
Chapter 10
Der Slytherin-Gemeinschaftsraum war ungewöhnlich still. Fast alle Schüler hatten ihre Koffer gepackt und warteten auf den nächsten Morgen, um nach Hause zu fahren. Das Feuer im Kamin warf lange Schatten auf die Wände, und das grüne Licht, das durch die hohen Fenster fiel, ließ die ohnehin düstere Stimmung noch unruhiger wirken.
Harry saß in einem der schweren Ledersessel, während Draco seinen Mantel über die Sessellehne warf und sich mit einem leisen Seufzen auf das Sofa fallen ließ.
„Also bleibst du wirklich hier?“ fragte Draco schließlich und musterte Harry mit einem undeutbaren Ausdruck.
„Ja.“ Harry zuckte mit den Schultern. „Hogwarts ist das einzige Zuhause, das mir bleibt.“
Draco nickte langsam, als würde er eine unausgesprochene Wahrheit akzeptieren. Dann schwieg er eine Weile, bevor er leise sagte: „Ich wünschte, ich könnte das von Malfoy Manor auch behaupten.“
Harry runzelte die Stirn. „Freust du dich nicht darauf, nach Hause zu kommen?“
Draco ließ eine zynische Art Lachen hören, aber es war nicht wirklich amüsiert. „Sagen wir es so – es wird nicht langweilig.“ Er drehte gedankenverloren den Ring an seinem Finger. „Mein Vater ist… überzeugt, dass sich die Dinge bald ändern werden.“
Harrys Magen zog sich leicht zusammen. „Er meint, dass Voldemort gewinnt?“
Dracos Blick flog schnell zu ihm, als hätte ihn die offene Benennung des Namens überrascht. Dann sah er weg und betrachtete das Flackern der Flammen. „Er glaubt, dass es unvermeidlich ist.“
Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihnen aus, nur unterbrochen vom Knistern des Feuers.
Schließlich war es Harry, der die Frage stellte, die ihm seit Wochen im Kopf herumging. „Und du? Bist du dir sicher, dass du auf der richtigen Seite stehst?“
Draco rieb sich die Schläfe, als wäre die Frage komplizierter, als Harry es verstehen könnte. „Ich weiß es nicht, Potter.“ Seine Stimme klang müde, ehrlicher als sonst. „Mein ganzes Leben wurde mir gesagt, was richtig und falsch ist. Aber in den letzten Wochen…“ Er sah ihn an. „In den letzten Wochen habe ich mit dir unter einem Dach gelebt. Ich habe gesehen, wie du kämpfst, wie du nicht einfach klein beigibst. Und ich frage mich, ob mein Vater sich vielleicht irrt.“
Harry musterte ihn nachdenklich. Er dachte an all die Momente in den letzten Wochen – an das erste angespannte Abendessen im Slytherin-Gemeinschaftsraum, an Dracos Skepsis, als er neu ins Haus kam, an die Diskussionen über Umbridge und ihre Grausamkeit, an den Abend, an dem sie alle über die Folterfeder sprachen und Draco nichts dazu gesagt hatte. Er war immer noch derselbe arrogante Malfoy, aber es gab Risse in seiner Fassade.
„Ich weiß, dass du keine Wahl hast“, sagte Harry schließlich. „Aber ich will nur, dass du verstehst… Wir kämpfen nicht gegen deinen Vater. Wir kämpfen gegen Voldemort. Das ist nicht dasselbe.“
Draco sah ihn lange an, dann schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Das macht für ihn keinen Unterschied. Und eines Tages werde ich eine Entscheidung treffen müssen.“
Harry nickte langsam. „Ja, das wirst du.“
Draco stand auf, griff nach seinem Mantel und zögerte, bevor er sagte: „Pass auf dich auf, Potter.“
Harry sah ihm nach, als er in Richtung seines Schlafsaals verschwand.
„Du auch, Malfoy.“
Die Bibliothek war fast leer, nur ein paar Schüler blätterten leise in ihren Büchern. In einer Ecke saßen Ron und Hermine zusammen, vertieft in Notizen, als Harry auf sie zusteuerte. Sein Herz schlug schneller, als er sich ihrem Tisch näherte. Es war Wochen her, seit er sich das letzte Mal wirklich mit ihnen unterhalten hatte.
„Hey.“
Ron sah auf, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Hermine hingegen legte langsam ihre Feder weg, musterte Harry mit einem undurchdringlichen Ausdruck.
„Oh, schau mal“, sagte sie kühl. „Erinnert sich da jemand, dass er noch andere Freunde hat?“
Harry seufzte und setzte sich zu ihnen. „Ich weiß, dass ihr wütend seid. Aber wir haben keine Zeit für so was.“
Ron lachte trocken. „Keine Zeit? Du hast dir verdammt viel Zeit gelassen, um überhaupt mit uns zu reden.“
„Das ist nicht fair, Ron.“ Harry schüttelte den Kopf. „Ihr wisst genau, dass ich nicht einfach so aus dem Slytherin-Gemeinschaftsraum spazieren kann, ohne dass es auffällt.“
„Aber anscheinend passt es dir da ja ganz gut“, warf Ron bissig ein. „Ich sehe dich mit Malfoy, Zabini, Nott – als wäre alles bestens.“
„Das ist es nicht!“ Harrys Stimme wurde lauter, dann zügelte er sich. „Hört zu… Ich bin nicht hier, um mich zu rechtfertigen. Ich bin hier, weil wir etwas tun müssen. Voldemort wird stärker. Wir müssen uns vorbereiten, wir müssen lernen, wie wir kämpfen können. Und ich brauche eure Hilfe.“
Hermine zog die Stirn kraus. „Harry…“
„Bitte, Hermine“, unterbrach er sie. „Ich weiß, dass ihr Slytherins nicht vertraut. Aber das hier geht über alte Rivalitäten hinaus. Wir brauchen einander.“
Ron schnaubte. „Wir? Als ob! Du hängst doch jetzt mit denen ab. Warum fragst du nicht deine neuen besten Freunde?“
„Weil es nicht um Häuser geht, Ron! Es geht um das, was richtig ist!“ Harry lehnte sich vor. „Theo, Blaise und ich – wir suchen nach einem Ort, wo wir Verteidigung gegen die dunklen Künste üben können. Wir brauchen Leute, die mitmachen, die verstehen, worum es geht. Und ihr zwei seid die besten, die ich kenne.“
Ron lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Das fällt dir jetzt ein? Tja, Pech für dich. Ich werde sicher nicht mit ein paar Slytherins zusammenarbeiten.“
Hermines Lippen wurden schmal. „Ich verstehe, warum du denkst, dass du mit ihnen kooperieren musst, aber Harry… wir können Slytherins nicht trauen. Das sind die Kinder der Todesser! Ihre Familien unterstützen Voldemort, und wenn sie uns hintergehen–“
„Sie sind nicht alle wie ihre Eltern!“ fuhr Harry sie an. „Theo…“ Er hielt inne. Wie viel sollte er sagen? „Er ist nicht so, wie ihr denkt. Blaise auch nicht. Selbst Malfoy–“
„Hörst du dir eigentlich selbst zu?!“ Ron schlug mit der Faust auf den Tisch, was einige Schüler in der Nähe aufblicken ließ. „Du verteidigst Malfoy?! Den Kerl, der dich jahrelang gequält hat? Der mich als Blutverräter bezeichnet hat?“
„Ich verteidige niemanden!“ Harrys Hände zitterten. „Ich sage nur, dass es wichtiger ist, Voldemort zu stoppen, als alte Fehden weiterzuführen!“
Hermine sah ihn traurig an. „Harry… wir können das nicht.“
„Was?“ Er blinzelte.
„Mit Slytherins zusammenarbeiten“, erklärte sie leise. „Wir können nicht riskieren, dass sie uns verraten. Und ehrlich gesagt…“ Sie sah ihn direkt an. „Ich bin mir nicht sicher, ob du nicht schon zu sehr einer von ihnen geworden bist.“ Es war klar, dass sie damit nicht nur die Verbindung zu dem Hause Slytherin meinte. Sie meinte die Ideologie dahinter, sie meinte die Verbindung zu Voldemort.
Harry starrte sie an. Dann lachte er bitter. „Na klar. Weil Häuser wichtiger sind als alles andere, oder?“
Ron sagte nichts. Hermine senkte den Blick.
Harry schüttelte den Kopf und stand auf. „Vergesst es. Ich dachte, ihr wärt klüger als das.“
Er drehte sich um und marschierte zur Tür. Er war frustriert, erschöpft – und irgendwie auch verletzt. Das Gespräch mit Ron und Hermine war genauso verlaufen, wie er es insgeheim befürchtet hatte. Ihre Blicke voller Misstrauen, Hermines verbissene Enttäuschung, Rons offener Zorn.
„Slytherins kann man nicht trauen, Harry!“ hatte Ron geschimpft.
„Du weißt nicht, was du da tust“, hatte Hermine geflüstert.
Aber sie irrten sich.
Mit einem leisen Seufzen sprach Harry das Passwort und trat in den Gemeinschaftsraum der Slytherins. Das Feuer warf lange Schatten an die Wände, tauchte den Raum in ein sanftes Grün-Gold. Nur wenige Schüler waren noch wach.
Theodore Nott saß in einem der tiefen Ledersessel, ein Buch in der Hand. Sein Blick huschte über die Seiten, doch als Harry näherkam, legte er das Buch langsam auf die Armlehne und musterte ihn.
„Und? War das Wiedersehen tränenreich?“ fragte Theo trocken.
Harry ließ sich neben ihn auf das Sofa fallen. „Eher ein Desaster.“
Theo hob eine Augenbraue. „Granger und Weasley? Lass mich raten – Entsetzen, Wut, eine Prise Verrat?“
„So ziemlich.“ Harry fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Sie glauben, ich hätte mich gegen sie entschieden.“
Theo lehnte sich zurück, seine Augen funkelten amüsiert. „Hast du?“
Harry sah ins Feuer. „Ich habe mich nicht gegen sie entschieden… aber ich habe mich auch nicht gegen Slytherin entschieden.“
Theo nickte langsam, als würde er das Abwägen. „Und das verstehen sie nicht?“
„Sie wollen es nicht verstehen.“
„Oder sie können es nicht.“ Theo zuckte mit den Schultern. „Manche Menschen brauchen klare Feindbilder. Wenn sie anfangen würden zu hinterfragen, ob wir wirklich alle skrupellose Todesser in Ausbildung sind, müssten sie auch hinterfragen, ob ihre eigenen Vorurteile richtig sind.“
Harry presste die Lippen zusammen. „Ich habe gehofft, dass sie darüberstehen.“
„Tja.“ Theo ließ seinen Blick über den Raum schweifen. „Du hast wohl gelernt, dass auch Gryffindors nicht unfehlbar sind.“
„Ich will sie trotzdem nicht aufgeben“, murmelte Harry.
Theo musterte ihn eine Weile, dann lehnte er sich nach vorne. „Vielleicht kommen sie irgendwann zur Vernunft.“
Harry seufzte. „Und wenn nicht?“
Theo legte den Kopf schief. „Dann hast du immer noch uns.“
Harry blinzelte. Es war ein einfacher Satz, fast beiläufig ausgesprochen, doch es traf ihn tief. Die letzten Wochen in Slytherin waren chaotisch gewesen – aber auch… anders, als er es erwartet hatte.
Und vielleicht war das gar nicht so schlecht.
Mit einem müden Lächeln lehnte er sich in den Sessel zurück. „Ja. Ich schätze, das habe ich.“
Harry war sich nicht sicher, ob Theo das nur so gesagt hatte oder ob es tatsächlich bedeutete, dass er in Slytherin… dazugehören könnte. Es war ein seltsamer Gedanke. Noch vor wenigen Monaten hätte er es für unmöglich gehalten, sich inmitten von Slytherins irgendwie wohlzufühlen.
Doch jetzt?
Er sah Theo von der Seite an. Der Slytherin hatte sich wieder seinem Buch zugewandt, doch seine Haltung war entspannt. Er war niemand, der seine Worte leichtfertig wählte. Und er hatte Harry in letzter Zeit mehrmals gezeigt, dass er ehrlich zu ihm war.
„Was würdest du tun?“ fragte Harry schließlich.
Theo sah von seinem Buch auf. „In Bezug auf?“
„Wenn du an meiner Stelle wärst. Würdest du weiter versuchen, Ron und Hermine zu überzeugen? Oder sie einfach lassen?“
Theo schnaubte leise. „Ich bin nicht du, Harry. Aber…“ Er klappte das Buch zu und sah ihn nachdenklich an. „Du kannst niemanden zwingen, dich zu verstehen. Vielleicht brauchen sie einfach Zeit.“
Harry fuhr sich durch die Haare. „Und wenn wir keine Zeit haben?“
Theo warf ihm einen scharfen Blick zu. „Wegen Voldemort?“ Harry nickte.
Ein Moment der Stille entstand zwischen ihnen. Dann sagte Theo leise: „Dann musst du dich auf die Menschen verlassen, die bereit sind, dir zu helfen.“
Harry spürte, wie sich ein Knoten in seiner Brust löste.
„Und du bist bereit?“ fragte er leise.
Theo musterte ihn einen Moment, bevor er mit einem schiefen Lächeln antwortete: „Ich habe mich bisher nicht beschwert, oder?“
Harry lachte leise. „Nein. Und das ist irgendwie seltsam.“
„Ich bin ein Mysterium“, sagte Theo trocken und lehnte sich zurück.