bei seiner Mutter ging er eher weniger davon aus, weil hätte sie nicht sonst etwas gegen ihren Tod unternehmen können? Standen Zauberern und Hexen oder Feen und Elfen nicht irgendwie Möglichkeiten offen, ihr Leben nach Lust und Laune zu verlängern? Dass sie nicht mehr leben wollen könnte, wagte er zu bezweifeln. Sie stand doch anscheinend mitten im Leben und erwartete ein Kind, oder? Er vermutete, dass sein Vater vielleicht zaubern konnte, vielleicht war er aus einer anderen Welt und war dort ein König und hatte deshalb keine Möglichkeit, ihn in der Menschenwelt zu besuchen. Oder war er vielleicht auch verstorben? Oder hatten sich seine Eltern etwa vorher getrennt? Tom hatte viele Fragen und auch viele offene Wunden bezüglich seiner Vergangenheit.
Er hatte alles schon von klein auf verloren, was ihm lieb und wichtig gewesen wäre. Erneut fühlte er die Wut auf Billy Stubbs, der einfach seine Mutter und auch ihn selbst aufs Äußerste beleidigt hatte. Wie schade, dass er mit seiner Rache bis zum nächsten Tag warten musste! Allerdings hatte er durch den unabsichtlich ausgelösten Trigger auch keine Lust mehr, mit Clarissa zu spielen. Er raffte seine Figuren zusammen und lief mit großen, hastigen Schritten aus Clarissas Zimmer. Tränen liefen ihm über das Gesicht und er hoffte inständig, dass ihn niemand so sehen würde. Vor allem nicht Billy Stubbs. Clarissa war ihm hinterhergerannt und klammerte sich an seinen Arm. „Tommy, was ist los?“, jammerte sie, „Du hast mir versprochen, mit mir zu spielen. Warum gehst du jetzt einfach?“ „Lass mich in Ruhe, Clarissa!“, er entriss ihr den Arm, „Ich will alleine sein.“ „Ich habe aber gar nichts gemacht. Du bist gemein!“, nörgelte sie. Konnte diese Kleine ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Sie würde all das nicht verstehen. Er verstand sich teilweise nicht einmal selbst und konnte auch mit anderen nicht über seine Gefühle sprechen. Er fühlte sich jetzt gerade einfach unglaublich leer und zerrissen und niemand konnte ihm helfen, dass dieses Gefühl wieder verschwand. Erst recht keine Fünfjährige, die ihn unterbewusst durch eine simple Kussszene zwischen einer Tochter und ihrer Mutter getriggert hatte. Außerdem hatte Clarissa wenigstens eine Mutter, die sie zwar selten sah, aber die existierte und mit der sie sprechen konnte, die sie umarmen konnte, die sie so halbwegs kannte. Ihn ergriff auch eine unfassbare Wut und ganz viel Neid auf Clarissa und er musste sich sehr zusammenreißen, all seine Wut und seinen Frust nicht an ihr rauszulassen. Er beschloss, gnädig zu sein und sie einfach nur zu ignorieren.
Vielleicht könnte er ja mit Amy reden. Ihr Zimmer lag schließlich auch auf dem Weg und sie war meistens sehr verständnisvoll, beziehungsweise widersprach ihm nie und war grundsätzlich seiner Meinung, egal zu welchem Thema. Clarissa war ihm gefolgt. „Warum gehst du jetzt zu Amy? Darf ich mitkommen?“ „Nein, darfst du nicht.“ „Du weinst ja.“ „Nein!“, blaffte Tom. „Doch, ich habe es genau gesehen!“, schmollte Clarissa. Dieses Mädchen war anstrengend! „Halt die Schnauze, oder du wirst es bereuen!“ „Bin ich schuld daran?“, sie sah ihn mit ihren großen, grauen Augen an. „Teilweise. Ne, eigentlich nicht direkt“, antwortete Tom einsilbig. „Hast du mich noch lieb?“, fragte Clarissa mit Tränen in den Augen, „Und spielst du morgen wieder mit mir, auch wenn ich noch kein Pferd habe?“ „Zur ersten Frage: Ja. Zur zweiten Frage: Meinetwegen. Wenn du mich für heute in Ruhe lässt.“ Natürlich mochte Tom sie in Wahrheit kein bisschen, aber er hätte sogar geschworen, ein Hobbit zu sein, einfach nur, damit Clarissa endlich ihren Mund hielt und ihn nicht mehr nervte. „Also auch ja“, jubelte sie und hüpfte fröhlich davon, „Bis morgen!“ „Aber erst nachmittags!“, rief er ihr hinterher. Dann stand er am nächsten Tag ganz schön unter Zeitdruck. Ach, was soll’s. Er würde alles dafür tun, dass er ungestört mit Amy reden und sich in seiner Meinung bestätigen lassen könnte, ohne dass ihre jüngere Halbschwester die ganze Zeit dazwischenfunkte, dumme Fragen stellte und eventuell widersprach.
Also klopfte er an Amys Tür. Aus Amys Tür drang Call me maybe. Die Musik bemerkte er erst jetzt, als Clarissa ihn nicht mehr ablenkte und er schloss daraus, dass Amy gerade mal wieder mit irgendwelchen Beauty Treatments oder Sportübungen beschäftigt sein musste. Seit sie neun Jahre alt war, verhielt sie sich irgendwie anders, als er sie mit sechs Jahren kennengelernt hatte. Sie war ein Jahr jünger als er und ging in die Klasse unter ihm, hatte aber wie ihre Schwester beschlossen, sein größter Fan zu sein, seit sie im Wool’s Orphanage lebte. Alle Kinder und Jugendliche aus dem Kinderheim gingen auf die Schule in ihrem Viertel. Als Amy und Clarissa neu ins Waisenhaus gekommen waren, hatte er Amy als eher unscheinbares Mädchen kennengelernt, aber seit ihren neuen Angewohnheiten, hegte er die Sorge, dass sie sich allmählich zur Tussi entwickeln könnte. So, wie er Amy kannte, hörte sie mittlerweile meist Musik und las nebenbei, während sie sich eine Maske auftrug, deren Anblick unglaublich schmerzhaft für seine Augen war, oder sie trainierte in ihren Radlershorts und ihrem dazu passenden Sport BH fürs Turnen und Ballett, was sie beides leidenschaftlich betrieb. Praktisch die klassischen Hobbys eines It-Girls. Beides waren Tätigkeiten, bei denen er ihr eigentlich nicht zusehen wollte und er bereute seine Entscheidung, so voreilig bei ihr angeklopft zu haben.
Doch es war zu spät. Die Musik verstummte und die Tür öffnete sich. Amy hatte auf ihr diamantförmiges, weich geschnittenes Gesicht eine blau glitzernde Put-on-peel-off-Maske aufgetragen, mit welcher sie in Kombination mit ihren blonden Haaren aussah wie die Schlumpfine. Sie trug einen blauweiß gestreiften Bademantel, welcher tief ausgeschnitten war, wie es leider bei fast allen Bademänteln der Fall war, und hatte ihre Haare, die offen knapp über ihre Schulter reichten, zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden. Leicht verstört von ihrem Anblick machte er einen Schritt zurück. Sie hatte sich wirklich und wahrhaftig zu einer Tussi entwickelt. „Hey, Tom, tut mir leid, dass ich dich so empfangen muss, ich war leider nicht auf deinen Besuch vorbereitet. Aber du kannst gerne hereinkommen“, sie machte eine einladende Geste. Zögerlich betrat er ihr Zimmer, welches nach einem süßlichen Parfüm duftete. Eine Katastrophe. Die Erzieherinnen sagten zwar immer, es sei nicht unüblich, dass sich Jungen und Mädchen ihrer Altersspanne ein wenig voneinander distanzierten, aber nie hätte er das für möglich gehalten, dass ihm das mal mit seinem größten Fan passieren würde. Er fühlte sich, als wäre er in einer schlechten Soap gelandet, obwohl er eigentlich nur vorhatte, mit Amy über sein aktuelles Problem zu sprechen. „Äh, wo kann ich mich hinsetzen?“, fragte er. „Oh, entschuldige“, hastig nahm Amy die Vogue von ihrem Bett und faltete die Bettdecke ordentlich zusammen. „Nimm Platz“, sie zog ihren rollbaren Schreibtischstuhl in die Mitte des Raumes und setzte sich ihm gegenüber und faltete ihre Hände vor ihrem Bauch zusammen. Sie musterte sein Gesicht und war bestürzt. „Oh Gott, Tom, hast du geweint?“, wollte sie wissen. Mist! Er wollte sich als Junge keine Blöße geben. „Jungs weinen nicht“, knurrte er. „Nun gut, du machst also einen auf starken Mann“, sie drehte sich einmal mit ihrem Schreibtischstuhl, was eine ihrer lästigen Angewohnheiten war, wenn sie unter Anspannung stand oder nicht so recht wusste, wie sie auf etwas reagieren sollte, was ziemlich häufig der Fall war. Tom hielt sie für ein wenig minderbemittelt, was ihren Verstand anbelangte. „Ich tu nicht nur so, ich bin ein starker Mann!“, blaffte er sie an, „Was fällt dir ein, so mit mir zu reden?“ „Es tut mir leid, war nicht böse gemeint. Mir kannst du aber ruhig alles erzählen und selbst wenn du geweint hättest…“ „Hätte, hätte Fahrradkette, kannst du nicht mal den Rand halten und mir zuhören, anstatt mich zuzutexten?“, fuhr Tom sie an und sie zuckte zusammen. „Tut mir wirklich leid. Was ist denn überhaupt passiert?“, fragte sie mit niedergeschlagenem Blick.
Das war die Einladung für Tom, endlich selbst einen Monolog zu halten, in der Hoffnung, dass Amy ihm dann einfach bestätigte, was er dachte. „Womit soll ich anfangen? Als erstes hat Billy Stubbs, dieser Vollidiot, meine Mutter beleidigt. Das geht gar nicht. Ich hasse diesen Jungen aus den Tiefen meines Herzens“, Tom ballte die Fäuste und heiße Wut ergriff ihn, „Zweitens hat mich deine kleine Schwester beim Spielen getriggert. Sie… Sie hat die Feenprinzessin ihrer Mutter einen Kuss geben lassen und… und… und dann hat sie gesagt: ‚Du bist die beste Mama.‘ Ich hasse diese blöde Kuh dafür, sie ist so ein Trampeltier und ich könnte ihr echt den Hals umdrehen!“ Er drehte sich weg, damit sie ihn nicht weinen sah. Er, Tom Riddle, durfte keine Schwäche vor einem kleinen Mädchen zeigen. Das wäre das Erniedrigendste überhaupt für ihn. „Oh Gott… Das ist wirklich ärgerlich und traurig, ich kann dich total gut verstehen!“, Amy rollte zu ihm hin, beugte sich zu ihm herüber und umarmte ihn. Tom erstarrte.
Eventuell wollte sie einfach nur anteilnehmend sein, aber hätte sie es nicht einfach dabei belassen können, ihm zu sagen, dass sie ganz seiner Meinung war? Zögerlich umarmte er sie zurück, um sich die Gunst seines Fangirls nicht gänzlich zu verspielen, sein Gesicht hatte er immer noch zur Seite gedreht, damit sie ihn nicht weinen sah. Sie strich ihm über den Rücken. Irgendwie empfand er es als verstörend, ihr körperlich nahe zu sein, ohne es initiiert zu haben, sie war einfach solch ein aufdringliches und klammerndes Groupie! Dementsprechend war er sehr erleichtert, als ihre Umarmung ein Ende fand, sie wieder ein Stück abrückte und sich mehrmals im Kreis drehte, während sie nachdachte. „Aaallllsssssooo“, sagte sie gedehnt, „Zu Billy… Er ist einfach ein Blödmann, ein absoluter Versager. Was der über deine Mutter sagt, solltest du dir echt nicht zu Herzen nehmen. Ich finde es absolut unreif und dumm von ihm, dass er, obwohl er seine Mutter selbst auf tragische Art und Weise verloren hat, nichts Besseres zu tun hat, als die Mütter anderer Kinder zu beleidigen. Zu Clarissa… Weißt du, das hat was mit unserer Mama zu tun. Sie wünscht sich insgeheim, dass sie jemals solch ein liebevolles Verhältnis zu unserer Mutter gehabt hätte.“ Amy hatte ihm bis jetzt nicht viel zu ihrer Mutter erzählt und er hatte es auch vermieden, sie nach Details zu fragen, warum sie ins Waisenhaus gekommen war und irgendwie hatte ihr Leben ihn auch nicht sonderlich interessiert, da er sie schlicht und ergreifend langweilig fand und sie außerdem nicht zaubern konnte. Als sie ins Waisenhaus gekommen war, waren seine Kräfte gerade erwacht und er hatte alle Hände voll damit zu tun gehabt, herauszufinden, wie er seine Kräfte am besten zu seinem eigenen Vorteil gegenüber den nervtötenden älteren Kindern nutzen konnte. Er drehte sich zu Amy hin.
„Darf ich die genaue Backgroundstory wissen?“, erkundigte er sich vorsichtig und heuchelte Interesse, obwohl es ihm eigentlich nur um seine eigenen Belange ging. „Vielleicht kann ich dann besser verstehen, warum Clarissa so unsensibel direkt vor mir eine Szene mit der Mutter spielt, obwohl sie weiß, dass ich nie das Glück hatte, eine Mutter zu haben.“ „Tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber in unserem Fall ist es echt kein Glück“, sie rieb sich die Stirn und schaute verdutzt auf die Krümel ihrer Peel-off-Maske. Dieses Mädchen war einfach eine Katastrophe, so nervös und zerstreut, wie sie immer war. „Ah, Mist“, sie rieb ihre Hand an ihrem Bademantel ab und drehte sich erneut im Kreis. Tom wunderte sich, dass ihr nicht schon längst schwindelig geworden war, so oft, wie sie sich drehte, wenn sie unruhig war. „Du weißt ja, unsere Mutter ist drogenabhängig. Kokainabhängig. Sie…“, Amy schluchzte, „Sie war immer so depressiv, häufig auch aggressiv… Sie war so unberechenbar…“ Verstört sah Amy ins Leere. „Ich wollte dich nicht triggern…“, Tom schaute sie reumütig an. „Passt schon, ich wollte dir das alles schon längst einmal erzählen“, schniefte Amy, „Mal wollte sie vor unseren Augen aus dem Fenster springen, mal hat sie Flaschen nach uns geworfen… Siehst du diese Narbe?“ Amy zog wie in Trance ihren Bademantel von ihrer Schulter und ihr schien es egal zu sein, wie viel Haut sie zeigte. Tom sah zu Boden. So viel von ihr zu sehen und so vertraut mit ihr zu sein, war ihm unangenehm. „Sieh, hier an der Schulter“, Amy deutete auf die breite, fleischige, rosa Narbe, die sich von ihrer Schulter über ihren Oberarm zog. Tom sah kurz auf, fixierte jedoch wieder den Boden, nachdem er Amys Narbe betrachtet hatte. „Das war von der Glasscherbe. Aber das war noch nicht das Schlimmste“, sie drehte sich erneut und schlang ihren Bademantel feste um sich. „Das SCHLIMMSTE war, wie sie sich das Geld für den Stoff beschaffen musste… Dadurch sind wir entstanden… Mama wollte uns gar nicht haben… Ich… Ich bin ein Unfall“, schluchzte sie und wischte sich die Tränen und unzählige Krümel ihrer Maske mit ihrem Handrücken ab.
Interessant… Tom konnte sich einiges zusammenreimen. Amys Mutter war eine Prostituierte. Und Amy und ihre Schwester waren also die Kinder, die von zwei völlig unbekannten Freiern gezeugt worden waren. „Mama hat uns nicht geliebt. Zumindest nicht wirklich. Klar, wir sind ihre Kinder und zu Weihnachten reißt sie sich ab und zu zusammen und gibt sich Mühe, halbwegs freundlich zu uns zu sein. Um ihre Anflüge eines schlechten Gewissens zu betäuben, legt sie manchmal mit unserer Tante zusammen, um uns ein paar Geschenke zu machen, aber das war’s auch schon. Und Clarissa ist einfach noch zu klein, um zu verstehen, wo die wunden Punkte von anderen liegen und darauf Rücksicht zu nehmen. Sie sieht nur ihre eigenen Probleme. Und davon hat sie für ihr Alter schon viel zu viele. Zudem verschwinden irgendwie immer Spielfiguren, die der einzige Liebesbeweis unserer Mutter sind. Aber ich kriege einfach nicht aus ihr heraus, wohin sie verschwunden sind. Wenn ich die Person erwische, die ihr die Spielfiguren klaut…“ Amy ballte die Faust. Er war leicht überrascht, dass Amy auch so aggressiv sein konnte, da sie ansonsten immer so ruhig und eingeschüchtert war. Wahrscheinlich traute sie sich nicht, diese Seite vorneherum auszuleben und ahnte nicht, dass sie gerade mit dem Dieb höchstpersönlich sprach. Tom setzte sein Pokerface auf. Er konnte Emotionen sehr gut verbergen und niemand sah im an, ob er log oder nicht. Auch Amy nahm ihm seine Unschuldsmiene ab. „Ich tippe auf Billy oder Chris, die einfach Spaß daran haben, andere zu quälen“, überlegte Amy und in ihrer Stimme schwang pure Verachtung mit, die eigentlich Tom galt und ihm rann ein leichter Schauer über den Rücken.
Zugleich ärgerte er sich maßlos über Amys Respektlosigkeit, welche sie hintenherum an den Tag legte. Die Abzocke musste unbedingt sein Geheimnis bleiben, meinetwegen könnte er Billy und Chris beschuldigen. Keine schlechte Idee. Wenn Dennis und Tom mit Clarissas Spielfiguren spielten, achteten sie darauf, dass niemand sie dabei beobachtete. Dennis erzählte Amy nichts davon, weil Tom ihm damit gedroht hatte, dass er sonst nie wieder mit den Figuren spielen dürfte und Tom außerdem mithilfe seiner Magie schreckliche Dinge passieren lassen würde. Also parierte Dennis und schwieg wie ein Grab. „Wahrscheinlich nutzen diese kleinen, hinterhältigen Biester die Spielsachen nicht einmal für sich selbst, sondern nehmen sie Clarissa einfach nur weg, um ihre Macht zu demonstrieren“, regte sich Amy weiter auf. „Kann sein“, kommentierte Tom lapidar. Seiner Ansicht nach schlug ihr Gespräch eine komplett falsche Richtung ein und seine Wut auf diese dumme Zicke wuchs ins Unermessliche. Auch Amy schien das zu bemerken. „Tut mir echt leid, ich bin so durch den Wind. Eigentlich wollte ich ja für dich da sein, aber stattdessen jammere ich dich nur über Clarissas und meine Probleme voll. Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“, sie drehte sich in seine Richtung. Wie recht sie damit hatte! Es gab nichts Langweiligeres für Tom, als den Problemen eines jüngeren Mädchens zuhören zu müssen. „Danke, aber passt schon. Das mit Clarissa kann ich jetzt besser verstehen.“ „Ja. Aber wenn sie so unachtsam ist, wie es für Fünfjährige leider typisch ist, musst du auch nicht mit ihr spielen, wenn du nicht willst. Ich frage mich, warum du überhaupt so viel Zeit mit ihr verbringst, wenn nicht einmal ich, ihre Halbschwester, mich wirklich für sie verantwortlich fühle und mich auch nur mit meinen Mädels, euch älteren Jungs oder mit meinen Modemagazinen beschäftige“, Amy sah ihn aus ihren grauen Augen an. „Ach, irgendwie ist sie ja schon manchmal süß“, log Tom eiskalt und bemühte sich, seinen Blick aufrechtzuerhalten. Ihm ging es eigentlich einzig und allein darum, überhaupt einmal eigene Spielsachen zu besitzen. Clarissa interessierte ihn nicht sonderlich. Ein bisschen mochte er sie zwar schon dafür, wie sehr sie ihn bewunderte, aber warum sollte ein zehn-, fast elfjähriger, vorpubertierender Junge Zeit mit einer Erstklässlerin verbringen, wenn sie ihm nicht zu irgendetwas nützlich sein könnte? Auf diese Frage fiel ihm keine Antwort ein. Allerdings profitierte Clarissa ja durchaus auch von dem Deal, weil sie, auch wenn sie weniger Spielsachen besaß, dafür immer noch einen Spielkameraden hatte, mit dem sie gerne spielte und der gute Spielideen hatte. „Ja, manchmal“, murmelte Amy, die Tom während seiner Gedanken über Pseudorechtfertigungen seiner Taten völlig vergessen hatte. Das Gespräch mit Amy hatte irgendwie keinen Sinn mehr für ihn, zumal Amy mittlerweile ebenfalls extrem missmutig war. Er wusste auch nicht, was er ihr hätte sagen sollen, weil er ja teilweise auch Ursache ihrer Wut war, selbst wenn Amy das nicht wusste. Außerdem war der für ihn wichtige Teil, sich in seiner eigenen Meinung bestätigt zu fühlen, bereits gelaufen. „Ich würde dann mal gehen, wenn es dir nichts ausmacht. Danke, dass du mir zugehört und ein wenig zwischen Clarissa und mir vermittelt hast, ich denke, ich habe das in Zukunft im Griff. Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“, wollte er wissen, wobei die Frage eher rhetorischer Natur war, da er ahnte, dass Amy ihn wahrscheinlich sowieso nicht um Hilfe bitten würde. Amy schüttelte den Kopf. „Danke, aber du kannst mir da auch nicht helfen. Du könntest vielleicht irgendwie nach Clarissas Spielzeug suchen, aber wenn du keine Anhaltspunkte hast, dann bringt uns das auch nicht weiter. Außerdem ist das mit Clarissa ja nicht dein Problem, darum kann ich mich auch kümmern. Ich werde schon irgendwie herausbekommen, wer das war. Ach, ich bin jetzt allerdings auch so unglücklich wegen unserer Mutter. Es ist jetzt alles wieder hochgekommen. Ich glaube, ich mache jetzt einen wütenden Song an, mache mir die Maske ab und ziehe mir was Vernünftiges an. Dieses Outfit, falls man es so nennen kann, ist schließlich echt peinlich. War nett, dass du mich besucht hast. Bis später dann beim Abendessen“, Amy stand auf und begleitete Tom zu ihrer Zimmertür. „Ja, bis später“, er verabschiedete sich mit ihrem eigenen Check, den er, Amy und Dennis gemeinsam erfunden hatten. Es war Amys Vorschlag gewesen, damit sie etwas Gemeinsames als Gruppe hatten, er selbst hätte das von sich aus nicht getan. Amy lächelte schwach.
Als er nach draußen auf den Gang trat und Amy die Tür hinter sich schloss, atmete er tief durch. Endlich wieder frische Luft. Kein Parfümgeruch. Er wollte gerade zu seinem Zimmer laufen, als auf einmal Chris hinter einer Ecke hervortrat. „Oh, hatte Amy also Herrenbesuch“, spottete er. Das sich Fünfzehnjährige auch immer etwas denken mussten! Tom strafte ihn durch Nichtbeachtung. Das war das Schlimmste für Menschen, die sich durch Provokation Aufmerksamkeit erhofften. Würde Tom auf die Aussage eingehen oder sich rechtfertigen, würde er Chris nur das geben, was er wollte. Er fuhr sich lässig durch seine, wie immer, perfekt liegenden, leicht welligen Haare und lächelte arrogant, während er weiter zu seinem Zimmer lief. Verdutzt blieb Chris stehen. Dem hatte Tom es so richtig gegeben! Stolz auf sich und voller Vorfreude auf die Umsetzung seiner Rache an Billy, begab er sich in sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Irgendwie musste er die Zeit totschlagen, bis es Abendessen gab. Was könnte er zum Vorankommen seines Plans leisten? Er könnte schon einmal ein Seil suchen! Das Waisenhaus hatte wunderbarerweise eine eigene Sporthalle, damit die sportlichen Kinder für die Schule trainieren konnten. Es gab Gymnastikbälle und sportliches Equipment jeder Art und Tom regte sich jedes Mal darüber auf, dass sportliches Talent ganz offensichtlich größer geschrieben wurde, als geistige Fähigkeiten. Tom erhielt nur zu besonderen Anlässen ein oder zwei Bücher seiner Wahl und diese hatte er auch innerhalb einer Woche bereits durchgelesen. Er verachtete sportliche Tätigkeiten, da er diese für wenig gewinnbringend und für eine absolute Zeitverschwendung hielt. Er sah schließlich von Natur aus unfassbar gut aus, wie alle außer Billy und seine Clique fanden, von daher fiel die Motivation, Sport als Mittel der Attraktivitätssteigerung zu betreiben, schon einmal weg. Und sonst war Sport in keiner anderen Weise in irgendeiner Form nützlich für ihn. Die einzige Sportart, die Dennis, Amy und er gemeinsam draußen betrieben, seit sie aus dem Alter, in dem man in jeder freien Stunde nur Fangen und Verstecken spielte, raus waren, war Basketball. Weil er ziemlich groß war, war er sehr gut darin und er hatte herausgefunden, dass er mit seiner Gedankenkraft die Bewegung des Balles steuern konnte, sodass er im Endeffekt der unangefochtene König dieses Spiels war, was natürlich auch wieder sein Ego streichelte. Für sonstige Sportarten hatte er jedoch nichts übrig. Jetzt allerdings freute er sich über die gute Ausstattung an Sportgeräten, weil es unfassbar viele Sprungseile in der Sporthalle gab. Also lief Tom nach draußen auf die Sporthalle zu. Ihn durfte niemand erwischen. Er versteckte sich im Gebüsch und stellte sich mit all seiner Geisteskraft vor, wie sich das Kippfenster zur angebauten Gerätekammer öffnete. Er visualisierte vor seinem inneren Auge den Haken, über dem die bunten Seile in verschiedenen Längen hingen. Ein besonders langes blaues Seil verließ den Haken und schwebte durch das Kippfenster nach draußen, so, wie Tom es sich vorgestellt hatte. Es schwebte zum Gebüsch und fand seinen Weg in Toms Hände. Perfekt! Nun musste er nur noch das Kippfenster schließen. Sobald er den Gedanken hatte, setzte sich das Fenster mit einem Knarzen in Bewegung. Er war wirklich ein mächtiger Zauberer oder vielleicht auch ein Fae, wer weiß. Amy sagte immer, mit seinen pechschwarzen Haaren und seinem perfekt geschnittenen Gesicht erinnere er sie an Cardan aus Cruel Prince und sie fragte ihn jedes Mal scherzhaft, ob er sich denn auch vorstellen könnte, eine Normalsterbliche zu heiraten, so wie Cardan es getan hatte.
Tom, der sich durch diese Frage dezent angemacht fühlte, entgegnete, dass er sie auf gar keinen Fall heiraten würde und sich mit ihr nicht mehr als Freundschaft vorstellen könnte. In Wahrheit nicht einmal das, aber egal. Amy schwieg dann meistens beleidigt über einen so direkten Korb und entgegnete, dass sie diese Frage auf Menschen generell und nicht auf sich bezogen hätte. Tom war, was das anging, skeptisch, da Amy ihm für seinen Geschmack viel zu oft Komplimente zu seinem ansprechenden Äußeren machte. Jedenfalls dachte Tom durch diesen Vergleich mit Cardan, dass Magier wie er unsterblich sein mussten und dass dementsprechend seine Mutter mitnichten eine Magierin oder Fae sein konnte. Gedankenverloren versteckte er das Seil in der Bauchtasche seines schwarzen Kapuzenpullis, der ihn an den Umhang des dunklen Magiers erinnerte, und machte sich auf den Weg zu seinem Zimmer. Er verbarg das Seil unter seinem Bettbezug und entschied sich dazu, die restliche halbe Stunde noch mit Jeanette, der Ringelnatter zu sprechen. So saß er also alleine draußen auf der Wiese, die Kapuze wie bei einem Zauberumhang über den Kopf gezogen, und wartete auf Jeanette, die meist bei diesem Wetter ein paar Runden zog, um ein paar Frösche zu essen. Es waren bereits zehn Minuten vergangen. Nach einer Ewigkeit hörte er aus einiger Entfernung ihr vertrautes Zischen.
„Tommylein, wie schön, dich mal wiederzusehen“, Jeanette schlängelte sich auf ihn zu, „Es ist immer mal wieder interessant zu hören, was die anderen Spezies so betreiben. Wie war dein Tag heute?“ „Bescheuert“, antwortete Tom in Schlangensprache. Er wusste auch nicht, woher er die Fähigkeit hatte, ausgerechnet mit Schlangen sprechen zu können. „Aber ich habe eine gute Idee: Nachdem ich Billys Hasen gekillt und Billys Schockmoment ausgekostet habe, kann ich dir den Hasen als Schmaus mitbringen“ „Das ist aber lieb von dir, dass du so an mich denkst“, zischte Jeanette geschmeichelt und kroch auf seinen Schoß. Er fuhr mit seiner Hand über ihren glatten, leicht rauen Körper. Es fühlte sich angenehm und vertraut an, eine Schlange zu streicheln und er mochte den Kontakt zu Tieren definitiv lieber als den Kontakt zu Menschen. Tiere urteilten und widersprachen nicht und stellten auch keine innerartliche Konkurrenz für ihn dar. Die anderen Kinder hatten dieselben Bedürfnisse wie er und sie konkurrierten täglich darum, wer von ihnen diese Bedürfnisse erfüllt bekam und wer nicht. Die Schlangen konnten ihm aber nichts wegnehmen, was für ihn von Bedeutung gewesen wäre und waren über seine Gesellschaft immer hocherfreut. „Mein Tag war heute auch nicht der Beste, mir ist einfach ein Frosch ganz knapp entwischt, dabei habe ich doch in letzter Zeit so viel Appetit. Umso mehr freue ich mich auf morgen, wenn du mir das Geschenk mitbringst. Ich hoffe, du machst keinen Rückzieher und hältst dein Versprechen, das du mir gegeben hast.“ „Natürlich halte ich mein Versprechen, es liegt sehr in meinem Interesse, Billy eins auszuwischen und was soll ich sonst mit der Leiche des Hasen anfangen?“, gab Tom zurück. „Naja, essen“, prüfend sah die Schlange ihn an. „Igitt, ich bevorzuge tatsächlich eher Hühnchenfleisch oder Rind“, würgte Tom. „Wie gut, dass jede Spezies andere Bedürfnisse hat“, Jeanette kroch langsam weiter, „War sehr schön, mit dir gesprochen zu haben, aber ich muss jetzt noch ein bisschen jagen gehen. Und du solltest auch etwas essen. Musst du nicht immer um diese Zeit beim Abendessen sein?“
Tom blickte auf seine Uhr und sah bestürzt, dass er nur noch sieben Minuten Zeit hatte und um nicht verdächtig zu wirken, musste er sich beeilen, rechtzeitig beim Abendessen zu sein. Außerdem würden auch Amy und Dennis auf ihn warten. Er verabschiedete sich bei Jeanette und hastete zum Hauptgebäude, in dem sich der Speisesaal befand. Im Gang begegnete er Amy und so liefen die beiden gemeinsam zum Speisesaal. „Wieder beruhigt?“, erkundigte Tom sich bei Amy. „Ja, alles fit. Was hast du noch so gemacht?“, fragte sie ihn. „Mich gelangweilt. Was hätte ich sonst noch so in der halben Stunde großartig machen sollen?“ „Vielleicht was mit Dennis? Oder Hausaufgaben? Wir haben über die Ferien total viel aufbekommen“, seufzte Amy, „Dabei habe ich überhaupt keine Lust dazu, irgendeinen Finger über die Ferien krumm zu machen. Außerdem hat Mrs Cole mir vor ein paar Tagen erzählt, dass wir alle gemeinsam über die Ferien ans Meer fahren werden und vorher noch jeder von uns drei neue Badeanzüge, Badehosen oder Bikinis bekommt. Freust du dich auch so sehr wie ich? Welche Farbe wird deine neue Badehose haben? Ich freue mich schon so sehr auf die Shopping Tour!“ Tom rollte genervt mit den Augen. „Ich werde mir einfach eine dunkelgrüne, eine dunkelblaue und eine schwarze Badehose mit demselben Modell wie vorher, nur halt in einer anderen Größe, holen.“ Amy fielen fast die Augen aus dem Kopf vor lauter Schock. „Aber die wird doch dann gar nicht mehr in sein! Warum müsst ihr Jungs immer so minimalistisch sein“, verständnislos schüttelte sie den Kopf, „Also mein Bikini…“ „Amy, ich möchte gar nicht wissen, wie dein Bikini aussehen wird! Seit wann interessierst du dich überhaupt so sehr für Klamotten, du bist die totale Tussi geworden!“ „Tut mir leid. Ich bin eigentlich immer noch dieselbe, versprochen. Nur ab einem gewissen Alter wird das Aussehen halt einfach relevant. Solange du ein Kind bist, zählt vielleicht höchstens, wie niedlich du bist, und das auch nur von Seiten der Erwachsenen. Aber mittlerweile fangen bei uns in der Klasse alle Mädchen schon an, sich getönten Lippenbalsam aufzutragen, zwar nicht jeden Tag, aber mindestens jeden zweiten! Ist dir das nicht auch aufgefallen? Und die Jungs zocken einfach nur noch oder aber sind so gefühlt noch in der Legoland-Phase steckengeblieben.“ Toms Mundwinkel zuckten. „Ja, ist mir auch schon aufgefallen. In meiner Klasse sind die Mädchen auch seit ungefähr einem Jahr richtige Tussis geworden. Aber sie waren auch schon vorher irgendwie lästig. Die einen bezeichnen mich als Freak und die anderen haben mich einfach mit Liebesbriefen mit Lippenstiftabdrücken genervt.“ Amy kicherte. „Sorry, ich lache nicht wegen der ersten Sache, denn das ist echt Mobbing, was die da tun, aber das Zweite ist irgendwie echt armselig und stillos, finde ich. Hast du wirklich Sorge, ich würde eines Tages mal so würdelos sein? Meiner Ansicht nach muss ein Flirt immer stilvoll verpackt sein.“ „Und meiner Ansicht nach sollte man überhaupt nicht flirten. Liebe ist der letzte Bullshit! Ich weiß zwar nicht viel über meine Eltern, aber Mütter, die ihre Kinder über eine anonyme Geburt abgeben, stehen ja häufig in keinem guten Verhältnis zu dem Erzeuger ihres Kindes“, echauffierte sich Tom.
„Ich glaube an die wahre Liebe“, entgegnete Amy, „Meine Eltern haben sich zwar nicht geliebt, sondern es war eine Zweckgemeinschaft für, sagen wir mal, ein paar Stunden, aber ich glaube schon, dass ich eines Tages mal einen Mann finden werde, der mich liebt, so wie ich bin.“ Tom steckte sich bei Amys romantischer Predigt demonstrativ den Finger in den Hals. Alles nur Gerede eines dummen, naiven kleinen Grundschulmädchens. „Tut mir leid, aber irgendwie auch nicht, denn ganz ehrlich: Ein Platz wie dieser hier mit so wertlosen Miststücken wie Billy Stubbs oder so und mit Kindern, deren Eltern alle irgendwie Probleme haben und so gefühlt 70% der Eltern getrennt sind, ist doch der beste Beweis dafür, dass so etwas wie Liebe gar nicht existiert. Oder hast du irgendeinen Gegenbeweis?“ „Gefühle muss man nicht beweisen, sie sind einfach da…“, versuchte Amy, ihn umzustimmen, aber Tom ignorierte sie, steckte sich die Hände in die Hosentaschen und lief mit gleichgültiger Miene voraus. Je weniger Beachtung er Amy schenkte, desto schneller unterließ sie unerwünschtes Verhalten. Manchmal ignorierte er sie so lange, bis sie angekrochen kam und sich bei ihm entschuldigte, dafür, dass sie ihm mal wieder auf die Nerven gegangen war. Er entdeckte Dennis, der ihnen Plätze freigehalten hatte und sie zu sich herwinkte. „Hey, sexy ass!“, tönte plötzlich eine allzu bekannte Stimme hinter ihnen und Chris pfiff Amy hinterher. Als er an ihr vorbeikam, strich er ihr über den Hintern. Amys Mund klappte auf und sprachlos starrte sie ihm hinterher. Wenn ein Feind von außen kam, hatte Tom ihre Differenzen vergessen. „Das wird er büßen! Dieser Pädo! Ich regle das!“, knurrte Tom, „Und du setz dich sofort an den Tisch!“ Zögerlich setzte sich Amy in Bewegung. Eine Träne lief ihre Wange hinunter und das machte Tom nur noch wütender. Tom war zwar ein Außenseiter und nur einige wenige Kinder mochten ihn, weil die meisten ihn seltsam fanden, aber er war respektiert und gefürchtet. Und seine wenigen Verbündeten standen unter seinem Schutz und er würde alles dafür tun, dass man sie nicht respektlos behandelte. Niemand legte sich mit ihm und seiner Gang an!
Er scannte den Raum ab. Leider gab es keinen Gegenstand, den er ganz zufällig hätte auf Chris fallen lassen können. Aber er könnte einen neuen Trick ausprobieren. Bisher hatten die meisten seiner Tricks funktioniert, wenn er genug Willenskraft dazu aufgebracht hatte. Und er hatte definitiv genug Willenskraft, Chris so richtig fertigzumachen. Bedrohlich schlenderte er auf Chris zu. „Sieh an, Tom beschützt seine kleine Freundin. Jetzt kriege ich aber ANGST!“, höhnte Chris und die Jugendlichen aus der Ecke mit den älteren Bewohnern des Waisenhauses lachten. „Du solltest dich tatsächlich fürchten, weil alle, die zu meiner Gang gehören, stehen unter meinem Schutz!“, sagte Tom bedrohlich. „Oh, du machst einen auf Mafiosi? Noch nie hat mich jemand so sehr zum Lachen gebracht wie du“, feixte Chris und machte einen Schritt auf Tom zu. Tom wurde leicht nervös. Wenn sein Trick nicht funktionierte, dann würde er sich vor allen lächerlich machen und das war das Letzte, was er gebrauchen konnte. „Nein, jetzt mal ernsthaft“, raunte Chris und Tom spürte seinen Atem, „Du willst dich einfach nur wichtigmachen, Kleiner. So ein winziger, noch nicht einmal elfjähriger Knirps will sich mit dem stärksten Fünfzehnjährigen hier anlegen. Was hast du genommen? Etwa Drogen, so wie Amys Mutter?“ Es wurde totenstill im Raum. Amy war leichenblass geworden. Er hatte einfach ihre Mutter beleidigt! „Ich habe gar nichts genommen, man muss nichts nehmen, um sich mit Teddybären anzulegen“, mit arroganter Miene sah Tom ihn feste an. Die Jugendlichen johlten. Die Kinder, die ebenfalls von Chris terrorisiert wurden, starrten Tom gebannt an. Chris holte zum Schlag aus, doch Tom wich ihm aus. Das war knapp. Doch nun war es Zeit, für seine große Show. Als Chris zu einem weiteren Schlag ausholte, stellte Tom sich konzentriert vor, wie Chris unter extremen Bauchschmerzen litt und sich unter Qualen krümmte. Chris‘ Faust sauste auf ihn zu und streifte seine Wange, bevor Chris auf einmal in die Knie ging und ihm Tränen in die Augen schossen. „So ist es recht, man sollte gefälligst vor denen, die einem überlegen sind, niederknien“, mit einem herablassenden Lächeln beobachtete Tom, wie Chris sich mit den Händen abfing und verzweifelt röchelte. Noch nie hatte sich Tom so stark, überlegen und mächtig gefühlt wie in diesem Moment und er genoss das Gefühl von Triumph, welches ihn umströmte. Er sah sich um. Die anderen Kinder sahen ihn teils bewundernd und teils entsetzt an und konnten ihre Blicke kaum von ihm lösen. Einerseits verschaffte es ihm tiefe Genugtuung, so angesehen zu werden, andererseits sollte bloß niemand von den Erzieherinnen etwas von seinem kleinen Geheimnis mitbekommen. Er sah, wie zwei von Chris Freunden, Andrew und Aiden, aufstanden und Chris aufhalfen.
„Wir bringen dich ins Krankenzimmer“, raunten sie ihm zu und sahen Tom hasserfüllt an. „Was los?“, fragte er mit überzeugender Unschuldsmiene, „Kann ich doch nichts für, dass er unfähig dazu ist, einen Zehn-, fast Elfjährigen zu besiegen!“ Andrew ließ Chris los und zischte Tom zu: „Du bist ein vom Teufel besessener Freak! Ich werde das alles Mrs. Sweeney erzählen, die glaubt uns das wenigstens. Das ist doch kein Zufall, dass ausgerechnet so etwas passiert, wenn du da bist und er Streit mit dir hatte!“ „Erzähl es Mrs. Sweeney, wenn du magst“, Tom fuhr sich durch seine perfekt liegende Frisur und blickte ihn hochmütig an, „Schade nur, dass dir die Story niemand außer ihr abnehmen wird und es genügend Zeugen dafür gibt, dass Chris den Streit angefangen hat. Meine Wange ist der beste Beweis dafür!“ Tom strich sich über die schmerzende Wange. Das würde einen blauen Fleck geben. Er könnte ihn zwar vielleicht heilen, aber dann würde der Beweis als Druckmittel fehlen, also musste er in den sauren Apfel beißen und die temporäre Entstellung seines makellosen Gesichts ertragen. „Also dann, ich hab Hunger und das Essen ist mir wichtiger, als mich mit unfähigen Jugendlichen abzugeben. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend!“ Alle lachten, während Andrew und Aiden mit Chris in ihrer Mitte durch die Tür zum Speisesaal verschwanden. Tom sandte Chris noch einmal eine erneute, heftige Schmerzenswelle, bevor er sich zwischen Amy und Dennis an den Tisch setzte. Die beiden hatten ihm bereits sein Lieblingsessen auf einen Teller getan, sodass er in Ruhe anfangen konnte, zu essen. Solche ergebenen Diener! „Danke, Tommy“, Amy umarmte ihn und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. „Hör auf“, murmelte Tom und schubste sie weg, „Ich will jetzt essen.“ Verletzt schwieg Amy und pikte ein Stück Fleisch von ihrem Fitnessteller auf. „Das war echt heftig“, meinte Dennis und beugte sich leicht zu Tom herüber. „Wie hast du das schon wieder gemacht?“, raunte er ihm zu. „Erkläre ich dir wann anders. Jetzt ist der falsche Zeitpunkt dafür.“ Schweigend nahmen sie daraufhin ihre Mahlzeit ein, bis Tom einfiel, dass er dringend einen Wecker für den nächsten Tag brauchte. Da in den Ferien das allgemeine Weckradio abgestellt war, damit die Kinder und Jugendlichen auch ein wenig ausschlafen konnten, musste Tom, der weder einen eigenen Wecker, noch ein eigenes Smartphone besaß, Amy fragen, ob sie ihm ihr Samsung ausleihen konnte. Sie hatte das alte Smartphone ihrer Tante bekommen und Tom beneidete sie abermals trotz ihres schlechten Verhältnisses zu ihrer Familie um ihre materielle Verwöhntheit im Vergleich zu anderen Waisen.
„Amy?“ „Was los?“, wollte Amy wissen, die immer noch ein wenig beleidigt zu sein schien. Solch ein anstrengendes Groupie! „Könntest du mir vielleicht dein Handy leihen? Ich bräuchte es ganz dringend… Außerdem habe ich doch auch einen gut bei dir, oder?“, schob er hinterher, als sie ihn skeptisch musterte. „Na schön, leih es aus. Danach ändere ich aber meine Codes. Und lies dir nicht meine WhatsApp Nachrichten durch, okay?“, nannte sie ihm die Bedingungen. Moment einmal… Tom war ein überaus misstrauischer Mensch und wenn Amy explizit von ihm verlangte, nicht ihre WhatsApp Nachrichten zu lesen, so musste sie etwas vor ihm zu verbergen haben. Lästerte sie etwa über ihn? Dieses ausdrücklich formulierte Verbot brachte ihn erst recht dazu, ihre WhatsApp Nachrichten dringend einmal unter die Lupe nehmen zu wollen. Zumal er vorher nie auf die Idee gekommen wäre, ihre WhatsApp Nachrichten durchzulesen, weil er das Smartphone nur wegen seiner Weckfunktion ausleihen wollte, damit er den Moment für seine große Rache nicht verschlief. Schließlich interessierten ihn ihre Chats mit ihren Tussifreundinnen, die alle jünger waren als er, kein bisschen. „Hörst du mir überhaupt zu?“, Amy wedelte vor seinem Gesicht herum. „Nein, sag nochmal. Hatte gerade etwas anderes im Sinn. Und hör sofort mit dem lästigen Gefuchtel auf, verstanden?“ „Entschuldigung. Wird nicht wieder vorkommen. Der Code für die Sim Card ist 1679. Den muss man aber nur eingeben, wenn man das Smartphone ganz herunterfährt. Bitte merke ihn dir gut, denn wenn ich dir einen Zettel gebe, könnte dieser immer noch verlorengehen und Billy Stubbs oder so in die Hände fallen. Auch wenn ich den Code morgen ändern werde, weil es in der Medienprävention geraten wurde, diesen nicht einmal den eigenen Freunden zu nennen, könnte Billy auch diesen Tag immer noch enormen Schaden anrichten.“ Tom rollte mit den Augen. „Du nervst. Das ist mir alles bereits bewusst, was ich zu beachten habe, im Gegensatz zu gewissen anderen Personen bin ich nicht dumm. Und was ist dein Sperrcode?“ Entweder war Amy tatsächlich so blöde, dass sie nicht verstand, wen er mit gewissen anderen Personen meinte, oder aber sie ging bewusst nicht darauf ein. „Ich habe ein Muster, allerdings ist es unsichtbar, ich kann es dir aber mal kurz aufzeichnen und dann wegradieren. In meinem Zimmer habe ich Schreibzeug.“ Tom folgte ihr. Als er ihr Zimmer betrat, sah er ein riesiges Poster von einem halbnackten Justin Bieber über ihrem Bett hängen, welches am Nachmittag noch nicht dort hing. Sie musste es vor dem Abendessen aus einer ihrer Teeniezeitschriften entnommen und aufgehängt haben. Missbilligend rümpfte er die Nase.
„Ernsthaft, was findest du an Justin so toll? Shorty is an eenie meenie miney mo lova, shorty is an eenie meenie miney mo lova”, äffte er einen Song von ihm mit weinerlicher Stimme nach. Amy warf ihm einen vernichtenden Blick zu, wagte jedoch nicht, sich zu seinem Spott zu äußern. Sie beugte sich über ihren Schreibtisch und zog einen Zettel aus der Schreibtischschublade. Auf den Zettel zeichnete sie ein Muster, welches sich Tom sorgfältig einprägte, bevor Amy das Muster wegradierte und den Zettel in winzige Schnipsel zerriss, welche sie in den Müll warf. Die Sicherheit ihres Handys schien ihr echt heilig zu sein. Umso mehr interessierte Tom, was sich wohl auf ihrem Handy befand. Das galt es herauszufinden! Feierlich überreichte sie ihm ihr Smartphone. „Bitte pass gut darauf auf und bitte mobb keine meiner Schulfreundinnen in meinem Namen, so wie es in dem einen Video bei der Medienprävention passiert ist. Ich möchte nicht nach den Ferien auf einmal bei allen meinen Freundinnen untendurch sein, nur, weil du in meinem Namen irgendwelche Beleidigungen geschrieben hast. Das wäre meine größte Angst. Habe ich dein Wort?“ Amy streckte ihm ihren kleinen Finger hin. Tom hakte seinen kleinen Finger bei ihrem ein. Was musste man nicht alles über sich ergehen lassen, wann man bekommen wollte, was man brauchte. „Ich schwöre“, sagte er feierlich. „Okay, ich wünsche dir eine gute Nacht und hoffe, dass ich dir durch das Ausleihen meines Smartphones behilflich sein konnte.“ „Das konntest du wahrhaftig“, meinte Tom und nickte ihr zum Abschied zu, bevor er den Gang entlang zu seinem Zimmer lief. Er schloss die Tür auf, ging herein, schloss sorgfältig ab, um nicht gestört zu werden und ließ sich erst einmal aufs Bett fallen. Zeit, Amys Handy durchzuchecken!