
Ein neuer Anfang
Die Nacht hatte sich über das Schloss gesenkt, und die Kutschen kamen langsam zum Stehen. Draco kletterte aus der Kutsche, spürte die kalte, frische Luft in seinem Gesicht und zog seinen Mantel enger um die Schultern. Um ihn herum stiegen die anderen Erstklässler aus, ihre Stimmen aufgeregt und voller Neugier. Der steinerne Torbogen von Hogwarts ragte hoch über ihnen auf, mächtig und einladend zugleich.
Draco ließ seinen Blick schweifen. Harry, Ron und Hermine standen direkt neben ihm. Ron hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt, während er mit großen Augen das Schloss anstarrte. Hermine konnte ihren Mund kaum schließen, so überwältigt war sie von der schieren Größe des Gebäudes. Harry hingegen wirkte stiller. Seine grünen Augen hatten einen Ausdruck, den Draco nicht ganz deuten konnte – eine Mischung aus Nervosität und Erstaunen.
„Das ist es also“, sagte Harry leise, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.
Draco nickte kaum merklich. „Ja, Hogwarts.“ Die Worte hatten einen bittersüßen Beigeschmack für ihn. Er war hier schon einmal angekommen, in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Doch dieses Mal war alles anders.
„Bewegt euch, Kinder, los jetzt!“ Die scharfe Stimme von Professor McGonagall riss ihn aus seinen Gedanken. Sie stand vor den großen, hölzernen Türen und winkte die Erstklässler zu sich. Mit ihrem strengen Blick sorgte sie dafür, dass niemand zurückblieb.
„Kommt schon“, sagte Draco und ging voran. Harry, Ron und Hermine folgten ihm, und gemeinsam betraten sie die Empfangshalle.
Die Halle war warm und einladend, die Steinwände von unzähligen Fackeln erleuchtet. Die Gruppe hielt an, während McGonagall sich umdrehte, um ihnen Anweisungen zu geben. „Hört gut zu“, begann sie mit ihrer klaren, autoritären Stimme. „In wenigen Momenten werdet ihr in die Große Halle geführt. Dort werdet ihr vor den Sprechenden Hut treten, der euch in eines der vier Häuser einteilt: Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw oder Slytherin. Euer Haus wird euer Zuhause in Hogwarts sein – eure Familie. Verhaltet euch respektvoll, und denkt daran: Der Hut macht keine Fehler.“
Draco fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Seine Erinnerungen an den Sprechenden Hut waren lebendig, als wäre es gestern gewesen. Würde der Hut diesmal anders entscheiden? Oder würde alles beim Alten bleiben?
Neben ihm flüsterte Ron: „Ich hoffe, ich komme nicht nach Slytherin.“
Hermine schüttelte tadelnd den Kopf. „Slytherin ist ein ehrwürdiges Haus. Nur weil es Vorurteile gibt, heißt das nicht, dass—“
„Schon gut, Hermine“, unterbrach Ron sie genervt.
Draco lauschte ihren Stimmen nur halb, sein Blick wanderte zur großen Doppeltür, die zur Großen Halle führte. Als McGonagall ihnen schließlich bedeutete, ihr zu folgen, setzte sich die Gruppe in Bewegung.
Die Große Halle war genauso beeindruckend, wie Draco sie in Erinnerung hatte. Tausende von schwebenden Kerzen erhellten den Raum, und die Decke, die magisch den sternenklaren Nachthimmel zeigte, zog alle Blicke auf sich. Die Haustische waren voll besetzt, ältere Schüler plauderten oder beobachteten neugierig die neuen Gesichter. Am Lehrerpult saßen die Professoren, jeder in seiner typischen Haltung: Dumbledore mit seinem freundlichen, weisen Lächeln, McGonagall streng, aber aufmerksam – und dann war da Snape.
Draco hielt den Atem an, als sein Blick auf den düsteren Zaubertrankmeister fiel. Snape saß reglos, seine schwarzen Augen glitzerten im Licht der Kerzen. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie immer, doch Draco wusste, dass sich dahinter unzählige Schichten verbargen. Snape war der Mann, der alles geopfert hatte, um Voldemort zu besiegen. Ein Held, der nie als solcher gefeiert wurde.
Nicht diesmal, dachte Draco fest. Dieses Mal würde er dafür sorgen, dass Snape überlebte.
„Alles in Ordnung?“ flüsterte Harry, der Dracos nachdenklichen Ausdruck bemerkt hatte.
„Ja, alles gut“, sagte Draco schnell und riss seinen Blick von Snape los.
Der Sprechende Hut lag nun auf einem Hocker vor dem Lehrerpult, und die Zeremonie begann. McGonagall rief die Namen der Schüler auf, einer nach dem anderen, und der Hut verkündete lautstark ihre Häuser. Der Jubel an den Tischen war herzlich, und Draco spürte die Spannung unter den Erstklässlern wachsen.
Ron wurde schließlich aufgerufen. Er wirkte blass, als er nach vorne ging, doch kaum hatte er den Hut aufgesetzt, rief dieser: „GRYFFINDOR!“ Ron sprang erleichtert auf und ging zu seinem Tisch, wo ihn seine Brüder mit lautem Applaus empfingen.
Hermine war die Nächste. Sie wirkte selbstbewusst, obwohl Draco den leichten Nervositätsblick in ihren Augen bemerkte. Der Hut schien länger zu überlegen, doch schließlich rief er ebenfalls: „GRYFFINDOR!“
Draco spürte, wie sein Herz schneller schlug, als McGonagall den nächsten Namen rief.
„Malfoy, Draco.“
Die Halle verstummte. Alle Augen richteten sich auf ihn, und Draco fühlte die erwartungsvollen Blicke der älteren Schüler, besonders der Slytherins. Er atmete tief durch, hob den Kopf und ging mit festen Schritten nach vorne.
Als der Hut ihm auf den Kopf gesetzt wurde, hörte er sofort die vertraute, heisere Stimme in seinem Kopf.
„Ah, ein Malfoy. Ich erinnere mich an dich… oder an eine Version von dir. Doch etwas ist anders. Du trägst das Gewicht der Vergangenheit. Interessant, sehr interessant. Mut und Ehrgeiz, Loyalität und Klugheit. Wo willst du hin, Draco Malfoy?“
Draco schluckte schwer. „Nach Slytherin“, dachte er bestimmt.
„Oh, wirklich?“ fragte der Hut. „Gryffindor wäre vielleicht eine passendere Wahl. Ein Neubeginn, eine andere Richtung.“
Draco zögerte, doch dann dachte er an Snape, an seine Eltern und an die Aufgabe, die vor ihm lag. „Slytherin“, wiederholte er.
„Sehr gut“, sagte der Hut schließlich laut. „SLYTHERIN!“
Der Applaus war höflich, aber nicht enthusiastisch. Draco setzte den Hut ab und ging zum Slytherin-Tisch, wo er sich auf einen freien Platz setzte. Er bemerkte die prüfenden Blicke seiner neuen Hauskameraden, doch er ignorierte sie.
Kurz darauf wurde Harrys Name aufgerufen. Die Halle hielt den Atem an, als er nach vorne ging. Der Hut brauchte lange, bevor er schließlich „GRYFFINDOR!“ rief. Der Jubel war überwältigend, und Harry setzte sich zu Ron und Hermine.
Draco bemerkte, wie Harry ihm einen kurzen, freundlichen Blick zuwarf, bevor er sich zu den anderen umdrehte. Draco nickte kaum merklich, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Essen, das nun auf den Tischen erschien.
Nach dem Festmahl führte der Slytherin-Professor die neuen Schüler in den Gemeinschaftsraum. Draco ging mit den anderen durch die kalten Korridore, vorbei an grünen Fackeln und alten Wandteppichen. Der Gemeinschaftsraum war genauso düster, wie er ihn in Erinnerung hatte, mit hohen Ledersesseln und einem Kamin, dessen Feuer grünlich flackerte.
Die anderen Schüler setzten sich oder begannen zu reden, doch Draco zog sich schnell in den Schlafsaal zurück. Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte an die Decke.
Ein neues Leben, dachte er. Ein neuer Anfang. Aber diesmal werde ich es richtig machen.
Mit diesem Gedanken schloss er die Augen und ließ die Ereignisse des Tages hinter sich. Der morgige Tag würde der Beginn von etwas Großem sein.