
Chapter 5
Der Slytherin-Schlafsaal war am Morgen ein düsterer, kühler Ort. Das Wasser des Schwarzen Sees warf grüne Lichtreflexe an die gewölbte Decke, doch abgesehen von einem gelegentlichen Blubbern war es still.
Zumindest bis jetzt.
Mit einem dumpfen RUMMS flog die Tür auf, und Theodore Nott trat mit einer Selbstverständlichkeit ein, als wäre es sein eigenes Zimmer.
„Aufstehen, ihr Schlafmützen!“ rief er laut, während er ohne zu zögern an Dracos Bett zog und die Vorhänge zur Seite riss.
Draco stöhnte genervt. „Nott, falls du sterben willst, sag’s einfach – ich erledige das gerne persönlich.“
„Das würde mir zu viele Hauspunkte kosten.“ Theodore grinste und wandte sich Blaises Bett zu, dessen Kopf unter einem Kissen verborgen war. Ohne ein Wort nahm er das Kissen, hob es hoch und ließ es mit einem Plumps auf den Boden fallen.
„Merlin, Nott… warum bist du so?“ murmelte Blaise schläfrig.
„Weil ich’s kann.“
Theodore wandte sich schließlich zu Harry um, der halb auf der Seite lag, einen Arm über die Augen gelegt. Er wirkte noch nicht ganz wach, also tat Theodore, was er für angemessen hielt – er setzte sich einfach auf Harrys Bett und schubste ihn mit dem Knie in die Seite.
„Potter, wenn du noch länger schläfst, denkt Umbridge, du hättest dich heimlich nach Gryffindor zurückgeschlichen.“ Harry öffnete ein Auge und blinzelte ihn müde an. „Bin beeindruckt, dass du schon so früh so nervig sein kannst.“
„Naturtalent.“
Draco richtete sich langsam auf, sein blondes Haar vollkommen durcheinander. „Was willst du überhaupt hier, Nott?“
Theodore zuckte mit den Schultern. „Dachte, ich sehe mal nach, ob Potter noch lebt, oder ob du ihn im Schlaf erdolcht hast.“
Draco verzog spöttisch den Mund. „Und dann? Wärst du trauern gekommen?“
Harry ließ sich langsam nach vorne sinken, rieb sich den Nacken und sah zu Draco rüber. „Wenn du mich umbringen willst, Malfoy, dann solltest du’s wenigstens richtig machen und mich nicht jede Nacht beobachten.“
Draco funkelte ihn an. „Ich beobachte dich nicht!“
„Doch, das tust du.“
„Nein.“
„Absolut.“
Blaise, der sich inzwischen halb aufgesetzt hatte, gähnte. „Ich hab’s gesehen. Du starrst Potter an, als würdest du darauf warten, dass er sich in ein wildes Tier verwandelt.“
„Das ist nicht wahr!“ Dracos Stimme klang einen Tick zu hoch.
Theodore grinste. „Oh, doch. Ich würde sagen, Potter ist offiziell dein neues Studienobjekt.“
Harry legte gespielt nachdenklich den Kopf schief. „Vielleicht sollte ich’s einfacher machen und dir gleich sagen, was ich vorhabe. Dann musst du mich nicht so beunruhigend anstarren.“
Draco kniff die Augen zusammen. „Ich könnte dich auch einfach verfluchen.“
„Du könntest es versuchen.“
Bevor Draco antworten konnte, zog Harry seine Faust zurück und verpasste ihm einen Schlag auf den Oberarm.
Draco keuchte dramatisch auf und hielt sich die Stelle. „Hast du mich gerade geschlagen, Potter?!“
„Nenn es eine freundliche Erinnerung, dass ich keine Schlafüberwachung brauche.“
Theodore lachte leise, während Blaise amüsiert beobachtete, wie Draco sich entrüstet den Arm rieb.
Schließlich verdrehte Draco die Augen und warf Harry ein mürrisches, aber nicht ganz ernst gemeintes „Idiot“ entgegen.
Doch irgendetwas hatte sich verändert. Die Spannung, die die letzten Tage zwischen ihnen gehangen hatte, war plötzlich nicht mehr so erdrückend.
Draco ließ sich mit einem genervten Hmpf zurück in sein Bett fallen. „Also gut, Potter. Ich werde aufhören, dich zu beobachten. Aber wenn du Unsinn treibst, werde ich der Erste sein, der dich ans Messer liefert.“
Harry grinste und streckte sich. „Freu mich schon drauf.“
Nach der morgendlichen Störung durch Theodore zogen sich Draco, Blaise und Harry langsam aus ihren Betten und machten sich für den Tag fertig.
Draco stand bereits im Badezimmer vor dem breiten, mit grünem Marmor eingefassten Waschbecken und putzte sich mit energischen Bewegungen die Zähne. Sein Spiegelbild beobachtete ihn kritisch, als er den Schaum ausspuckte und sich dann zu den anderen drehte.
„Ich sag’s euch, Ravenclaw wird keinen Hauch einer Chance haben,“ sagte er selbstbewusst, während er sich die Haare mit den Fingern richtete. „Flint hat’s vielleicht nicht so mit Taktik gehabt, aber ich habe einen Plan. Und mit Montague als neuen Treiber haben wir endlich jemanden, der den Klatscher nicht wie eine plumpse Feder behandelt.“
Blaise gähnte und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Oder wie einen mordlustigen Irrwisch?“
„Details,“ winkte Draco ab und fuhr sich weiter durch das blonde Haar. „Wir haben alles durchgeplant. Wenn sich keiner von diesen Ravenclaw-Buchwürmern plötzlich in einen Klatscher verwandelt, dann gewinnen wir locker.“
„Du vergisst Chang,“ warf Blaise ein. „Die kann fliegen.“
„Chang ist überbewertet,“ entgegnete Draco spöttisch. „Ihre Wendigkeit wird ihr auch nichts bringen, wenn wir sie von Anfang an unter Druck setzen. Wir dominieren das Spiel. Punkt.“
Harry sagte nichts dazu, während er sich am Waschbecken das Gesicht wusch. Es war komisch, hier zu stehen und über das Slytherin-Quidditch Team zu reden, als hätte er jemals dazugehört.
Draco ließ sich schließlich zufrieden mit seinem Spiegelbild zurückfallen, schnappte sich seine Schulrobe und verließ mit Blaise das Badezimmer. „Wir sehen uns in der Großen Halle, Potter. Versuch, nicht wieder Gryffindor-Gesichter zu ziehen – es verdirbt den Appetit.“
„Werde mich bemühen,“ erwiderte Harry trocken.
Als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel, herrschte für einen Moment Ruhe. Harry trocknete sich ab und blickte auf sein Spiegelbild. Sein Haar lag wie immer wirr, sein Gesicht wirkte müde – aber nicht so fremd, wie er es erwartet hatte.
„Traurig?“
Harry drehte sich überrascht um. Theodore stand noch im Raum, lehnte mit verschränkten Armen gegen die Wand und sah ihn ruhig an.
„Was meinst du?“ fragte Harry, obwohl er es eigentlich wusste.
Theodore nickte in Richtung Tür. „Dass du nicht mehr spielst.“
Harry zuckte mit den Schultern, aber es war mehr eine abwehrende Geste als eine ehrliche Antwort. „Ja. Natürlich.“
Er wusste nicht, ob es ihm gut oder schlecht tat, das laut auszusprechen.
„Du könntest versuchen, dich ins Team zu kämpfen,“ meinte Theodore nachdenklich.
Harry schnaubte. „Ja, klar. Das wäre bestimmt wunderbar für meine Beziehung zu Malfoy.“
Theodore grinste leicht. „Du meinst, die existierende Feindschaft noch weiter eskalieren lassen?“
„Genau die.“
Theodore betrachtete ihn einen Moment, dann sagte er ruhig: „Es ist seltsam, dich hier zu sehen, aber du passt besser rein, als du denkst.“
Harry blinzelte überrascht. „Ist das so?“
Theodore zuckte mit den Schultern. „Malfoy wird sich irgendwann beruhigen. Und vielleicht solltest du nicht für immer darauf verzichten, das zu tun, was du liebst.“
Harry betrachtete ihn nachdenklich, dann ließ er seinen Blick wieder in den Spiegel wandern.
Vielleicht hatte Theodore recht. Vielleicht sollte er das Quidditch-Feld nicht so einfach aufgeben. Aber er wusste auch, dass er vorsichtig sein musste.
Er hatte schon genug Schwierigkeiten, sich hier einzufinden – und er wusste, dass es mit Malfoy noch nicht vorbei war. Quidditch musste also erst einmal warten.
Die Kerker waren kühl, als Harry und Theodore sich gemeinsam auf den Weg in die Große Halle machten. Der Geruch von feuchtem Stein hing in der Luft, vermischt mit einem leichten Hauch von Zaubertrankzutaten aus Snapes Klassenzimmer. Es war seltsam, sich mittlerweile daran zu gewöhnen, doch Harry merkte, dass es ihm weniger ausmachte als noch vor ein paar Wochen.
„Mal sehen, ob Malfoy dich heute früh in Ruhe lässt,“ murmelte Theodore neben ihm mit einem schiefen Grinsen.
Harry schnaubte. „Das wäre ein Wunder.“
Als sie in der Großen Halle ankamen, war der Slytherin-Tisch bereits gut besetzt. Blaise und Daphne saßen nebeneinander und unterhielten sich leise über den bevorstehenden Unterricht, während Pansy und Draco auf der anderen Seite des Tisches saßen.
Harry erwartete, dass er sich wieder diesen vorsichtigen, prüfenden Blicken stellen musste – dass jemand einen kühlen Kommentar über den „verlorenen Gryffindor“ machen würde. Aber als er sich neben Theodore setzte, sah Blaise kurz auf, nickte ihm zu und fragte: „Hast du schon gehört? Malfoy glaubt immer noch, dass Ravenclaw eine echte Bedrohung für das Spiel wird.“
„Lächerlich,“ kommentierte Draco mit vollem Mund. „Die haben niemanden, der auch nur annähernd gegen mich ankommt.“
Harry zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht liegt das daran, dass du der einzige bist, der sich für unbesiegbar hält.“
Blaise prustete vor Lachen, während Draco ihn mit einem missbilligenden Blick bedachte. „Sag das nochmal, Potter, dann wirst du es bereuen.“
„Ich kann’s dir auch aufschreiben, wenn du willst,“ erwiderte Harry trocken.
Daphne schüttelte den Kopf, während sie sich eine Tasse Tee einschenkte. „Malfoy, du bist ja selbst schuld. Du hast erwartet, dass er dir zustimmt?“
Draco funkelte sie an, doch nach einem Moment verdrehte er nur die Augen und wandte sich seinem Frühstück zu.
Pansy sah Harry mit einem nachdenklichen Blick an. „Du bist ja fast erträglich, Potter.“
„Wow, danke,“ sagte Harry sarkastisch und nahm einen Bissen Toast.
Das Frühstück verlief besser, als er erwartet hatte. Die Gespräche wirkten natürlicher, die Blicke waren nicht mehr ganz so skeptisch, und Harry stellte mit Erstaunen fest, dass er sich nicht fehl am Platz fühlte.
Doch als er sich nach dem Frühstück verabschiedete und Richtung Ausgang der Halle lief, hörte er plötzlich eine vertraute Stimme hinter sich:
„Harry!“
Er blieb stehen und drehte sich um. Ron Weasley kam auf ihn zu, sein Gesicht angespannt, die Hände zu Fäusten geballt.
„Was war das?“ fragte Ron scharf. „Du saßt da, als würdest du dazugehören! Als wäre es… als wäre es normal!“
Harry seufzte. Natürlich hatte Ron ihn beobachtet.
„Ron,“ begann er ruhig, „ich lebe dort. Natürlich muss ich irgendwie mit ihnen klarkommen. Und einige sind sogar schwer in Ordnung.“
Ron schnaubte. „Schwer in Ordnung? Das ist Slytherin, Harry! Hast du vergessen, mit wem du da am Tisch sitzt?“
„Nein, hab ich nicht,“ erwiderte Harry kühl. „Aber vielleicht solltest du mal überlegen, dass nicht alle so sind, wie du denkst.“
Ron schüttelte den Kopf. „Hermine macht sich Sorgen um dich. Ich mache mir Sorgen um dich. Sie… sie machen etwas mit dir!“
„Niemand macht irgendwas mit mir, Ron,“ sagte Harry, die Geduld langsam verlierend. „Ich bin immer noch ich.“ Ron sah ihn einen Moment lang an, dann schüttelte er wütend den Kopf. „Das glaubst du wirklich, oder?“
Harry sagte nichts.
Ron machte einen Schritt zurück. „Na schön. Aber wenn du irgendwann merkst, dass du dich geirrt hast, dann… dann sag Bescheid.“
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Ron um und stapfte davon.
Harry blieb stehen, die Worte seines Freundes hallten noch in seinen Gedanken nach.
Er spürte eine Präsenz neben sich und drehte den Kopf. Theodore stand locker an einem Pfeiler gelehnt und musterte ihn ruhig.
„Und?“ fragte Theodore. „Hat er dir gesagt, dass du den dunklen Lord nicht aus Versehen wieder auferwecken sollst?“
Harry lachte trocken. „Fast.“
Theodore legte den Kopf schief. „Glaubst du, er hat recht?“
Harry zögerte, blickte zurück in die Halle, wo der Slytherin-Tisch noch voller Leben war. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein.“