
III
Als er erwachte, war es fast Mittag. Doch ein Gedanke hatte sich seit diesem Traum wie Eisen in sein Gehirn gebrannt: wenn er den Stein der Auferstehung finden würde, könnte er vielleicht irgendwie seine Mutter zurückholen.
In den nächsten Tagen beschäftigte er sich mit nichts anderem mehr, als den Märchen von Beedle dem Barden. Er durchforstete andere Märchen nach Hinweisen auf die Geschichte der drei Brüder, las sich durch alte Schulbücher und die Sammlung seiner Mutter, fand jedoch nichts, was auf die reale Existenz des Steines hindeuten könnte. Dennoch war das Symbol des Steins eines, was in vielen Geschichten auftauchte.
Vor Aberforth erwähnte er kein Wort, obwohl Albus nach fünf Tagen beinahe ein Notizbuch mit Informationen über das Märchen der drei Brüder gefüllt hatte.
Am siebten Tag stieß er auf drei Namen: Ignotus Peverell, Cadmus Peverell und Antioch Peverell. Das Schicksal dieser drei Brüder, die im dreizehnten Jahrhundert gelebt hatten, schien sich mit dem der Brüder aus dem Märchen zu überschneiden. Und irgendwo hatte er den Namen des dritten Bruders, Ignotus Peverell, schon einmal gelesen, er konnte sich jedoch bloß nicht erinnern, wo.
„Albus!“, rief Aberforth vom Erdgeschoss nach oben. „Miss Bagshot und ihr Neffe werden in einigen Minuten da sein. Hilf mir, den Tisch zu decken.“
„Ich komme gleich!“, erwiderte Albus gereizt. Um ehrlich zu sein, waren die beiden ihm im Moment mehr als herzlich egal, jetzt, wo er auf eine heiße Spur gestoßen war und wie ein hungriger Wolf die Wörter in den Büchern in sich aufsog.
„Du weißt, dass ich außerhalb von Hogwarts noch nicht zaubern darf!“ Aberforth wirkte genervt, seiner Stimme nach zu urteilen. Inzwischen waren offiziell Sommerferien, das nächste Jahr wäre Aberforths letztes.
„Gib mir noch ein bisschen - es hat außerdem noch niemandem geschadet, sich die Hände schmutzig zu machen, denk doch an die Muggel!“
Daraufhin erwiderte sein jüngerer Bruder nichts mehr.
Die Minuten verstrichen und schon bald hatte Albus vergessen, weshalb Aberforth ihn überhaupt gerufen hatte. Albus klappte das dicke Buch zu, sodass eine leichte Staubschicht abfiel und ihm in der Nase kitzelte. Er würde heruntergehen und nach Ariana sehen, dann würde er noch einmal das Märchen lesen, obwohl er es mittlerweile beinahe auswendig kannte.
Seufzend erhob er sich und streckte die Glieder, die vom vielen Sitzen schon schmerzten, dann lief er langsam und schwerfällig das Treppengeländer herunter. Als er die beiden Gäste sah, die in seiner Küche saßen, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer. Dann fiel ihm alles wieder ein. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt; wie hatte er das nur vergessen können?!
„Oh, hallo Albus“, meinte Aberforth spitz, als er ihn im Türrahmen erblickte. „Wie schön, dass du dich dazu entschieden hast, uns mit deiner Anwesenheit zu beehren, nachdem wir fast fertig mit dem Essen sind.“
Mit hochrotem Kopf steuerte er langsam auf den Platz am Kopfende des Tisches an, auf dem ein leerer Teller mit unberührtem Besteck stand. Er biss sich auf die Lippe und behielt den Blick am Boden, sodass ihm erst nach ein paar Sekunden auffiel, dass nicht Ariana am Tisch saß, sondern ein ihm unbekannter Junge. Miss Bagshots Großneffe.
„Entschuldigung, ich-“, begann Albus, sich eine Entschuldigung zusammenzustammeln.
„Spar dir deine billigen Ausreden, Albus“, giftete Aberforth und bedachte ihn mit einem Blick, der dem eines Basilisken glich. „Sei still und iss den Rest der Suppe, sie ist aber kalt.“
„Incendio“, murmelte Albus also, nachdem er sich etwas Suppe auf den Teller getan hatte. Obwohl sein Zauberstab noch in seinem Zimmer lag, schaffte er es trotzdem, seine Suppe zu erwärmen. Zauberstablose Magie hatte er schon immer gut beherrscht.
„Aberforth!“, ermahnte Miss Bagshot ihn scharf. „Rede doch so nicht mit deinem Bruder!“
Er brummte eine leise Entschuldigung.
Dann wandte Miss Bagshot sich zu Albus und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, das bereits von den ersten Falten geziert wurde. „Du erinnerst dich doch sicherlich noch daran, dass ich dir jemanden vorstellen wollte.“
„Ja, tue ich, Miss Bagshot“, antwortete Albus und musterte den jungen Mann zu seiner linken. Sein goldblondes Haar fiel ihm in Wellen bis zum Kinn, seine blasse Haut hatte beinahe die Farbe von Elfenbein, doch das Faszinierendste an ihm waren (neben seinen markanten Wangenknochen) seine Augen. Während das linke dunkelbraun war und sich die Iris fast nicht von der Pupille unterschied, erstrahlte das rechte in einem eisigen Blau. Aufgrund seiner strammen Körperhaltung sah man ihm an, dass er aus Durmstrang kam, doch trotzdem musste Albus zugeben, dass er gut aussah, sehr sogar.
„Das ist - obwohl, er kann sich auch selbst vorstellen.“ Ein Lächeln bildete sich auf den leicht brüchigen Lippen von Miss Bagshot.
Der Junge hielt Albus die Hand entgegen. Verwirrt schüttelte Albus sie, im Gegensatz zu ihm hatte Miss Bagshots Großneffe einen festen, kalten Händedruck.
„Mein Name ist Gellert“, sagte er und lächelte kurz. Seine Stimme war tief und man konnte einen leichten Akzent heraushören, ganz einordnen konnte Albus ihn aber noch nicht.
„Ich bin Albus.“
„Das weiß ich bereits. Lass dir die Suppe schmecken.“
„War sie gut?“, fraget Albus sofort.
„Das beste, was ich in den letzten Tagen gegessen habe“, entgegnete Gellert, woraufhin Albus erneut die Röte ins Gesicht stieg.
„Ich hab sie gemacht, danke.“
Miss Bagshot blickte ihn empört an. „Sprich ja nicht so über das Essen meiner Nichte, Gellert.“
Schützend hob dieser sofort die Arme. „Ich habe nie behauptet, dass dieses schlecht wäre.“ Er grinste verschmitzt und schaute dann zu Albus.
„Mir wurde gesagt, du seist einer der besten Schüler, den Hogwarts je hatte. Dank meiner Großtante weiß ich jetzt mehr über dich, als über sie, und das, obwohl ich gestern Abend erst angekommen bin.“ Gellert redete mit einer Selbstverständlichkeit, als ob nur sie beide im Raum wären.
Miss Bagshot rollte genervt mit den Augen, doch Albus lächelte nur. „Ach, lass ihn doch reden.“ Er mochte es, wenn man ihm schmeichelte, wie wahrscheinlich jeder Mensch es tat.
„Da frage ich mich doch, wie viel sie dir über mich erzählt hat.“ Gellert stützte seinen Kopf auf seiner Handfläche ab und blickte Albus an, der nicht wusste, auf welches der beiden Augen er sich konzentrieren sollte.
„Nicht so viel, wie du über mich weißt, schätze ich. Ich weiß nur, dass du auf Durmstrang warst, in meinem Alter und ähnlich begabt wie ich bist. Erzähl mir doch mehr“, meinte Albus. All seine Nachforschungen über die drei Brüder waren nun vergessen, er wollte etwas über Gellert erfahren. Dieser junge Mann hatte etwas Interessantes an sich.
„Ich wusste doch, dass ihr euch verstehen werdet.“ Miss Bagshot lächelte süffisant, zückte ihren Zauberstab und half Aberforth dabei, die Küche aufzuräumen.
Gellert hob die Augenbrauen spielerisch. „Frag mich doch etwas. Alles, was du wissen willst.“
Sofort schossen Albus tausende Fragen in den Kopf, von was hast du für einen Akzent? über warum bist du in Godric’s Hollow? bis hin zu hast du Heterochromie? Er entschied sich letztendlich für seine zweite Frage.
„Das ist…“ Gellert lehnte sich zurück und strich sich das weiße Hemd glatt. „Eine etwas längere Geschichte. Drücken wir es so aus: meine Eltern befanden es für gut, mich über den Sommer zu meiner Großtante zu stecken, weil ich… nun ja… eine törichte Sache angestellt habe. Außerdem habe ich persönliches Interesse an diesem Ort.“
„Persönliches Interesse?“ Gellert gab sich geheimnisvoll, etwas, was Albus unter normalen Umständen aufgeregt hätte, doch das hier waren keine normalen Umstände. Gellert war anders.
„Gellert?“, rief Miss Bagshot nach ihm. „Ich gehe davon aus, dass du dich noch angeregt mit Albus austauschen willst. Ich werde schon nachhause gehen, komm einfach nach. Notfalls wird Albus dir den Weg zeigen.“
„Gut, danke, Großtante!“ Er drehte sich um, winkte mit den Fingern, wandte sich dann aber sofort wieder zu Albus.
„Und ich werde…“, begann Aberforth, doch Albus wusste, worauf er hinauswollte und nickte ihm deshalb nur dankend zu. Ariana mochte keinen Besuch und es war Albus lieber, wenn Gellert für den Anfang nichts über sie wusste.
„Also, Albus“, sagte Gellert, nachdem sie ungestört waren und Albus seine Suppe immer noch nicht angerührt hatte. Mit seinem Akzent klang das A in Albus’ Namen etwas harsch, aber es störte ihn nicht. Jetzt, wo er drüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Gellert selbst und Miss Bagshot seinen Namen anders aussprachen; das zweite E klang bei Gellerts Aussprache klarer. Er würde sich bemühen, diese zu nutzen.
„Frag mich weiter.“
„Woher kommst du?“
„Österreich-Ungarn. Vielleicht hast du es an meinem Akzent herausgehört. Ich versuche schon seit Längerem, ihn loszuwerden.“
„Oh, das ist nicht nötig!“, warf Albus ein. „Ich mag ihn.“
Gellerts Blick wurde weich. „Danke.“
Dann schwiegen sie sich für einige Momente einfach nur an. Albus hatte begonnen, seine Suppe zu essen, die inzwischen wieder kalt war, während Gellert ihn eindringlich musterte. Es war ihm jedoch nicht unangenehm, er wollte es beinahe.
„Was ist deine Meinung zu schwarzer Magie?“, fragte Gellert ihn auf einmal. Albus verschluckte sich beinahe an seiner Suppe und unterdrückte ein Husten.
„Was?“
„Was ist deine Meinung zu schwarzer Magie?“, wiederholte Gellert seine Frage. Unwillkürlich musste Albus an Aberforth denken und an das, was er über Durmstrang gesagt hatte. Alles Schwarzmagier. Er wollte Gellert nicht verärgern mit seiner Antwort.
„Ich finde…“, begann er also vorsichtig. „Ich finde, dass es immer auf den Kontext ankommt, in welchem man sie anwendet.“
„Hm“, machte Gellert und wandte seinen Blick von Albus ab. „Ja, du hast recht.“ Erleichtert atmete der Braunhaarige auf. „Hast du sonst noch Fragen an mich?“
Tausende. Aber er konnte sie schließlich nicht alle fragen, das wäre unanständig. „Wie lautet dein voller Name?“
„Gellert Johann Grindelwald“, gab er zur Antwort. „Und deiner?“
„Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore.“
Gellert zog die Augenbrauen hoch und lachte, bevor er sich erhob und in Richtung Tür ging. „Die Hälfte hab ich schon wieder vergessen.“
Albus geleitete Gellert zur Tür und war beinahe traurig, dass er schon ging. „Soll ich dich begleiten?“
Gellert winkte ab. „Ich finde den Weg schon. Wir sehen uns aber morgen wieder, oder?“
„Es wäre mir eine Freude. Ich hole dich gegen Mittag ab und werde dir Godric’s Hollow zeigen, was hältst du davon?“
„Nichts lieber als das, Albus Dumbledore.“ Und mit diesen Worten verließ der junge Mann das Haus der Dumbledores. Albus blickte ihm lange nach und merkte erst, nachdem er ihn nicht mehr erkennen konnte, wie sein Herzschlag sich beruhigte.