Die Wärme des Eises

Tatort (TV 1970)
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Die Wärme des Eises
Summary
Esther und Pia stapften voran, Adam folgte ihnen in leichtem Schritt und Leo trottete hinterher. Noch einmal versuchte er, die anderen zu überzeugen, ein Abstecher zum Weihnachtsmarkt würde es doch auch tun. Leider ohne Erfolg.Wenig später reihten sie sich also in die Schlange ein, die sich vor der Halle gebildet hatte. Und dafür zahlten sie auch noch Geld. Diese vier Euro fünfzig hätte Leo ganz anders investiert."Schuhgrößen?", fragte Pia in die Runde, und da fingen die Probleme schon an.-Pia und Esther haben eine wundervolle Idee für die anstehende teambildende Maßnahme. Leo steht seinem schlimmsten Alptraum gegenüber. Da hilft nur noch der wundervolle T... äh, Adam, natürlich.
Note
Ich sollte noch dazu sagen: Diese Story ist gewissermaßen based on real events. Und zwar das Event namens Linaja :DDiverse Sachen, die hier beschrieben werden, haben sich so oder so ähnlich vor Kurzem zugetragen. Zu unserer Verteidigung muss ich aber sagen, dass wir uns nicht ganz so dämlich angestellt haben wie Leo und Adam.Macht alles hiervon Sinn? Vermutlich nicht, aber egal. Die Welt (ich) braucht einfach mehr sinnlosen Hörk fluff. Enjoy <3

 

 

Es gab sicher bessere Wege, das Eis zu brechen. Und bessere Ideen für die anstehende teambildende Maßnahme, zu der man sie alle verdonnert hatte.

Seufzend rollte Leo mit seinem Stuhl vom Schreibtisch ans Fenster. Wozu das ganze überhaupt? Nachdem die (durchaus berechtigten) Zweifel an Leos Professionalität, Roland Schürk und seine verdammten Froschgifte und das Drama mit der Sporttasche aus dem Weg geräumt waren, herrschte im Büro eine angenehm leichte Stimmung.

"Schürk, wenn du jetzt nicht die Hörnchen rausrückst, lass ich dich den Bericht schreiben!", schallte Esthers Stimme herüber.

Überwiegend leichte Stimmung. Wenn es ums Essen ging, nahm hier niemand was auf die leichte Schulter. 

Leo gab sich allerhand Mühe, die genervten Stimmen seiner Kollegen auszublenden, denn er hatte gerade viel drängendere Probleme. 

Ausgerechnet heute sollte das Unheil über ihn hereinbrechen. Nicht, dass er darüber nicht schon seit Tagen Bescheid wusste, aber die drohende Blamage ließ sich so leicht zwischen Verhaftungen, Berichten und Kaffeebechern vergessen. Von denen hatte es in der letzten Woche eine Menge gegeben. Und an einem Freitagnachmittag hätte Leo nichts lieber getan, als sich entspannt ins Wochenende zu verabschieden, aber natürlich war es noch nicht mal zwei, was hieß, dass er noch eine ganze halbe Stunde im Büro hocken durfte, um danach...

Eigentlich hätte er lieber bis Sonntag im Präsidium ausgeharrt, statt sich auf dieses grauenvolle Etwas zu begeben, das die anderen euphemistisch als teambildende Maßnahme bezeichneten. Nun, Pia und Esther kaufte er die Begeisterung tatsächlich ab, waren es doch die beiden gewesen, die den Vorschlag geäußert hatten. Dass Adam schulterzuckend zugestimmt hatte, verwirrte ihn schon eher. Falls er Leos unsägliches Leid teilte, schien er es gut zu verbergen.

Als vorbildlicher Teamleiter hatte er praktisch keine andere Wahl, als sich zu fügen, denn ein besserer Vorschlag war ihm auf die Schnelle auch nicht eingefallen. Dazu war sein Hirn zu eingefroren.

Sie hatten sich also auf einen Termin geeinigt, den Leo fein säuberlich in seinen Kalender notierte. Eigentlich hätte er es lieber respektlos dahingekrakelt - oder noch besser, gar nicht erst aufgeschrieben und ganz zufällig vergessen - aber sein Ordnungssinn hatte schlussendlich gesiegt. Irgendwer musste ja hier den Überblick behalten.

Leo verschränkte die Hände im Nacken und blickte hinaus auf die Saar, die zwischen den schneebehangenen Bäumen dahinfloss. Es hatte schon wieder angefangen zu schneien, dicke Flocken, die selig langsam herabsegelten. So schön der Anblick auch sein mochte, Leo sehnte sich einen Schneesturm herbei. Am besten so stark, dass nicht einmal Esther mehr freiwillig einen Fuß vor die Tür gesetzt hätte, geschweige denn ihre Füße in die weißen Schnürschuhe -

"Leo?"

Hm. Er wollte jetzt nicht reden. Vielmehr war er damit beschäftigt, den perfekten Grund zu ersinnen, warum die ganze Aktion tragischerweise doch ins Wasser fallen würde. Vielleicht spielten die Kriminellen Saarbrückens ja doch noch mit und bescherten ihm in letzter Minute eine rettende Leiche. Ein Ritualmord am besten, oder zur Not auch eine schnöde Messerstecherei. Er war nicht wählerisch. 

"Leo."

Diesmal war es Adams Stimme, die sich als noch schwerer zu ignorieren erwies. 

Eine warme Hand landete auf seiner Schulter, und Leo seufzte leise. Langsam ließ er die Hände sinken und blickte zu Adam auf.

"Was ist?"

"Esther hat den Bericht fertig. Schaust du drüber und dann machen wir los?"

Ach ja. Genau das, was Leo wirklich, wirklich vermeiden wollte. 

"Gut... ja."

Zerstreut ergriff er Adams ausgestreckte Hand und erhob sich aus dem Stuhl, um seinem Schicksal entgegenzutreten. Die dezent gehobene Braue und den sorgenvollen Blick von Adam übersah er geflissentlich. 

Das Korrigieren des Berichts nahm nicht annähernd so viel Zeit in Anspruch, wie Leo gehofft hatte, und irgendwann hatte es keinen Sinn mehr, Esthers sorgfältig ausformulierten Sätze noch ein drittes Mal zu überprüfen. Sollten sie das verdammte Ding abschicken.

Mit einem resignierten Seufzer nahm er seine Jacke und schloss sich den anderen an, die bereits dabei waren, sich in Schals und Mützen zu wickeln. Adam streifte sogar die Handschuhe über, zu denen Leo ihm geraten hatte, seit er von seiner Kälteempfindlichkeit wusste.

Pia und Esther plauderten fröhlich, zufrieden über den gelösten Fall und das bevorstehende Teambuilding. Oder den Alptraum.

Irgendwie hatte Leo das Gefühl, dass die beiden ihn ein wenig seltsam ansahen. Vorsichtshalber versuchte er, seine Miene zu einem freundlich-neutralen Lächeln zu verziehen, damit ja keiner Verdacht schöpfte. Sie mussten schließlich nicht wissen... naja, bald würden sie es ohnehin mit eigenen Augen sehen.

Also raus in die Kälte. Esther und Pia stapften voran, Adam folgte ihnen in leichtem Schritt und Leo trottete hinterher. Noch einmal versuchte er, die anderen zu überzeugen, ein Abstecher zum Weihnachtsmarkt würde es doch auch tun. Leider ohne Erfolg. 

Wenig später reihten sie sich also in die Schlange ein, die sich vor der Halle gebildet hatte. Und dafür zahlten sie auch noch Geld. Diese vier Euro fünfzig hätte Leo ganz anders investiert.

Bevor er sich beschweren konnte, waren sie auch schon drin und standen vor der Ausleihe.

"Schuhgrößen?", fragte Pia in die Runde, und da fingen die Probleme auch schon an.

Aktuell trug Leo Stiefel in der sechsundvierzig, besaß aber auch einige fünfundvierziger. Die fielen eben manchmal groß aus, war doch nicht seine Schuld. Nur wie zur Hölle sollte er sich jetzt auf eins von beiden festlegen?

Zum Glück schienen seine Kolleginnen nichts von seinen inneren Kämpfen zu ahnen. Adam allerdings warf ihm einen langen Blick zu, bevor er den beiden mitteilte: "Fünfundvierzig. Leo auch."

Leo sagte nichts, zu erleichtert darüber, dass ihm die Entscheidung abgenommen wurde.

Mit den Schuhen zogen sie los in Richtung Bank. Dort herrschte ein solches Gedränge, dass sie sich an den äußersten Rand quetschen mussten, um noch einen Platz zu ergattern. Zwischen Adam und Esther eingeklemmt, schlüpfte Leo aus seinen Stiefeln und beäugte misstrauisch die weißen Dinger, die er anziehen sollte. Das hier würde kein gutes Ende nehmen, er ahnte es bereits.

"Leo?", fragte Adam neben ihm. Fuck. Warum musste der auch immer alles mitbekommen?

Brav löste Leo die Schnürsenkel und zwängte seinen Fuß in den ziemlich steifen und höchst unbequemen Schuh.

Wie sich schnell herausstellte, war der natürlich zu klein.

So musste er also noch einmal losziehen und die Dinger umtauschen. Auf seinen Bemerk hin, die anderen brauchten wirklich nicht zu warten, erwiderte Esther nur, es ginge doch hier um die Stärkung des Teams.

Momentan fühlte sich Leo kein bisschen stark.

Er war furchtbar wackelig auf den Beinen und musste sich am Geländer und an Adam festhalten, um nicht jetzt schon einzuknicken. Das fing ja gut an.

Adam wirkte auch nicht gerade, als sei das hier seine Welt, aber er stellte sich zumindest etwas eleganter an. Und sagte nichts, als Leo hektisch nach seinem Arm griff und ihn die ganze Treppe über nicht mehr losließ. Wofür er ihm ewig dankbar sein würde.

Schließlich kam das Eis in Sicht. Die Bahn verlief in einem langen Kreis um einige Schneehaufen herum, und es tummelten sich bereits eine Menge Leute. Alles solche Wintersport-Enthusiasten, die Leo einfach nicht verstehen konnte. Ihm wurde schon beim Anblick flau im Magen, da half weder die fröhliche Musik noch der Duft von Waffeln, der von einer Imbissbude am Rand herüberwehte. 

In der sicheren Überzeugung, nun aber alles allein zu schaffen, ließ er Adam los und stiefelte den anderen hinterher bis zur Eisfläche. Und wenn sein linker Fuß dabei wieder umknickte, musste das ja niemand sehen.

Esther traute sich als Erste auf das Eis und machte ein paar vorsichtige Schritte. Mit Erleichterung stellte Leo fest, dass er nicht als Einziger unsicher auf den Beinen war. Dann allerdings drehte Esther eine elegante kleine Runde und blieb wieder am Rand stehen. Leo konnte nur starren. 

"Kommt ihr?"

Pia folgte ihr aufs Eis und winkte ihre Kollegen heran. "Das wird Spaß machen, ich hab's euch gesagt!"

Tapfer setzte Leo einen Fuß auf die Eisbahn. Und spürte im ersten Moment, dass er für so etwas nicht geschaffen war. Das war doch alles viel zu rutschig hier, wie sollte man sich da auf den Beinen halten? Wenn er wieder umknickte in diesen scheiß Schuhen, konnte das ganz schnell ganz böse enden. Rasch trat er wieder zurück.

"Geht mal vor", sagte Adam neben ihm. "Kommen gleich."

Pia bedachte sie beide mit einer hochgezogenen Augenbraue, war schließlich aber doch gnädig und zog mit Esther im Schlepptau los. Leo musste ihnen hinterherschauen. Wie verdammt selbstsicher die sich bewegten! Von den Verrückten, die noch viel schneller an ihnen vorbeirasten, wollte er gar nicht erst anfangen. Schon Pias und Esthers kontrollierten Bewegungen versetzten ihn in Staunen. Hatten die das vorher geübt? Anders konnte er sich die Sachlage nicht erklären.

"Leo." Adam berührte ihn sachte an der Schulter. "Sag's einfach. Was ist los?"

Leo blickte auf die Eisfläche, dann auf Adam, und die Erinnerung schwebte klar durch seinen Kopf. Das hier war nicht gänzlich neues Territorium für sie, auch wenn es bereits fast zwanzig Jahre zurücklag. Leo konnte nicht anders, als die Fetzen, an die er sich noch erinnerte, vor seinem geistigen Auge abzuspielen. Adams Miene nach zu urteilen, ging es ihm genauso. 

Da war es nicht weiter verwunderlich, dass ihn Leos offensichtliche Abneigung gegen Eis und Schlittschuhe irritierte. 

"Ich... kann das nicht", murmelte Leo, während er es immerhin schaffte, Adams Blick zu halten.

Adams Mundwinkel verzog sich ein wenig. "Komm, so schwer ist das nicht. Du konntest es mal, da wirst du schon-"

"Das war vor Jahren. Ich hab... das gehört einfach nicht zu meinen Talenten."

"Dafür sind wir ja auch nicht hier", meinte Adam schulterzuckend. "Sondern um Spaß zu haben."

Leo blickte ihn entgeistert an.

"Laut Pia wenigstens. Obwohl ich langsam glaube, die haben das nur vorgeschlagen, damit sie sehen können, wie wir auf die Fresse fliegen."

So viel zum Teambuilding. Aber irgendwie war es auch zu spät, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Sie hatten schließlich schon viel gefährlichere Missionen überlebt. 

"Na gut." Entschlossen setzte er wieder einen Fuß aufs Eis. Sein Mut verfloss augenblicklich. "Und du... kennst dich hier aus, ja?"

Jetzt war Adams Grinsen beinahe frech. "Ich hab ein bisschen was dazugelernt seit der Schule."

Leo vergaß immer wieder, dass er längst nicht über alles Bescheid wusste, das Adam in den fünfzehn Jahren ohne ihn angestellt hatte. "In Berlin?", fragte er und schluckte.

"Nee. Das war irgendwo in Sachsen. War ich nur kurz."

Leo schluckte erneut und schüttelte den Gedanken ab. Momentan hatte er dezent andere Probleme.

Mit größtmöglicher Vorsicht hob er auch den zweiten Fuß auf die Eisfläche und streckte beide Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Gut. War doch nicht so schlimm. Zwei Sekunden geschafft, ohne hinzufliegen.

Neben ihm traute sich auch Adam auf das Eis und glitt vorsichtig ein Stück vorwärts. 

Leo wollte es ihm gleichtun, doch sobald er seinen Fuß ein Stück bewegte, geriet er gefährlich ins Schwanken. 

"Adam", sagte er hastig, bevor ihm sein Freund noch abhaute und ihn hilflos zurückließ. "Wie genau - wie machst du das?"

Adam wandte sich um und blieb gnädig stehen. "Die Füße abwechselnd ganz leicht anheben und das Gewicht verlagern."

Leo verlagerte das Gewicht. Rutschte aus. Nur jahrelangem Training war es zu verdanken, dass er sich noch abfing, bevor das Eis und sein Rücken sich zu nahe kamen. Sein Herz machte dennoch einen Satz, und am liebsten hätte er sich gleich wieder aufs Festland verzogen. 

Aber da näherten sich schon Esther und Pia, die bereits eine ganze Runde geschafft hatten, während Leo sich hier absolut dämlich anstellte. Aufgeben war keine Option.

"Nicht sicher, ob ich das verstanden hab", sagte er zu Adam, der ihm einen mitleidigen Blick schenkte. Leo wollte aber kein Mitleid. Sondern ausreichende Schlittschuhlauf-Fähigkeiten, um diese höllische teambildende Maßnahme zu überleben. 

"Beweg deine Füße wie ein V", merkte Adam an, und Leos Verzweiflung war groß genug, dass er das tatsächlich versuchte.

Er kam vorwärts. Sehr langsam, aber immerhin. Und das Eis war ja auch schon ziemlich zerkratzt, da ging das eben nicht schneller.

"Alles klar bei euch?", hörte er Pia fragen, wagte es aber nicht, sich umzudrehen. Mit dem Gleichgewicht konnte es ganz schnell vorbei sein, niemand wusste das besser als Leo Hölzer. Wenn er jetzt auf die Schnauze fiel, wäre es nicht das erste Mal. Aber das erste Mal vor seinen Kolleginnen, auf deren Kommentare er wirklich verzichten konnte. Er mochte die beiden ja, und er vertraute ihnen. Aber Dinge wie seine fehlenden Eislaufkünste behielt er doch lieber für sich. 

"Läuft", antwortete Adam an Leos Stelle und glitt noch ein Stück vorwärts. Bei dem Gedanken, einfach zurückgelassen zu werden, brach Leo schon wieder der Schweiß aus. 

Er sah zu, wie Esther und Pia an ihm vorbeizogen, mit einer Eleganz, von der er nur träumen konnte. Als ob die schon eine ganze Runde gelaufen waren und er nicht mal einen Meter.

Entschlossen schob Leo einen Fuß vorwärts, dann den anderen. Es kam ihm mehr wie laufen vor als gleiten, aber was soll's, zumindest legte er etwas Strecke zurück. Vielleicht war das ja alles gar nicht so wild, wie er gedacht hatte. 

Adam war ihm zwei Meter voraus, auch ein wenig wackelig, aber mit deutlich mehr Selbstvertrauen, als Leo sich zusammenkratzen konnte. 

Irgendwie fehlte hier was zum Festhalten. Wenn er sich nur an einem Geländer entlanghangeln könnte, oder wenigstens...

Hastig unterbrach er den Gedanken. Adam bewegte sich mindestens doppelt so schnell wie er, was hieß, dass er ihm gleich meilenweit voraus sein würde, wenn Leo nicht sofort einen Zahn zulegte. 

Na los, das würde er doch wohl hinkriegen.

Das mit dem V behielt er im Gedächtnis, während er über das Eis schlitterte, entschlossen, Adam gleich einzuholen.

Ein kleines Mädchen mit blauer Mütze kurvte an ihm vorbei. Rückwärts.

Wie zur Hölle, dachte er und gab sein Bestes, irgendwie voranzukommen, auch wenn er sich lächerlich vorkam. 

"Adam", sagte er mit wackeliger Stimme, nur noch einen Meter hinter ihm. 

"Hm?" Adam schien darauf konzentriert, beim Wenden keine anderen Leute umzufahren. Dabei brauchte Leo hier eindeutig seine Hilfe, wenn er heute noch eine ganze Runde schaffen wollte.

Schon wieder zischte so einer mit Wahnsinngsgeschwindigkeit an ihm vorbei, und bei dem Versuch, sich die Technik abzuschauen, verrenkte Leo herrlich ungünstig seine Schulter.

Sein Fuß kam nicht hinterher, verzweifelt ruderte er mit den Armen, ein ersticktes "Adam!" auf den Lippen, und das nächste, was er spürte, war Schmerz.

Und Kälte.

Aber vor allem Schmerz.

Die undankbare Härte des Eises vertrug sich überhaupt nicht mit seinem Rücken, der es lieber weich mochte. Verdammtes Eis aber auch.

Hastig brachte er sich zurück in eine sitzende Position und fühlte die kleinen Schockwellen durch seinen Körper rauschen. Dabei war das doch wirklich nicht so dramatisch, selbst wenn seine schmerzende Hüfte anderes behauptete.

"Leo?"

Adam kam neben ihm zum Stehen, seine Miene schwankte zwischen Belustigung und Sorge. Beides absolut unnötig. Leo hatte Schlimmeres erlebt, viel Schlimmeres. Auch wenn ihm auf die Stelle nichts einfiel, das sich derart demütigend anfühlte. 

"Alles gut. Ich hab dir ja gesagt - warte - lass mich mal-"

Wieder hoch zu kommen war nicht annähernd so leicht, wie er gehofft hatte. Dass dieser Boden aber auch so verflucht rutschig sein musste!

"Hey." Vor ihm schwebte Adams ausgestreckte Hand, und Leo zögerte kein bisschen. Selbst mit Adams Hilfe war es keine leichte Aufgabe, wieder auf die Beine zu kommen. Als er endlich wieder stand, war Leo schon so erschöpft, dass er sich am liebsten an den Rand gesetzt hätte. 

Irgendwo ertönte ein Gong.

"Liebe Besucher, das Sitzen auf dem Geländer ist nicht gestattet."

Na danke auch.

"Alles gut", sagte er zu Adam und realisierte mit einem Schreck, dass er immer noch seine Hand hielt.

Andererseits... es fühlte sich verdammt gut an, sich an etwas festhalten zu können. Auch, wenn es Adam war. Besonders, wenn es Adam war. 

"Ich glaub nicht, dass das hier was für mich ist", murmelte er in den Kragen seiner Jacke hinein. Seine Hand fühlte sich wunderbar warm an zwischen Adams behandschuhten Fingern. 

Adam stupste ihn an der Schulter, worauf Leo beinahe wieder umkippte und ihm einen hilflosen Blick zuwarf. 

Adam seufzte. "Guck dir mal an, wie Pia und Esther das hinkriegen. Scheiße, sind die gut." Gerade glitten die beiden schon wieder an ihnen vorbei, eine weitere Runde hinter sich, während Leo und Adam bestenfalls zehn Meter geschafft hatten.

"Alles gut bei euch?", rief Pia herüber und fuhr in einem eleganten Bogen um sie herum.

Adam drückte Leos Hand. "Komm. Wenn die das schaffen, können wir das auch."

Leo war da nicht so überzeugt. Unauffällig schielte er zum Rand hinüber.

"Ich halt dich fest", ergänzte Adam, und herrje, was blieb ihm da anderes übrig, als es zu versuchen?

"Braucht ihr Hilfe?", kam es von Esther, die anscheinend selbst Mühe hatte, Pias flinken Bewegungen zu folgen. 

"Nee", grummelte Adam und zog Leo mit sich. Der hatte ganz schön Mühe, nicht wieder zu straucheln.

"Nicht so schnell, ich kann gar nicht - warte-"

Irgendwie gelang es ihnen, das Tempo aneinander anzupassen, sodass sie langsam, aber stetig vorankamen. Was daran so toll sein sollte, kapierte Leo immer noch nicht. Bis auf Adams Hand, die in seiner lag - der einzige gute Nebeneffekt. Nicht, dass sie eine Ausrede gebraucht hätten, aber damit war es so viel leichter. 

Fieberhaft blickte Leo auf seine Füße hinab und überließ es Adam, sicherzustellen, dass sie mit niemandem kollidierten. Ihm kam das alles so bekannt vor. Dabei war es fast zwanzig Jahre her, dass sie zuletzt...

"Leo? Versuch mal-"

Was genau er versuchen sollte, erfuhr Leo nicht mehr. Sein linker Fuß war auf Abwege geraten und stieß mit Adams rechtem zusammen. Sie kratzten über das Eis, begleitet von einem hässlichen Geräusch, und Leo wollte rasch das Gewicht verlagern, aber da war Adam ihm im Weg und er konnte nicht -

"Fuck, Leo-"

Und schon wieder verpasste er das Ende des Satzes. In seiner Panik hatte er sich an Adams Arm geklammert, verzweifelt nach Halt suchend - nur ging es Adam genauso. In einem Durcheinander aus wedelnden Armen und scharfen Schlittschuhkanten purzelten sie zu Boden. Für Adam war das ja eine Premiere, Leo hatte schon unglücklich Bekanntschaft mit der Eisfläche geschlossen.

Die Reihe an Schimpfwörtern, die Adam ausstieß, ließ Leo besorgt umherschauen, um sicherzugehen, dass sich nicht vielleicht irgendein Kind ein Beispiel daran nahm. 

Tatsächlich stand dort ein kleines Mädchen, das zu ihnen herüberschaute, aber die wirkte eher vergnügt und grinste unschuldig. Leo winkte ihr zu. Man durfte sich halt nicht unterkriegen lassen.

Adam und die nicht enden wollenden Flüche auf seinen Lippen schienen das anders zu sehen.

"Okay, komm, wir schaffen das", murmelte Leo und griff nach Adams Händen. Mühsam kämpften sie sich auf die Beine. Mittlerweile atmete Adam ein wenig schwer und wirkte längst nicht mehr so entspannt wie vor fünf Minuten. Als Leo ihn loslassen wollte, damit er ihn nicht wieder in den Untergang zog, packte Adam aber schnell wieder seinen Arm.

"Dich kann man hier keine Sekunde alleine lassen."

"Ich wollte nicht-"

"Was ist los, Leo?" Adam drehte sich, sodass sie einander gegenüberstanden. Vermutlich blockierten sie hier einen Teil der Bahn, weil sie sich kein Stück bewegten, aber das war Leo gerade egal. Viel wichtiger war dieser verdammt intensive Blick, mit dem Adam ihn ansah. "Du warst es doch, der mir das hier beigebracht hat."

Das stimmte. In der zehnten Klasse hatte irgendjemand einen Ausflug zur Schlittschuhbahn für eine gute Idee gehalten, und Leo war vorher schon mal mit Caro und seinen Eltern eislaufen gewesen. An dem Tag hatte es einige aufgeschürfte Hände und eine Beule am Kopf gegeben, aber glücklicherweise nur bei den Mitschülern, die sie eh nicht leiden konnten. Leo hatte sich, soweit er sich da erinnern konnte, gar nicht so dumm angestellt. Natürlich war Adam noch nie zuvor Schlittschuhlaufen gewesen, also hatte Leo es ihm gezeigt. Mindestens die Hälfte der Zeit lang hatten sie sich aneinandergeklammert und waren absichtlich langsam gefahren, um ungestört reden zu können. Die Schlittschuhbahn war, das hatte Leo schnell gelernt, ein idealer Ort für tiefe Gespräche. 

Was ihm später allerdings zum Verhängnis geworden war. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Caro ihn wieder hierher geschleppt, und Leo, der seit mindestens zehn Jahren nicht mehr in Schlittschuhen gesteckt hatte, war ihr keine sehr angenehme Begleitung gewesen. Nach dem vierten Sturz hatte er sich nur noch am Rand entlang getastet und war nach einer erfolgreichen ersten Runde vom Eis gestiegen, um Caro zuzusehen, wie sie ihre Runden drehte. Das hatte durchaus seinen Reiz, aber für ihn stand fest, dass er in seinem Leben keine Eisbahnen mehr betreten wollte.

Tja. Das Universum konnte schon fies sein.

Und jetzt schaute Adam ihn auch noch so neugierig an, mit sanften Augen und in die Stirn fallendem Haar, dass Leo nicht anders konnte, als ihm all das zu erzählen. 

Adam schüttelte nur lächelnd den Kopf. "Mensch, Leo. Wenn wir das in der Schule konnten, kriegen wir das auch jetzt hin."

Mit verdammt optimistischer Miene hakte er sich bei Leo unter, und dann ging es weiter. 

Leo zählte schon gar nicht mehr, wie viele Male Pia und Esther an ihnen vorbeiglitten, bis sie endlich die erste Runde hinter sich gebracht hatten. Zugegeben hätte er das nie, aber seine Füße schmerzten bereits ein wenig. Wer dachte sich auch solche unbequemen Schuhe aus? Seine weichen Winterstiefel vermisste er bitter.

"Pause?", fragte Adam.

Leo seufzte. "Geht schon. Wir können weiter, wenn du willst."

"Leo", sagte Adam leise, als sie sich weiter voran tasteten, "Früher mit der Schule... wie gut erinnerst du dich?"

Leo hatte eine Ahnung, worauf Adam hinauswollte. Es musste ein gutes Zeichen sein, dass Adam es von selbst ansprach, aber er war dennoch auf der Hut. An ihrer Vergangenheit zu rühren, barg immer unvorhersehbares Risiko.

Er wägte es ab. 

"Ziemlich gut", sagte er dann, weil es die Wahrheit war. "Du?"

"Bisschen." Adam sah ihn nicht an, zu konzentriert darauf, seine Füße zu bewegen. Irgendeine Ausrede gab es doch immer. "Da war dieser Junge, der dich mal zusammengeschlagen hat. Der ist hingeflogen und hatte eine riesige Beule. Ich hab mich nur geärgert, dass ich ihm die nicht selbst verpasst hab."

Das... war nicht, woran Leo gedacht hatte. Er erinnerte sich an den Jungen, ja, aber viel präsenter waren ihm die Worte, die sie auf dem Eis ausgetauscht hatten zwischen hektischen Bewegungen und einer Menge Gelächter. Dort auf dem Eis hatte ihnen niemand etwas anhaben können. Und da hatte Leo einfach gefragt.

Ob Adam das überhaupt noch wusste? Manchmal hatte Leo den Eindruck, Adam hatte seine Erinnerungen an Saarbrücken mit denen von seinen Reisen überschrieben, um zu vergessen. Aber für ihn funktionierte das nicht so. Das hier war seine Stadt, und die Erinnerungen verloren nicht an Kraft, selbst nicht die ans Schlittschuhlaufen.

"Wir haben ziemlich viel geredet, damals", sagte er behutsam, bot Adam eine Chance an, es von selbst zu erwähnen.

Aber wie es natürlich kommen musste, übersah Adam die Chance.

"Genau wie jetzt", sagte er stattdessen, und Leo hielt inne.

"Genau wie jetzt", murmelte er und war sich mit einer plötzlichen Heftigkeit Adams Arm bewusst, der um seinen geschlungen war, zusammengepresst, um Halt zu finden. Leo war gern jemand, an dem man sich festhalten konnte, er mochte es, verlässlich zu sein, immer da für Adam. Nur manchmal wünschte er sich, es gäbe etwas, an dem auch er sich festhalten konnte.

Er drehte den Kopf und blickte Adam an, und dann bemerkte er, dass Adam ihn auch anschaute, schon die ganze Zeit über. Vage nahm er zur Kenntnis, dass sie sich nicht mehr fortbewegten. 

Die Zeit um sie herum schien stillzustehen. Leo sah seinen Atem, der sich in einer eisigen Wolke mit Adams vermischte. 

"Leo", sagte Adam leise, wie geschmolzenes Eis, und Leo war sich sicher, absolut sicher, dass er endlich -

Wamm.

Irgendetwas Hartes kollidierte mit seinem Rücken. Er stürzte auf Adam zu, der instinktiv die Arme um ihn schlang, nur verhedderten sich ihre Füße so dermaßen blöd, dass sie mit angemessener Dramatik und aller Uneleganz der Welt zu Boden gingen. 

Leo landete hart auf den Knien und dachte, voller Inbrunst, fuck.

"Fuck", sagte Adam neben ihm, seine Arme immer noch mit Leos verknotet.

"Tschuldigung", piepste eine leise Stimme hinter ihnen. 

Leo seufzte. Mehrmals. Sein Knie war überhaupt nicht begeistert, schien aber immerhin noch heil zu sein. Ein rascher Blick in Adams Gesicht verriet ihm, dass auch er keine ernsthaften Schmerzen litt. Zumindest nicht physisch.

Das Gute war ja, dass Leo die Kunst des Wiederaufstehens mittlerweile beherrschte wie kein anderer, und er schaffte es sogar, auch Adam mit auf die Füße zu ziehen. Dann drehte er sich um.

Ein kleines Mädchen stand dort, das sie unschuldig angrinste. Nicht nur irgendeins. Dasselbe kleine Mädchen, das Leo vorher schon beobachtet hatte.

Adam musterte sie mit seinem ich-weiß-ganz-genau-dass-du-der-Serienmörder-bist-Blick, und Leo entschloss sich, lieber sofort einzuschreiten. 

"Hallo", sagte er freundlich. "Ich bin Leo."

Das Mädchen lächelte über ihrem Schal hervor. "Ich bin Maddy. Tut mir leid, dass Torsten euch gerammt hat."

Moment. Leo war doch nicht auf den Kopf gefallen, oder?

"Torsten?", fragte er vorsichtig. 

Maddy deutete auf das Ding, das neben ihr stand. Das pinguinförmige Ding mit dem roten Plastikgriff. 

Adam schnaubte leise. Leo interpretierte das einfach mal als belustigtes Schnauben.

"Alles klar. Torsten", sagte er. Offenkundig. Der Name stand ja sogar vorne auf dem Pinguin-Kopf, wie hatte er den übersehen können? Besser, er erwähnte nicht vor Maddy, dass sie hier zwei Kriminalhauptkommissare über den Haufen gerannt hatte. Beziehungsweise Torsten. 

"Ich kann das nicht steuern, wo ich hinfahre", sagte Maddy mit entschuldigender Miene.

"Same", brummte Adam.

"Deswegen hab ich Torsten", sprach Maddy weiter, ohne auf ihn einzugehen. "Der hilft mir."

Leo nickte freundlich. "Der hilft dir. Alles gut, es ist nichts passiert. Sind deine Eltern hier?"

"Die sind da am Rand", sagte Maddy schulterzuckend und griff wieder nach dem Pinguin. "Torsten und ich müssen jetzt weiter. Tschüss!"

Und dann sauste sie davon, mit einer Geschwindigkeit, die sich Leo auch nach einer halben Stunde Übung nicht im Entferntesten zutraute.

Seufzend hakte er sich wieder bei Adam unter. "Na komm."

Schweigend schlitterten sie weiter, und Leo dachte unweigerlich zurück an die wertvollen Sekunden, bevor Torsten sie angegriffen hatte. Adam war dabei gewesen, irgendetwas Wichtiges zu sagen. Aber anscheinend nicht wichtig genug, dass er es jetzt noch einmal versuchte. 

Willst du mit zu mir nach Hause kommen? Das hatte er gefragt, damals auf dem Eis, weil er so glücklich gewesen war und Adam auch und er das nicht wieder verlieren wollte. Nach einem Moment staunenden Zögerns hatten Adams Augen gestrahlt, und sein leises "Ja", war das Schönste, das Leo je gehört hatte. Dass Adam nicht zu Leo durfte, weil sein Vater ihm alles verbot, war eine andere Sache. Ein paar Mal hatten sie es heimlich getan, nach der Schule oder wenn Adams Vater unterwegs war. Hier auf dem Eis hatte Leo zum ersten Mal gefragt. Er war nervös gewesen, weil er noch nie jemanden zu sich eingeladen hatte, aber Adam war auch noch nie bei einem Freund zu Besuch gewesen, also war das okay.

Die Erinnerung war so klar, weil es so verdammt wenige Momente gab, in denen Leo diese ungetrübte Freude empfunden hatte. Zuerst dachte er, dieses kindliche Glück überhaupt nicht mehr spüren zu können, doch jetzt, wenn er Adam ansah -

"Leo!"

Er strauchelte, sein Arm rutschte ab, und dann war er am Boden. Diesmal ziepte der Schmerz wirklich heftig.

Gott sei Dank stand Adam noch auf den Beinen, jetzt allerdings mit sorgenvoll verzerrter Miene.

"Mann, du musst mal aufpassen! Kein Wunder, dass du hier so oft hinfliegst."

"Langsam reicht's mir", stöhnte Leo und ließ sich dankbar auf die Füße ziehen. Adam ließ ihn nicht los, sondern zog ihn berauschend nah an sich heran.

"Du machst Sachen", murmelte er, eine Mischung aus Sorge und etwas anderem, das Leo gar nicht identifizieren konnte, weil sich Adam jetzt zu ihm lehnte und einen flüchtigen, leichten Kuss auf seine Stirn drückte.

"Geht's dir gut?"

Alles tat ihm weh. Aber er blinzelte Adam verzaubert an.

"Denke schon", sagte er vorsichtig. 

Adam seufzte gedankenverloren. "Du weißt schon, dass ich deswegen mitgekommen bin."

Also tatsächlich wusste Leo das nicht. Er wusste nicht mal, wovon Adam hier überhaupt sprach. War wohl noch der Schock nach dem vierten Sturz.

Zum Glück schob Adam gleich eine Erklärung hinterher. "Dieser Schulausflug, mit dir auf dem Eis. Das ist eine der wenigen Erinnerungen, die nie wehgetan haben. Daran hab ich gedacht, als Pia das hier vorgeschlagen hat. Ich wollte... naja, keine Ahnung. Aber jetzt sind wir hier."

"Jetzt sind wir hier", stimmte Leo zu, ganz leise, und er konnte nur noch daran denken, wie aufgehoben er sich fühlte, hier in Adams Armen. 

"Steht ihr zwei echt die ganze Zeit hier rum?"

Oh. Diese verärgerte Falte auf Adams Stirn war entzückend. Er starrte über Leos Schulter hinweg, wo Pia vermutlich wieder irgendwelche krassen Moves hinlegte.

"Nicht dein Problem", rief er zurück. 

Mit höchster Vorsicht, um ja kein fünftes Mal auf die Fresse zu fliegen, drehte Leo sich um. Pia war offenbar dabei, Esther zu zeigen, wie man sich rückwärts fortbewegte. Die beiden hielten sich auch an den Händen, und das ging Leo ja nun wirklich nichts an, aber Esthers nicht ganz so konzentrierter Blick kam ihm irgendwie bekannt vor. Fast hätte er sie gewarnt, sich lieber nicht in Gedanken zu verlieren, aber eigentlich war Esther sowieso viel zu kompetent, um hier einfach so auszurutschen. 

Adam sah immer noch sauer aus. Vorsichtig hob Leo eine Hand und schmiegte sie an seine Wange, warme Finger auf Adams kühler Haut. 

"Ich hab nicht gedacht, dass du dich daran erinnerst", murmelte er. "Aber ich denk da ständig dran."

Adam sah ihn an, und sein Blick wurde so sanft, dass Leo nicht anders konnte, als ihm liebevoll über die Wange zu streicheln. 

"Eine Runde schaffen wir noch?"

Adam nickte und lehnte sich weiter in Leos Hand. "Eine Runde."

Die eine Runde zog sich beharrlich in die Länge. Leo gab sich Mühe, die Konzentration auf seinen Füßen zu halten, was ihm zunehmend schwerer fiel. 

Irgendwann ließ ihn ein leises "Hallo!" aufschrecken.

Hastig drehte er den Kopf und erblickte Maddy, die sich immer noch an Torsten festhielt.

"Hallo Leo", sagte sie. "Meine Eltern sagen, wir müssen jetzt gehen."

"Oh."

"Aber der Torsten, der bleibt hier, das hat Mama gesagt."

Leo nickte ihr aufmunternd zu. "Der gehört ja auch zur Ausstattung hier."

"Ja, und der Torsten", fing sie an zu strahlen, "der kann jetzt zu dir! Der kann dir helfen. Torsten ist ein viel besserer Freund als der da."

Seiner Miene nach zu urteilen wollte derda gleich etwas sagen, aber Leo knuffte ihn rasch in die Seite.

"Danke, Maddy."

"Hier!", quietschte sie fröhlich und schob Torsten zu Leo. "Tschüss, Torsten!" Dann lief sie auch schon davon, etwas wackelig auf den Beinen ohne ihren Pinguinfreund, aber ohne hinzufallen. 

Adams Brauen waren hochgezogen bis zum Gehtnichtmehr.

"Ist doch nett", sagte Leo schulterzuckend und packte den Plastikgriff an der Rückseite von Torsten. Dafür musste er sich ein wenig herunterbeugen, was auch nicht das Angenehmste war, aber vor Adam würde er das jetzt sicher nicht zugeben. Immerhin war Maddy wirklich nett gewesen. 

So schob Leo also jetzt Torsten vor sich her, während Adam langsam an seiner Seite lief. 

"Das ist lächerlich", verkündete er, aber Leo lachte nur.

"Willst du auch einen Torsten als Unterstützung?" Denn das war schon verdammt hilfreich, so ein Ding zu haben, das einen im Gleichgewicht hielt. Leo mochte diesen Torsten.

"Sicher nicht", grummelte Adam vor sich hin.

Pia konnte ihr Lachen kaum zurückhalten, als sie Torsten erblickte.

"Immerhin wisst ihr euch zu helfen", kommentierte Esther, die inzwischen elegante Rückwärtsbögen fuhr.

Und weil das gerade so Spaß machte, drehte Leo doch noch eine Runde mit Torsten. Adam brummte beleidigt, folgte ihm aber trotzdem. Mit der Hilfe des Pinguins traute sich Leo auch ein wenig mehr Geschwindigkeit zu und musste staunend feststellen, dass das Gleiten auf dem Eis vielleicht gar nicht so furchtbar war. 

Am Ende der Runde übergab er Torsten (durchaus mit tränenreichem Abschied) an einen kleinen Jungen, der gerade mit seinem Vater die Eisbahn betrat. Begeistert schob er den Pinguin vor sich her, und Leo blickte ihm lächelnd nach.

Ohne den Halt des Plastikteils musste er sich auf den letzten Metern allerdings doch wieder an Adam festhalten. Der wirkte immer noch beleidigt, entspannte sich aber ein wenig, als Leo nach seiner Hand griff.

Moment.

"Bist du deswegen sauer?", fragte Leo amüsiert. "Torsten war doch kein Ersatz für dich."

"Als ob." Adam sah ihn demonstrativ nicht an. "Wer gibt überhaupt so einem Plastikding Namen? Kindisch."

Leo unterdrückte ein Grinsen. Er strich Adam tröstend über den Arm und half ihm sogar unnötigerweise beim Abstieg von der Eisbahn. Weil das alles nichts half und Adam immer noch schmollte, zog Leo ihn anschließend zum Imbiss mit den Waffeln. Die dufteten schon die ganze Zeit so lecker, und der süße Geschmack musste doch wohl selbst Adam aufheitern. 

Zwar standen sie wirklich unentschuldbar lange an, aber schließlich konnten sie sich mit frisch gebackenen, puderzuckerbestäubten Waffeln am Stiel auf einer Bank neben der Eisbahn niederlassen. Adams Mienenspiel wandelte sich von genervtem Frust in ein herrliches Lächeln, nachdem er den ersten Bissen genommen hatte. 

Zufrieden lehnte Leo sich zurück, genoss die Aussicht und knabberte an seiner eigenen Waffel. Wunderbar warm und süß schmeckte die. Ein bisschen nach Vergangenheit.

Auf der Bahn sah er Esther und Pia vorbeiziehen, im Gleichschritt unterwegs, und dann ein Mädchen mit noch einem Torsten. Nur hieß der hier laut Schild nicht Torsten, sondern Lara. Auch schön. 

Dann wandte er sich wieder seiner Waffel zu.

"Guck mal", sagte Adam auf einmal und hob den Arm. "Torsten."

Dort stand tatsächlich der Junge, dem Leo den Pinguin überlassen hatte. Und neben ihm noch ein anderer Junge, der ziemlich verunsichert aussah. Beide umklammerten je eine Seite von Torsten und kamen so schneller voran, als Leo und Adam das vorhin geschafft hatten. Kurze Zeit später sah der zweite Junge schon nicht mehr so ängstlich aus.

Torsten war halt einfach toll.

Genau wie dieses kleine Lächeln auf Adams Gesicht, wegen dem Leo sogar seine halb aufgegessene Waffel ignorierte.

Adam hatte seine schon längst verputzt, nur ein wenig Puderzucker klebte noch an seinem Mundwinkel.

Und was blieb Leo da anderes übrig, als sich zu ihm zu lehnen und ihn mit aller Zuneigung, die er aufbringen konnte - was eine ganze Menge war - zu küssen? 

Schon früher hatte er das gewollt. Schon damals während des Schulausflugs, als sie sich so nah gewesen waren auf der Eisbahn. Sie hatten geredet und gelacht und trotz des Schneewetters war Leo so verdammt warm geworden, und er wollte... er wollte...

Jetzt konnte er es. 

Adam schob eine Hand in seinen Nacken, und das stellte dermaßen ablenkende Dinge mit ihm an, dass Leo auf die andere Hand gar nicht mehr achten konnte. Nur noch auf die Berührung seiner Finger, Adams weiche Lippen auf seinen, den süßen Geschmack zwischen ihnen geteilt. 

Das hier war ein ganz anderes Fallen als vorhin auf dem Eis, und als Leo schließlich die Augen öffnete, war ihm, als würde er schweben.

Bis Adam ihn ganz plötzlich auf den Boden der Tatsachen zurückriss. Dieser Mistkerl hatte den Rest von Leos Waffel geklaut und grinste ihm kauend ins Gesicht.

Leo musste lachen, ein bisschen zu überwältigt von dem vielen Fallen und Festhalten und Erinnern.

"Frech", murmelte er amüsiert, worauf Adam ihm noch einen schnellen, im wahrsten Sinnes des Wortes zuckersüßen Kuss auf die Lippen drückte. 

Irgendwo ertönte ein Gong.

"Liebe Besucher, bitte verlassen Sie die Eisfläche, während das Eis erneuert wird."

Leo war froh, dass sie schon einen Platz auf der Bank ergattert hatten, weil jetzt alle Eisläufer auf sie zu und der Imbissbude entgegen strömten. Wenig später tauchten Pia und Esther auf, beide mit dampfenden Tassen und einer Waffel in der Hand. Leo rutschte an den Rand zu Adam, um ihnen Platz zu machen, und legte einen Arm um seine Schulter.

"Immer noch sauer wegen Torsten?", murmelte er ihm zu.

"Nee. Torsten ist toll."

"Torsten?", hakte Pia nach, während sie mit Esther ihre Waffel teilte, und dann musste Leo natürlich erklären, wieso und weshalb Torsten die beste Erfindung auf diesem Planeten war. Pia und Esther hatten ihren Spaß, und Adam neben ihm wirkte so entspannt wie schon lange nicht mehr.

Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf Leos Gesicht. Diese teambildende Maßnahme konnte man wohl als erfolgreich bezeichnen.

Seine Füße ächzten zwar vor Schmerz, als er sich endlich von den Schlittschuhen befreite, aber letztendlich war das auch nicht mehr so wichtig.

Weil Adam auf ihn wartete, und dann musste Leo wieder an den Schulausflug denken. 

Und er fragte einfach.

 

 

Das Eis war gebrochen, die Spannung zwischen ihnen auch, und Leos Beine fühlten sich an, als wären sie das ebenfalls.

Mit einem Stöhnen vergrub er seinen Kopf tiefer im Kissen. Das war gestern einfach zu viel gewesen. Überwältigend gut, aber viel. Dass er nach der Aktion überhaupt noch Energie gehabt hatte und nicht sofort weggedämmert war, als sie ins Bett fielen, stellte fast ein Wunder dar. 

Jetzt wäre er jedoch am allerliebsten wieder in den Schlaf gesunken, so schön warm, wie das hier war, mit Adam, der friedlich neben ihm schlummerte. Oder auch nicht.

Ein nicht minder leises Stöhnen ertönte neben ihm, als Adam sich auf den Rücken drehte.

"Leo."

"Hm?"

"Hast du auch so grässlichen Muskelkater?"

"Und wie."

Leo rutschte herüber und rieb seine Nase an Adams Schulter. Er trug eins von Leos ausgeleierten T-Shirts, das sich gestern Abend auf die Schnelle finden ließ. "Meine Beine können heute nichts mehr."

"Bei mir ist es die Schulter", brummte Adam zurück, schlang aber währenddessen einen Arm um Leos Brust. 

"Und die Füße", murmelte Leo, der soeben herausfand, dass sein Kopf perfekt in Adams Halsbeuge passte.

Adam stieß einen langen Seufzer aus. "Fuck, ja, die Füße."

Es war so schön warm hier drin, keine Spur mehr von Eis. Leo schloss die Augen und gab sich der Geborgenheit hin, der Gewissheit, dass Adam hier sein durfte und nicht mehr gehen würde. 

Immerhin war Samstag, und kein Mensch, Mordfall oder Torsten konnte sie dazu zwingen, heute das Bett zu verlassen.