
Flüssig
Was auch immer Loki erwartet hatte: das nicht! Er hatte mit Dunkelheit und Kälte gerechnet, mit Orientierungslosigkeit und sogar mit einer Art «raumleerem» Raum, aber ganz sicher nicht mit dem, was sich jetzt seinen Augen bot: mit diesem überirdisch schönen Ort, der nur aus Fels zu bestehen schien. Jedoch aus Fels, der in den unterschiedlichsten Farben leuchtete. Sogar der Himmel – wenn es denn so etwas wie ein Himmel war – war voll glitzernder Steine. Wunderschön. Atemberaubend. Als ob man sich auf einmal inmitten eines verzauberten Kristalls befand.
Felsen, wohin das Auge blickte: rote, blaue, gelbe, violette, grüne, mehrfarbige Felsen. Schimmernd und faszinierend.
Loki war klar, dass das Schwarze Element dieses Reich erschaffen haben musste. Es hatte bereits bewiesen, dass es Gestein beherrschte. Und vermutliche war es einer dieser Felsen rings um ihn her. Nur welcher?
Er tastete mit seinen magischen Sinnen die Umgebung ab, aber alles, was er wahrnehmen konnte, war lebloses Gestein. Keine Seele ausser ihm – in welcher Form auch immer – schien sich hier aufzuhalten.
Das konnte unmöglich sein. Loki wusste, dass ES hier war. Bloss wo?
Er kam sich wie auf dem Präsentierteller vor. Aber die Felsen würden keinen Schutz bieten, denn das Schwarze Element kontrollierte sie alle. Und ja, er war nur mit seinem Bewusstsein hier. Aber nein, das würde nichts daran ändern, dass das ES ihn sehen konnte.
Wofür er auch gleich den Beweis erhielt.
Einer der Felsen zu seiner Rechten begann sich auf einmal zu bewegen, und innert weniger Momente hatte sich daraus ein Koloss geformt, der auf Loki zustapfte. Einen flüchtigen Augenblick lang hoffte der Magier, dass der Steinkoloss ihm nichts anhaben konnte, da er nicht mit einem Körper anwesend war, aber als dieser seine Hand ausstreckte, um ihn zu packen, wusste er augenblicklich, dass dies ein Trugschluss war.
Loki verdankte es einzig seinen perfekt ausgebildeten Reflexen, dass sein Bewusstsein der Pranke entwischen und sich in Sicherheit bringen konnte.
Leider hatte der magische Blitz, mit dem er den Koloss umzuhauen versuchte, nur einen minimalen Effekt. Oder, um es treffender zu sagen: gar keinen. Das Monster zuckte kurz zusammen und bewegte sich anschliessen ungehindert weiter.
Mist! Sah so aus, als würden seine Waffen hier komplett versagen!
Das konnte heiter werden. Vor allem, da von dem Schwarzen Element noch immer nichts zu sehen respektive zu spüren war.
Sah man davon ab, dass sich immer mehr Kolosse um Loki herum zu formen begannen.
Wo zum Kuckuck steckte bloss das Schwarze Element? Während Loki den Steinkolossen auswich, so gut es ging, tasteten seine Sinne nach wie vor die Umgebung ab. ES musste doch hier irgendwo sein! Er wusste es, er war sich absolut sicher.
Aber er fand nichts.
Und es wurde immer schwieriger, den lebendig gewordenen Steinen auszuweichen und den Geschossen, die sie in seine Richtung schleuderten. So schwierig, dass ihn schliesslich mehrere Gesteinsbrocken trafen.
Was weh tat – trotz der Tatsache, dass Loki gar nicht körperlich anwesend war.
Verflixt, das Unterfangen hier entpuppte sich zusehends als Himmelfahrtskommando!
Und zu allem Unglück konnte Loki auch deutlich wahrnehmen, dass es seinen Gefährten auf der anderen Seite – in dem dunklen Raum, in dem er sie zurückgelassen hatte – immer schlechter ging. Und dass seine «Lokis» nach und nach schwächer wurden.
Ganz langsam stieg so etwas wie Verzweiflung in ihm hoch. Sollte das etwa doch das Ende sein?
Da fiel ihm das Buch wieder ein und ein Wort, das er dort gelesen hatte: flüssig.
«Flüssig»
Sobald dieser Gedanke in ihm war, wurde er ihn nicht mehr los. Es war, als spräche auf einmal jemand – etwas – zu ihm und flüstere ihm dieses Wort zu. Unaufhörlich.
Flüssig!
Loki stutzte. Was sollte das bedeuten? Er konnte sich nicht wirklich einen Reim darauf machen.
Flüssig, flüssig, flüssig...
Er dehnte das Wort, liess es auf der Zunge zergehen.
Flüssig...
Der Gedanke liess sich nicht mehr abschütteln.
Sprach das Buch zu ihm? War es das Buch, das dieses Wort in sein Bewusstsein brannte und es nicht zuliess, dass dass er an etwas anderes dachte?
Flüssig...
Und dann wusste er, was zu tun war!
Das Schwarze Element war bester Laune. Sein Schutzzauber hielt, Loki konnte ES weder sehen noch spüren. Und die Steinkolosse taten ebenfalls ihren Dienst. Noch konnte der Magier ihnen ausweichen und die auf ihn niederprasselnden Steinsalven abwehren.
Noch.
Aber seine Reflexe wurde schwächer und so auch seine Fähigkeit zur Regeneration. Das Schwarze Element spürte, dass es beinahe gewonnen hatte. Und wenn der lästige Loki erst mal aus dem Weg war, stand dem endgültigen Sieg nichts mehr im Weg.
Zum Glück war der Magier in die Falle getappt, die ES für ihn vorbereitet hatte. Einen Moment lang hatte ES befürchtet, er würde IHM nicht hierher folgen. Würde erkennen, dass er ES in seiner ureigensten, selbst geschaffenen Welt kaum besiegen konnte.
Aber hier war er. Schwach und beinahe am Ende.
Heisses Triumphgefühl stieg in IHM auf. Dieser Sieg war so leicht gewesen, so unglaublich einfach. Es war herrlich!
Es war einfach absolut...
...glitschig?
Es war etwas, das er schon lange nicht mehr getan hatte. Aber nicht, weil es so kompliziert gewesen wäre, sondern schlicht und einfach deshalb, weil es sich eigentlich nur um eine der ersten Übungen handelte, die Magier benutzten, um ihre Fähigkeiten zu verbessern.
Von wirklichem Nutzen war diese einfache Form der Magie kaum. Zumindest hatte Loki sie noch nie wirklich benötigt.
Bis heute.
Heute würden die Schwingungen, die er erzeugte, dafür sorgen, dass sich die Felsen um ihn her zu verflüssigen begannen. Dass sich das harte Gestein um ihn herum in zähen Schleim verwandelte. Zusammen mit der uralten Magie aus dem Buch, deren Wirkung er freigesetzt hatte und die noch immer anhielt.
Da war diese Stimme in ihm, die ihm immer wieder das Wort «flüssig» zuflüsterte. Loki war sich jetzt sicher, dass das Buch zu ihm sprach. Dass es ihn anleitete.
Und er hatte nicht vor, diese Anleitungen zu ignorieren.
Er breitete seine unsichtbaren Arme aus und konzentrierte sich. Da er nicht körperlich anwesend war, würde ihn das Ganze sehr viel mehr Kraft kosten, als es üblicherweise der Fall war. Aber das spielte keine Rolle. Er würde das durchziehen, koste es was es wolle.
Die Luft um ihn herum begann zu flimmern und das ohnehin schon leuchtende Gestein funkelte auf einmal noch mehr. Die von Loki erzeugten Schwingungen breiteten sich aus und erfassten eine Felsformation nach der anderen. Sie begannen zu vibrieren, erst nur ganz leicht, dann immer mehr. Und schliesslich veränderte sich die feste Masse und wurde...
...flüssig.
Langsam aber unaufhaltbar transformierten sich die Steine in dieser Welt in eine schleimige, zähflüssige Masse. Zumindest fast alle.
Es war Zeit, Eysma um Hilfe zu bitten. Ihre unterstützende Magie würde Lokis Kraft verstärken und dafür sorgen, dass sich die ganze Welt um ihn herum buchstäblich verflüssigte.
"Eysma" rief er die Magierin in Gedanken.
Und sie hörte ihn - und half - sofort!
Ihrer beider Zau ber begann zu wirken. Und dann durchdrang ein Schrei die Stille. Ein langgezogener, endloser Schrei: erst wütend, dann zusehends verzweifelter.
Das Schwarze Element kämpfte um sein Leben!
Was geschah hier auf einmal? Eben noch hatte ES mit jeder Faser SEINES Seins gespürt, dass IHM der Sieg sicher war, und nun begann ES plötzlich, schwächer und schwächer zu werden... Woher wusste dieser verfluchte Magier, dass die Festigkeit des Steins SEINE Sicherheit war und dass eine komplette Verflüssigung SEINER Welt ES töten würde? Das wusste niemand! Nicht einmal Odin war das bekannt gewesen, weshalb er ES auch nicht wirklich hatte vernichten können.
Aber Loki wusste es anscheinend. Und hilflos musste das Schwarze Element mitansehen, wie sich die Welt um ES herum mehr und mehr in flüssigen, glitschigen Schleim verwandelte.
Wie ES sich in flüssigen, glitschigen Schleim zu verwandeln begann!
ES sammelte all seine Kraft um den Prozess aufzuhalten, scheiterte aber bereits am Versuch. Das hier war einfachste Magie: wie konnte sowas sein?
Lokis Kräfte zehrten an IHM, liessen SEINE Atome vibrieren und verwandelten die Zellen schliesslich eine nach der anderen. Denn anders als Loki war das Schwarze Element tatsächlich hier. Körperlich hier.
Und aus diesem Grund konnte ES diesen Kräften auch nicht entfliehen. Was immer ES auch versuchte: SEINE von Anfang an schwache Gegenwehr erlahmte zusehends.
Das Leben begann aus IHM herauszufliessen...
Buchstäblich.
Thor und die anderen bemerkten die Veränderung sofort. Zum einen wurden die Steinkolosse, die sie angriffen, auf einmal merkwürdig langsam, fast so, als müssten sie gegen die Schwerkraft ankämpfen. Und dann veränderte sich auch die Luft um sie herum auf drastische Weise. Erst begann sie nur zu flimmern, doch dann schimmerte sie plötzlich in allen Farben.
Und dann begann der Boden unter ihren Füssen zu schwanken.
Oder, um es genauer zu sagen: sich zu verflüssigen.
Da hörte Thor auch schon Lokis Stimme in seinem Kopf: «Raus hier! Thor, schaff sie raus!»
'Wie denn?' wollte der blonde Donnergott fragen, als sich die Wände rings um ihn her von einer Sekunde auf die andere aufzulösen begannen. Sie zerbröckelten sozusagen vor seinen Augen zu Staub.
«Na los, worauf wartest du noch?» Lokis Stimme wurde drängender, befehlender. Da zögerte Thor nicht länger. Er hastete hinüber zu den beiden Frauen, schnappte sich die Widerstrebenden, die zunächst nicht begriffen, wie ihnen geschah, und flog sie nach draussen.
Hinter ihnen zerfiel der Berg buchstäblich zu Nichts.
«Loki!» Friggas Stimme riss Thor aus seiner Erstarrung. Er hatte sie alle unweit des Felsmassivs abgesetzt. Fassungslos blickten die drei auf den zerfallenden Berg, konnten nicht wirklich glauben, was sich da vor ihren Augen abspielte. Eysma rührte sich nicht, schien wie in einer Trance gefangen zu sein. Aber Friggas Blick wurde immer panischer, mit jeder verstreichenden Sekunde. Sie zitterte am ganzen Körper. «Loki!» wiederholte sie erneut, lauter und mit vor Angst verzerrter Stimme. «Loki ist noch da drin.»
Thor schluckte. Er hatte Lokis Befehl blind gehorcht, in der sicheren Annahme, dass der Bruder gleich hinter ihnen auftauchen würde. Nun stand er genauso hilflos da wie die beiden Frauen und wartete.
Wartete und wartete.
Eine endlose, gefühlte Ewigkeit lang.
Und dann verflüssigte sich auf einmal die gesamte Landschaft vor ihren entsetzten Augen. Der riesige Staubhaufen, der von dem Berg übrig geblieben war, begann sich zu verflüssigen und in eine zähe, schleimige Masse zu verwandeln. Die drei Asgardianer rissen die Augen auf und konnten nicht fassen, was da geschah. Selbst Frigga hatte so etwas noch nie gesehen. Aber selbst wenn, wäre sie zu keinem klaren Gedanken fähig gewesen. Zu keinem einzigen Gedanken ausser diesem: Loki!
Thor wollte gerade sagen «er kommt sicher gleich, Mutter», obschon er kaum Hoffnung hatte, dass sich seine Worte bewahrheiten würden, als sich ein unmenschlich lauter Schrei durch die unheimliche Stille brach. Ein Schrei, so unfassbar zornig und schmerzerfüllt, dass die Asgardianer unwillkürlich den Atem anhielten. Ein Schrei, der nicht enden wollte, eine Ewigkeit lang, bis er schliesslich doch leiser und leiser wurde und dann verstummte.
Ein heisses Schluchzen stieg in Frigga auf. Loki... Wo war Loki?
Hilflos streckte sie die Hand aus und flüsterte «mein Sohn...»
«Mutter.» Thor zog sie an sich und barg ihren Kopf an seiner Brust. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber er fand nicht die Kraft, irgendwelche Worte zu sagen.
Sie warteten.
Sie hatten keine Ahnung wie lange.
Schliesslich sprach Eysma aus, was sie alle befürchteten: «Er kommt nicht mehr.»
«Mutter.» wiederholte Thor leise. «Mutter, komm, wir müssen...»
Dann erstarrte er mitten im Satz. Denn aus der zähen, schleimigen Flüssigkeit vor ihren Augen begann sich auf einmal etwas zu lösen.
Jemand.
Und langsam, quälend langsam, schälte sich Lokis Körper aus der Masse heraus.