
Kapitel 20
Donnerstagvormittag, Hotel Mondial.
Eva tigert in ihrem Büro auf und ab, während sie abwechselnd auf ihr Handy und dann wieder auf ihre Armbanduhr schaut. Eigentlich sollte heute der Termin mit Sören Althaus und drei weiteren Kollegen - und ja, natürlich waren es wieder nur Männer, sehr zu Evas Unmut - stattfinden, bei dem sie in ihrer Rolle als Hotelchefin ihre weitere Marketingstrategie vorstellen sollte. Daran anschließen würden sich entsprechende Beratungen, die hoffentlich dann mit einer Zusage vonseiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern enden würden.
Aber genau darin liegt das Problem: eigentlich. Denn mittlerweile ist es schon kurz vor Mittag, und noch immer ist keine finale Terminbestätigung per Email bei Eva eingetroffen, so wie eigentlich verabredet. Sie schnaubt und versucht, sich selbst gut zuzureden.
'Der Althaus ist einfach noch beleidigt', denkt sie sich. 'Weil ich ihn hab auflaufen lassen beim letzten Mal. Der kommt schon.' Und auch der Referatsleiter aus dem Wirtschaftsministerium, dem Ministerium, dem auch der Tourismusbereich zugeteilt war, würde auch kommen. Das hofft sie zumindest – mit aller Kraft. Sie braucht das Geld, braucht die Finanzierung, andernfalls könnte sie Uli nicht weiter beschäftigen, zumindest nicht, ohne dass sie dafür andere Mitarbeiter entlassen müsste. Denn auch wenn gerade der Posten des Housekeeping Managers frei war - schließlich war Jeremy am vergangenen Montag fristlos entlassen worden - so musste sie diesen in näherer Zukunft doch wiederbesetzen und dementsprechend würden Personalkosten anfallen.
Uli. Was würde sie tun, wenn sie Uli nicht hätte? Sie kann sich die Frage nicht beantworten und lächelt bei dem Gedanken an die Frau, die ihr heute Morgen einen Kuss in den Nacken gegeben hat, als sie - wie üblich - Kaffee aufgesetzt hatte. Ohne zu wissen, dass dieser besagte Termin heute stattfinden sollte - denn Eva hatte ihr nichts davon gesagt, damit sie sich keine Sorgen machte – hatte Uli gespürt, dass etwas nicht stimmte.
"Ist alles in Ordnung?", hatte sie gefragt, sich dann aber relativ schnell von Eva beruhigen lassen. Eva hatte vermutet, dass sie ihr die Aussage von wegen 'nichts, alles gut, ich hab' nur viel zu tun' zwar teilweise geglaubt hatte - schließlich wusste sie besser als die meisten anderen, wieviel Eva tatsächlich arbeitete - aber gleichzeitig auch gespürt hatte, dass der normale Arbeitsstress längst nicht alles war. Sie kannte Eva mittlerweile einfach zu gut, gleichzeitig war sie mit solch feinen 'Antennen' ausgestattet, dass sie bei den meisten Menschen sofort merkte, wenn etwas nicht stimmte. Dennoch hatte sie nicht weiter nachgebohrt, sondern Eva einfach wortlos fest in die Arme genommen.
Danach hatten sie gefrühstückt und schließlich hatte Uli sich gegen halb sieben auf den Weg ins Mondial gemacht, damit sie rechtzeitig zu Schichtbeginn dort war. Als sie alleine war, hatte Eva die Küche aufgeräumt und sich ebenfalls zur Arbeit fertiggemacht. Dieses Mal hatte sie bereits am Abend zuvor ihr Outfit mitgebracht, sodass sie am Morgen nicht noch in ihre Suite musste und dementsprechend weniger Zeitdruck hatte. Gegen acht Uhr war sie dann ebenfalls zum Mondial gefahren und hatte sich in ihrem Büro verschanzt. Der einzige Lichtblick war die silberne Thermoskanne mit schwarzem, heißen Kaffee gewesen, die auf ihrem Schreibtisch gestanden hatte, als sie das Büro betrat. Wieder einmal war Uli vor ihr da gewesen und sie mit Koffein versorgt. Zurück in der Gegenwart lächelt Eva bei dem Gedanken daran erneut und spürt das warme Gefühl in ihrem Bauch, das Gefühl, das sie eigentlich immer hatte, wenn sie Uli sah oder auch nur an sie dachte.
'Mist!', zuckt ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. 'Ich muss ja die Stelle ausschreiben, das hab ich ja total vergessen!' Die Ausschreibung für die Position als Chef oder Chefin des Housekeeping hatte sie in all der Hektik in den vergangenen Tagen vollkommen verdrängt. Und obwohl sie mehr als froh darüber ist, dass sie - und ganz besonders Uli - Jeremy nicht mehr über den Weg laufen würde, so hält sich ihre Begeisterung für ein Einstellungsverfahren sehr in Grenzen. Schließlich war so ein Verfahren immer enorm zeitaufwändig und würde wieder ziemlich große Abweichungen in ihrem Terminkalender verursachen - eine Tatsache, die Eva zwar als Hotelchefin durchaus kennt, die sie aber dennoch verabscheut. Aber es hilft nichts - sie muss die Stelle besetzen und am besten so schnell wie möglich. Ihre Personaldecke ist insbesondere im Bereich Housekeeping mehr als dünn, je schneller die Leitungsposition wieder besetzt ist, desto besser.
Mit einer steilen Falte auf der Stirn macht sie ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu und will sich gerade eine Notiz auf einen ihrer Klebezetteln schreiben, als ihr Bürotelefon schrillt. Sie zuckt zusammen. An diesen altmodischen Klingelton würde sie sich nie gewöhnen. Sie hatte bereits mehrfach darum gebeten, den Ton zu ändern oder ein anderes Telefon zu bekommen, eines, dessen Klingeln man zwar hörte aber das nicht dazu führte, dass einem das Blut in den Adern gefror - jedoch waren alle ihre Bitten in der Technikabteilung ungehört verhallt.
Sie lässt das Telefon nochmals schrillen und meldet sich dann, grantiger als beabsichtigt, mit einem knappen “De Vries!”
Auf der anderen Seite der Leitung ist für einen kurzen Moment Stille, dann erklärt eine hektische Frauenstimme, ohne ihren Namen zu nennen, dass die Kollegen Vogel, Lütjens und Holzner mitsamt Sören Althaus den Termin am späten Nachmittag wahrnehmen werden. Erleichterung durchflutet Eva. Sie atmet unhörbar auf und will sich für die Information bedanken, doch die Frau am anderen Ende - Eva vermutet, dass sie die Sekretärin von Sören Althaus ist - lässt sie überhaupt nicht zu Wort kommen und redet in einer Geschwindigkeit weiter, die ihre Sätze wie Salven aus einem Maschinengewehr wirken lässt.
“Die Herren wären außerdem sehr angetan, wenn Sie mit ihnen dinieren würden - die Küche in Ihrem Hotelrestaurant verspricht ja einiges.”
Die kurze Stille nach Ende dieses Satzes nutzt Eva, um der Frau ins Wort zu fallen. “Sehr gerne, Frau…? Wie war noch gleich Ihr Name?”
“Bromhage”, antwortet die Angesprochene etwas verwirrt. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, unterbrochen zu werden.
“Gut, Frau Bromhage. Danke für Ihren Anruf - ich werde mich um eine entsprechende Reservierung kümmern. Richten Sie Herrn Althaus und den Kollegen dies bitte aus und informieren sie darüber, dass ich sie dann wie besprochen um 16 Uhr in meinem Büro erwarte. Vielen Dank.”
Ohne Frau Bromhage noch die Gelegenheit zum Antworten zu bieten, legt Eva auf. Sie atmet scharf ein. Ein Abendessen hatte sie eigentlich nicht geplant - das würde sicherlich wieder zu einer abendfüllenden Veranstaltung ausarten. Sie kannte schließlich das Trinkverhalten von anderen Menschen, wenn die Getränke umsonst waren. Mit ihren Fingern rauft sie sich die blonden Haare, schließt für einen kurzen Moment die Augen und versucht ihren Ärger darüber, dass sie heute Abend nicht wie geplant mit Uli zum Essen in die ‘Drossel’ fahren würde, herunterzuschlucken. Es machte schließlich keinen Sinn, sich über Dinge zu ärgern, die nicht zu ändern waren.
Kurzerhand schnappt sie sich ihr Handy, klappt den Laptop zu und macht sich, nachdem sie ihr Büro abgeschlossen hat, auf den Weg in die Küche des Restaurants. Sie muss dringend mit Uli reden - zum einen, um ihr zu sagen, dass heute Abend ihr Essen leider ausfallen musste und zum anderen, um Uli darum zu bitten, ihr ein Vier-Gänge-Menü zusammenzustellen, das die Herren Althaus und Co. zufriedenstellen würde.
Uli sitzt in dem winzigen Zimmer neben der Küche, ihrem ‘Büro’, wie sie es nennt, und arbeitet sich durch die Bestellungen, die für das kommende Wochenende notwendig sind. Gerade ärgert sie sich darüber, dass der Großhändler wieder einmal die Preise von Schalentieren angehoben hat, als es klopft. Uli zuckt zusammen - normalerweise klopft nie jemand an. Die Tür war eine Schwingtür, die nicht einmal eine Türklinke, geschweige denn ein Schloss hatte. Als die graue Tür sachte nach innen aufgedrückt wird, schaut Uli erst von ihrem Laptop auf. Und im gleichen Moment hellt sich ihre Miene auf.
“Eva!”, sagt sie erstaunt und freudig zu gleich. Sie steht auf und will gerade ihre Freundin in den Arm nehmen, als sie den ernsten Blick der blonden Frau bemerkt. Verwirrt bleibt sie stehen - halb von ihrem Quasi-Schreibtisch verdeckt - und schaut Eva mit besorgtem Gesichtsausdruck an. “Ist etwas passiert?”
“Nein, nein, nichts ist passiert. Aber Uli, ich brauche jetzt deine Hilfe. Dringend”, antwortet Eva mit gehetzter Stimme. Die Falte auf Ulis Stirn glättet sich etwas. Sie macht einen Schritt auf Eva zu, zieht sie mit beiden Händen von der Schwingtür weg und drückt sie auf den Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch steht. Dann nimmt sie wieder dahinter Platz und schaut Eva durchdringend an. “Also? Was gibts?”
“Ich brauche heute Abend, wahrscheinlich so gegen sieben Uhr ein Vier-Gänge-Menü für fünf Personen. Irgendetwas besonderes, etwas, das vier Männer davon überzeugt, Geld in eine Marketingkampagne und ins Mondial zu stecken. Kriegst du das hin?” All diese Informationen verlassen ihren Mund in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Aber Uli, die solche Redeschwälle gewöhnt ist, stört sich nicht weiter daran. Im Kopf hat sie bereits bei ‘Vier-Gänge-Menü’ angefangen, zu überlegen. Wortlos nimmt sie ein Blatt Papier samt Stift und beginnt, einen Entwurf für ein mögliches Menü aufzuschreiben. Mit konzentrierter Miene überlegt sie, versucht Dinge wie Personalknappheit, ein teilweise leeres Lager und die Zeit, die sie zur Zubereitung hat, mit einzukalkulieren. Nach einigen Minuten, die zumindest Eva wie eine Ewigkeit vorkommen, legt Uli ihr schließlich grinsend das Blatt vor die Nase, noch immer ohne ein Wort zu verlieren. Evas Augen fliegen über die hektisch hingeschriebenen Worte - eine fruchtiges Amuse-Bouche, eine vegetarische Vorspeise in Form eines Möhrentartars, zum Hauptgang dann gegrillter Hummer und zum Abschluss eine Pfirsich-Maracuja Creme. Uli musste in Windeseile ihre Lagerbestände durchgegangen sein und außerdem die verbleibende Zeit mitberücksichtigt haben - Eva ist beeindruckt.
Ihr Atem beruhigt sich und sie lächelt Uli zaghaft an. “Danke. Das klingt alles ganz wunderbar. Schafft ihr das denn heute?”
Uli grinst. “Wir ist gut - ich werde das selber übernehmen. Schließlich will ich, dass es fehlerfrei hinhaut - und du weißt, wie gerne ich für dich koche.”
Bei dem ‘für dich’ durchfährt es Eva eiskalt - sie hatte ganz vergessen, damit anzufangen, dass sie am Abend nicht wie geplant in die ‘Drossel’ gehen konnten und dass ihr das leidtat! “Es tut mir so leid, aber dieser Termin…ich hab’ da ewig drauf gewartet und wenn der heute nicht stattfindet, dann weiß ich nicht, wann sonst…Es tut mir so furchtbar leid, dass ich heute Abend mit diesen Typen essen muss! Wirklich!” Sie schaut frustriert auf ihre Finger, die sich in ihrem Schoß verkrampfen. Uli steht daraufhin kurzerhand auf, geht um den Tisch herum und vor Eva auf die Knie. Sie nimmt Evas Hände in ihre.
“Hör doch auf, dich zu entschuldigen! Das macht überhaupt nichts. Das hier ist wichtiger! Gemeinsam essen gehen können wir auch noch morgen. Oder am Samstag. Oder egal wann.” Etwas leiser, damit niemand ihrer Kollegen, die nebenan noch am arbeiten sind, es mitbekommen, fügt sie hinzu “Und außerdem sehen wir uns ja am Abend sowieso, oder?"
Eva lächelt. “Natürlich”, erwidert sie ebenso leise. “Aber wieso musst du das heute Abend denn machen? Du bist ja seit sieben Uhr hier!”
“Mach dir mal keine Sorgen”, antwortet Uli verschmitzt. “Ich schaff’ das schon. Ich bin 14-Stunden-Schichten gewohnt, die hat man in seiner Lehrzeit mehr als genug. Das ist nichts Neues für mich - lass mich mal machen.” Eva, wenn auch nicht wirklich überzeugt, gibt sich geschlagen. Sie steht auf und will gerade gehen, als sie es sich doch anders überlegt und Uli einen kurzen, aber leidenschaftlichen Kuss gibt, bevor diese sie davon abhalten kann. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, öffnet Eva schwungvoll die Tür, durchquert die Küche mit ein paar schnellen Schritten und einem an Pit gewandten “Sie machen einen super Job, Herr Dübescheidt!” und ist verschwunden. Pit und Uli sind gleichermaßen verdutzt - Pit, weil er noch nie ein Kompliment von Eva bekommen hat, und Uli, weil der Kuss sie völlig überrascht hat. Wenig später gehen beide wieder ihrer Arbeit nach, jeder mit einem Grinsen im Gesicht - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Gegen halb sechs beginnt Uli, mittlerweile fast alleine in der Küche, das Menü für die fünf Personen vorzubereiten, im Hintergrund dudelt leise das Radio. Drei Stockwerke darüber sind Eva de Vries und die vier Männer, bestehend aus Sören Althaus und den drei Kollegen aus dem Ministerium, in eine recht hitzige Debatte vertieft.
Eva steht unter Druck - Althaus und die Mitarbeiter des Ministeriums sind nicht wirklich von ihrer Präsentation überzeugt gewesen und versuchen jetzt mit aller Gewalt, Schwachstellen in dem von ihr vorgestellten Konzept zu finden. Insbesondere der braunhaarige Mittvierziger mit rahmenloser Brille treibt Eva zur Weißglut. Adrian Vogel scheint es geradezu darauf anzulegen, Evas Konzept vor den anderen madig zu machen. Er hatte sie schon während ihrer Präsentation ständig mit unnötigen Fragen unterbrochen, bis schließlich sogar einer seiner Kollegen, Herr Lütjens, ihn darauf hingewiesen und darum gebeten hatte, sich doch die Fragen bis zum Ende des Vortrags aufzuheben.
Der Vortrag ist mittlerweile vorbei, allerdings hat Eva das Gefühl, mit ihren Ideen weiterhin auf Granit zu beißen. Einzig Herr Lütjens scheint ihr Konzept zumindest in weiten Teilen als sinnvoll zu erachten. Der weißhaarige Mann von knapp 60 Jahren ist der ranghöchste von den dreien, eine Tatsache, die Eva mehr als entgegen kommt. Wenn sie ihn ‘geknackt’ hat, dann sollten auch die anderen folgen. Sie strafft sich innerlich und beginnt dann, sich völlig auf Lütjens zu konzentrieren, um ihn ‘weichzukochen’.
Um halb sieben sind alle Fragen beantwortet, Evas Bluse ist auf dem Rücken völlig durchgeschwitzt und ihr Magen knurrt. Doch sie hat ihr Ziel erreicht - Lütjens würde sie unterstützen und er würde auch die anderen Männer davon überzeugen können, da ist sich Eva sicher. Sie beendet den offiziellen Teil des Termins mit den Worten, dass ein Tisch im hoteleigenen Restaurant reserviert und ein Vier-Gänge-Menü vorgesehen sei, eine Aussage, die zur allgemeinen Steigerung der Laune beiträgt.
“Ich bitte Sie, mich noch einen Moment zu entschuldigen, meine Herren. Bitte gehen Sie doch schon einmal ins Restaurant, ich bin spätestens in zwanzig Minuten bei Ihnen. Ich muss noch ein Telefonat führen.” Mit diesen Worten komplementiert Eva die Männer aus ihrem Büro.
Natürlich hatte sie kein Telefonat zu führen, aber sie würde den Männern sicher nicht sagen, dass ihre Bluse am Rücken klatschnass ist und sie sich dringend umziehen muss. Vorsichtig streckt sie ihren Kopf aus der Bürotür, um sicherzugehen, dass niemand mehr auf dem Flur zu sehen ist. Die Luft ist rein - und Eva eilt so schnell sie kann den Gang hinunter zu ihrer Suite. Dort angekommen knallt sie die Tür zu, wirft ihre Tasche auf den Boden und verschwindet im Bad. Nach zehn Minuten und einer rekordverdächtig kurzen Dusche hüpft sie, nur in ein großes Handtuch gewickelt, zu ihrem Schrank und zieht ein schwarzes Kleid von einem Kleiderbügel, das sie für genau solche Gelegenheiten aufbewahrt. Es ist aus einem weichen Satin, hat halblange Ärmel und einen Ausschnitt, der zwar - noch - professionell ist, der aber beim anderen Geschlecht bisher seine gewünschte Wirkung selten verfehlt hatte. Und genau diese Wirkung würde sie heute Abend brauchen. Nachdem sie die passende Unterwäsche herausgesucht und angezogen hat, zieht sie die Pumps mit den höchsten Absätzen an, die sie besitzt, und macht sich kurz darauf auf den Weg ins Restaurant.
Als sie den Gastraum betritt, sieht sie gerade wie Uli am Tisch in der linken Ecke des Raumes steht und den Männern etwas erklärt. Sie durchquert den Raum auf klackernden Absätzen und ist nur noch ein paar Schritte vom Tisch entfernt, als Uli aufblickt. Ihre Augen werden groß, ihre Wangen erröten und sie lässt ihren Satz in der Luft hängen. Eva, die sich mehr als sicher ist, dass sie Ulis Gedanken in diesem Moment lesen kann, zwinkert ihr verschmitzt zu. Dieses Augenzwinkern löst Uli aus ihrer Erstarrung, sie beendet hektisch ihren Satz, der sich um die Reihenfolge der Gänge dreht, und verlässt wenig später den Gastraum wieder.
Eva nimmt unterdessen neben Herrn Lütjens Platz und stößt kurz darauf mit einem Aperitif an.
Gegen 21 Uhr, der Gastraum hat sich mittlerweile bis auf ihren Tisch vollständig geleert, spürt Eva, die gerade dabei ist, ein Stück Zucker in ihren Espresso zu rühren, plötzlich eine Hand auf ihrem linken Oberschenkel. Sie zuckt kaum merklich zusammen und dreht ihren Kopf in die Richtung. Sofort spürt sie, wie die Hand sich von ihrem Oberschenkel löst. Links neben ihr sitzt Joachim Lütjens und löffelt, ohne den Blick von seinem Tischnachbarn zu wenden, Zucker in seinen Kaffee. Seine linke Hand, die eben noch auf Evas Schenkel geruht hatte, hält mittlerweile wieder den Untersetzer seiner Kaffeetasse, während er angeregt mit Adrian Vogel diskutiert.
Evas rechte Augenbraue wandert nach oben, so weit, dass sie fast unter ihren hellblonden Haaren verschwindet. Eine steile Falte zeigt sich auf ihrer Stirn, verschwindet aber sogleich wieder, als sich Sören Althaus und die beiden jüngeren Männer aus dem Wirtschaftsministerium von ihren Plätzen erheben und sich verabschieden, nicht ohne sich nochmals für die Zusammenarbeit und das gute Essen zu bedanken. Eva steht ebenfalls lächelnd auf, reicht den Männern die Hand und wünscht ihnen einen schönen Abend. Sie hofft darauf, dass Lütjens diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und sich auch verabschieden würde, aber - weit gefehlt. Der weißhaarige Mann denkt gar nicht daran, sondern schlürft in aller Ruhe seinen Kaffee. Evas Erziehung verbietet es ihr, sich als Gastgeberin noch vor dem letzten verbleibenden Gast zu verabschieden, und nimmt widerwillig erneut neben Lütjens Platz. Unbemerkt schiebt sie ihren Stuhl ein wenig weiter nach rechts, bevor sie sich setzt.
Nach einigen belanglosen Wortwechseln, die sich für Eva wie eine Ewigkeit anfühlen, ist auch endlich Lütjens’ Kaffeetasse leer und er erhebt sich. Das Restaurant ist mittlerweile menschenleer, sogar der letzte Kellner hatte offensichtlich Feierabend gemacht. ‘Kein Wunder’, denkt sich Eva, als sie darauf wartet, dass Lütjens seine Arme in das dunkle Jackett sortiert hat. ‘Wir sind ja auch die einzigen gewesen, die noch hier sind.’ Sie denkt an Uli und überlegt, ob diese wohl schon zuhause und auf der Couch war, oder ob sie noch in ihrem Kämmerchen vor dem Laptop brütete. Beim Gedanken an die schwarzhaarige Frau hüpft ihr Herz und sie lächelt geistesabwesend.
Da spürt sie auf einmal eine Hand an ihrer Hüfte. Sie zuckt zusammen und fährt auf dem Absatz herum. Joachim Lütjens steht vor ihr, im Gesicht ein Lächeln, das wohl warmherzig wirken sollte, aber eigentlich anzüglich wirkte.
“Na, na, Frau de Vries”, sagt er. “Sie werden doch vor mir keine Angst haben?” Sein Gesicht ist so dicht an Evas, dass sie den Rotwein, dem er den ganzen Abend kräftig zugesprochen hatte, riechen kann.
Eva schnaubt und versucht, sich von ihm abzuwenden. “Nein Herr Lütjens, weiß Gott nicht. Aber ich glaube ich rufe Ihnen jetzt besser ein Taxi. In Ihrem Zustand sollten Sie nicht mehr fahren.”
“Wer sagt denn, dass ich überhaupt noch irgendwohin fahren will? Ich hätte eher daran gedacht, dass wir beide uns noch einen netten Abend machen, Frau de Vries? Schließlich wollen Sie bestimmt, dass unsere Geschäftsbeziehung funktioniert, nicht wahr?” Sein Lächeln verkommt zu einer regelrechten Fratze und Eva spürt, dass er sie jetzt mit beiden Händen bei den Hüften gepackt hat. Eine Gänsehaut breitet sich auf ihrem Rücken aus und sie spürt, wie ihre Knie zu zittern beginnen.
Dass einer der Türflügel, die zur Küche führen, langsam geöffnet wird, bemerkt sie nicht.
“Nein”, erwidert sie scharf, und obwohl alles in ihr schreit, sie solle sich doch wehren, rührt sie sich nicht vom Fleck. “Ich rufe Ihnen jetzt ein Taxi, Herr Lütjens, bevor Sie etwas tun, was Ihnen schadet.” Ihr Tonfall ist unbewusst lauter geworden, sie hofft, den Mann damit zurück zur Vernunft zu bringen. Aber weit gefehlt. Er zieht sie an sich und versucht, ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Eva erstarrt. Normalerweise würde sie einem solch aufdringlichen Mann ohne Zögern eine saftige Ohrfeige verpassen - aber es gelingt ihr nicht. Lütjens ist ihr Geldgeber, ihr Investor. Sie braucht ihn, wenn sie Uli weiterbeschäftigen will. Sie versucht, sich aus seinem Griff zu lösen aber der alte Mann ist erstaunlich kräftig.
“Jetzt stell dich doch nicht so an, Mäuschen”, sagt er, noch immer mit einem Grinsen im Gesicht. “Du willst es doch auch. Immer nur andere Weiber, das ist doch nichts. Solche von deiner Sorte müssen doch nur…”
Ein scharfes “HEY!” hinter Evas Rücken lässt ihn den Satz nicht vollenden. Eva dreht den Kopf. Dort, an der Tür zur Küche steht Uli, mit vor Zorn hochrotem Gesicht und einem beeindruckend großen Filetiermesser in der linken Hand. Sie macht ein paar Schritte auf die beiden zu, packt Lütjens mit der rechten Hand an der Schulter und schiebt ihn von Eva weg.
“So, mein Lieber”, sagt Uli leise und mit einer solchen Kälte in der Stimme, dass Eva ein Schauer den Rücken hinunter rinnt. “Du hörst mir jetzt ganz genau zu. Du lässt sie jetzt sofort los, nimmst deinen Krempel und verschwindest aus meinem Restaurant. Und wenn du auch nur daran DENKST, die Dinge, die hier gerade passiert sind, beziehungsweise NICHT passiert sind, in irgendeiner Weise am Mondial auszulassen, wirst du mich kennenlernen. Ich hab nämlich deinen ganzen netten Sermon, den du hier vorhin gehalten hast, gefilmt. Und ich kenne mich zwar mit Politik nicht aus, aber ich glaube, dass wenn ich dieses Video deiner Staatssekretärin zeige, du ganz schnell deinen Job los bist. Also? Haben wir uns verstanden?”
Lütjens, der auf einen Schlag wieder nüchtern zu sein scheint, verzieht zornig das Gesicht. Wutschnaubend lässt er von Eva ab, bückt sich nach der schwarzen Ledertasche, die neben seinem Stuhl am Boden steht, und verlässt wortlos das Lokal.
Uli lässt das Messer in ihre Schürze gleiten und nimmt Eva, deren Gesicht noch immer leichenblass ist, wortlos in den Arm. In diesem Moment bricht Evas innerer Schutzwall zusammen, sie klammert sich an Uli und drückt ihr Gesicht an ihren Nacken, während diese ihren Rücken streichelt und beruhigend auf sie einredet.