
Kapitel 9
Kapitel 9
“Du hast dir den Weg zu meiner Wohnung aber gut gemerkt”, stellt Uli fest, als Eva zielstrebig den Audi durch die Straßen Schwerins in Richtung Mozartstraße 17 steuert. Das eingebaute Navigationssystem hatte sie gar nicht erst aktiviert - auch wenn unmittelbar nach dem Starten des Motors eine entsprechende Aufforderung über das große Display geblinkt war.
“Ich habe eben einen guten Orientierungssinn - dort, wo ich einmal hingefahren bin, finde ich immer wieder hin. Das gilt insbesondere für Orte, die ich mit etwas Schönem verbinde”, erwidert Eva lächelnd und wendet für einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit vom Verkehr hin zu Uli, die neben ihr auf dem Beifahrersitz sitzt.
Diese lächelt und spürt, wie ihr bei diesen Worten die Röte ins Gesicht steigt - sie erwidert nichts. Die sonst so schlagfertige Uli ist wieder einmal sprachlos und wendet ihren Blick von Evas Seitenprofil ab und wieder auf die Straße.
Nach ein paar Minuten Fahrt in einem Schweigen, das keinesfalls unangenehm ist - Uli findet sowieso, dass sie in Evas Gegenwart gerne auch einfach mal nichts sagt, obwohl sie sonst wirklich gern redet - erreichen sie auch schon ihr Ziel.
Eva stellt den Wagen - wieder einmal - im absoluten Halteverbot ab und schaltet den Motor aus. Die Straße ist menschenleer. Sie wendet sich an Uli, die sehr skeptisch dreinschaut und noch bevor sie etwas sagen kann, ergreift Eva das Wort:
“Mach dir keine Sorgen, ich bleib’ im Auto sitzen. Falls irgendjemand vom Ordnungsamt vorbeischaut, sage ich einfach, ich kenne mich hier nicht aus, so ein Berliner Kennzeichen kann ja auch seine Vorteile haben. Und dann stelle ich das Auto um.”
Uli, noch immer nicht wirklich überzeugt, zieht ihre linke Augenbraue nach oben. “Na gut, wenn du meinst. Ich beeile mich!”
Eva lächelt. “Na los, raus mit dir! Je schneller du dich umziehst, desto schneller bist du wieder hier!”
Uli will schon die Beifahrertür öffnen, als sie sich noch einmal umdreht und Eva einen Kuss auf die Wange drücken will. Eva jedoch will es nicht bei diesem Kuss bewenden lassen - sie dreht den Kopf im letzten Moment und presst ihre Lippen auf Ulis, diese erwidert den Kuss nicht weniger leidenschaftlich und so versinken die beiden für die nächsten Augenblicke in ihrer eigenen kleinen Welt.
Den Mann mit den braunen Haaren und der ausgewaschenen Jeansjacke, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einer Ecke eines Hauses steht und seinen Blick auf den grauen Audi gerichtet hat, bemerken sie nicht.
Irgendwann lösen sich die beiden voneinander und noch bevor Eva etwas sagen kann, ist Uli schon aus dem Auto gehüpft und im Treppenaufgang zu ihrer Wohnung verschwunden.
Eva lacht leise. Dann schaltet sie die Stereoanlage ein und beginnt, den Takt von Janis Joplins Kosmic Blues auf das Lenkrad zu trommeln.
Nach drei weiteren Songs aus ihrer Rock - der Gold Standard -Playlist sieht sie, wie Uli, mittlerweile gekleidet in ein knallrotes T-Shirt, olivfarbene Shorts und Wanderschuhe, aus dem Eingang ihres Wohnhauses kommt - gleichzeitig überquert ein dunkelhaariger Mann zielstrebig die Straße und geht auf Uli zu, während er irgendetwas ruft. Eva schaltet die Anlage aus und beobachtet die Situation genau. Das war doch Jeremy, Ulis Mann! ‘Was macht der denn hier?’, denkt sich Eva, während sie ihre rechte Augenbraue steil nach oben zieht.
Währenddessen hat auch Uli ihren (Noch-)Ehemann bemerkt. Sie hatte gehört, dass jemand über sie gerufen hat, konnte aber nicht zuordnen, woher die Stimme kam und wem sie gehörte.
Jetzt, da Jeremy in großen schnellen Schritten über die Straße geht und “Hey!” ruft, durchfährt sie ein Stromschlag. Jeremy war hier! Vor ihrer Wohnung! Was wollte er?
‘Jetzt lass dir bloß nichts anmerken’, denkt sie panisch. Sie kennt Jeremy zu gut - so liebevoll er manchmal sein konnte, so cholerisch konnte er werden, wenn etwas nicht so lief, wie er sich das vorstellte. Das Beste in einer solchen Situation war, ruhig und sachlich zu bleiben und ihm keine Gelegenheit zu bieten, hochzukochen.
Daher tut sie so als ob es völlig normal wäre, dass ihr Mann ihr vor ihrer Wohnung regelrecht auflauerte, obwohl er doch eigentlich im Hotel ‘einspringen’ müsste.
“Hi”, ruft sie ihm entgegen und versucht, ihre Stimme so fest und gelassen wie möglich klingen zu lassen.
“Ich dachte schon, du wärst taub”, schnauft er genervt, als er endlich neben ihr auf dem Bürgersteig angekommen ist, weniger als zehn Meter von Evas Auto entfernt.
“Ich bin nicht taub”, erwidert Uli trocken. “Ich kann es nur nicht leiden, wenn man über mich brüllt. Das weißt du doch. Was machst du denn hier? Musst du nicht arbeiten?”
Und obwohl sie versucht, sämtliche Emotion aus ihrer Stimme zu nehmen, gelingt ihr das nicht ganz - die letzte Frage klingt schnippischer als beabsichtigt.
Sie bereut es sogleich.
“Wer bist du, die Inquisition?”, gibt Jeremy jetzt schon deutlich gereizt zurück. “Ich wollte kurz in unsere Wohnung, mich umziehen vor der Schicht. Eigentlich sollte ich das eher dich fragen - das ist doch die de Vries da hinten im Auto, oder? Was hat die hier zu suchen? Und was läuft da eigentlich zwischen euch?”
Er war seit dem ersten Satz immer lauter geworden, die letzte Frage schreit er fast.
Uli tritt einen Schritt zurück und mustert ihn von oben bis unten. Wie er da steht, mit Zornesfalten auf der Stirn und zusammengekniffenen Augen.
Dann sagt sie mit ruhiger Stimme: “Da ‘läuft’ gar nicht zwischen uns. Wir haben heute beide frei und gehen wandern, können wir beide nach dem ganzen Stress mal gebrauchen.”
Mit dieser Aussage hätte es Uli bewenden lassen, wenn sie auf die rationale Stimme in ihrem Kopf gehört hätte. Konnte sie aber nicht - die Stimme war leider zu leise.
Und so schiebt sie ein schnippisches “Außerdem bist du ja nun wirklich der Letzte, der ein Anrecht darauf hat zu erfahren, was zwischen mir und irgendjemand anders läuft” hinterher. Noch bevor das letzte Wort ihren Mund verlässt, weiß Uli, dass das die eine Aussage zu viel war. Der eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde.
Und genauso geschieht es - Jeremy flippt aus. Er macht einen Schritt auf sie zu, packt sie an den Schultern und schreit sie an.
“Was zur Hölle meinst du damit”, brüllt er. “Hmh? Was willst du mir damit sagen?”
Da reicht es auch Uli - der letzte Rest Contenance verlässt sie. Sie versucht Jeremys Hände von sich zu stoßen und schreit in der gleichen Lautstärke zurück.
“Da fragst du noch? Glaubst du, ich bin blind, taub UND blöd? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du was am Laufen hast?” Sie lacht bitter. “Bei der Menge an bezahlten Überstunden, die du in den letzten Monaten gemacht hast, frage ich mich, wieso du mich immer noch um Geld bitten musst, wenn du mit Ivy was unternehmen willst.”
Während des gesamten Streits sitzt Eva nur wenige Meter entfernt im Auto und betrachtet die Szenerie mit wachsender Sorge. Schon als Jeremy Uli bei den Schultern gepackt hatte, war sie kurz davor, aus dem Auto zu stürmen und ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Doch als sie bemerkt hat, dass Uli der Situation gewachsen war, hat sie entschieden zu warten und die beiden nicht aus den Augen zu lassen.
Mittlerweile regen sich auch schon hinter mehreren Gardinen in der Mozartstraße die ersten neugierigen Beobachter - ‘kein Wunder, bei der Lautstärke’ denkt Eva augenrollend.
Sie will gerade das Fenster herunterlassen, um das Geschrei der beiden deutlicher zu verstehen, als sie sieht, wie Jeremy immer heftiger gestikuliert als Uli sich umdreht und auf ihr Auto zukommt.
Jeremy setzt ihr nach und packt sie wieder an den Schultern. Sie brüllt ihn offensichtlich an und will sich losreißen, doch er schreit weiter und gestikuliert heftig, um schließlich Uli ins Gesicht zu schlagen.
In diesem Moment klickt etwas in Evas Kopf. Noch ehe sie recht überlegen kann, was sie tun soll und ob sie Jeremy überhaupt körperlich gewachsen ist, reißt sie die Autotür auf und stürzt auf die beiden zu.
Uli hat vor Entsetzen geweitete Augen und hält sich die Wange, Jeremy will sich gerade umdrehen, als Eva auch schon bei ihnen ist. Sie packt ihn beim Kragen seiner Jacke und drückt ihn kurzerhand gegen einen Laternenpfahl . Er, vollkommen überrascht von der Kraft, mit der Eva ihn festhält, verstummt.
“Was fällt dir ein, du mieses, hinterhältiges, dreckiges kleines…”
Doch bevor sie ihr durchaus großes Repertoire an Flüchen und Beleidigungen weiter bedienen kann, hört sie ein zaghaftes “Eva!” hinter sich. Sie erwacht wie aus einer Trance und lässt Jeremy los. Der, noch immer ziemlich geschockt von der Situation, bewegt sich nicht vom Fleck.
Eva dreht sich um und zieht Uli, die noch immer die Hand an ihre linke, feuerrote Wange presst, in ihre Arme.
Uli presst ihr Gesicht an Evas Hals und beginnt stumm zu weinen, während Eva ihr leise tröstende Worte ins Ohr murmelt und über die Haare streichelt. Dann funkelt sie Jeremy an, der mittlerweile sein Selbstbewusstsein wieder gewonnen hat und einen Schritt auf die beiden Frauen zu macht.
“Noch einen Schritt weiter und ich rufe die Polizei”, zischt Eva ihn an, ihre rechte Hand noch immer in Ulis dunkelbraunen Haaren verborgen. Etwas lauter fügt sie hinzu “Ihre Kündigung können Sie am Montag bei mir abholen.”
Mit diesen Worten schaut Uli von Evas Hals auf. Sie schnieft leise.
“Komm, wir gehen”, sagt Eva leise und greift nach Ulis Hand. Wie eine Marionette lässt Uli sich von Eva zum Auto ziehen, während Jeremy regungslos und gleichermaßen verärgert wie irritiert auf dem Bürgersteig stehen bleibt.
Sie hält Uli die Tür auf und schaut sie noch einmal durchdringend an. “Bist du okay?”, fragt sie leise.
Uli, die mittlerweile auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat, starrt auf ihre Füße und flüstert ein leises “Ich denk schon”, bevor sie nach dem Gurt tastet und versucht, sich anzuschnallen. Erst jetzt bemerkt sie, dass ihre Hände noch immer zittern. Sie flucht fast unhörbar.
Eva bemerkt ebenfalls das Zittern von Ulis Händen und beugt sich kurzerhand über sie, um die Gurtschnalle in das dafür vorgesehene Teil zu schieben. Es klickt und Eva zieht sich aus dem Auto zurück, schließt die Tür und umrundet den Wagen, nicht ohne Jeremy, der mittlerweile in die entgegengesetzte Richtung die Straße hinunter geht, eine halblaute Beleidigung hinterher zu werfen.
Wenige Augenblicke später lässt Eva sich auf den Fahrersitz fallen und startet den Motor. Noch einmal wendet sie sich Uli zu, deren Gesichtsfarbe mittlerweile von rot zu einem hellen Grau gewechselt ist. “Bist du sicher, dass du okay bist? Wir können auch zurück ins Hotel fahren…”
Doch Uli schneidet ihr das Wort ab. “Wirklich Eva. Ich bin in Ordnung. Fahr bitte einfach los. Ich will hier weg.”
Und Eva gehorcht. Sie legt den Gang ein und wenig später rollt der Wagen durch das ruhige Seitensträßchen in Richtung Hauptstraße, um dann den Weg ins Schweriner Umland einzuschlagen.
Ganz leise singt Carol King I feel the earth move , die weiche Stimme der Sängerin ist die Einzige, die in nächster Zeit im dunkelgrauen Audi zu hören sein wird.