
Kapitel 1 - Geschmack
Er saß auf dem steinernen, kalten Boden. Die Kälte der Steinmauer durchdrang den dünnen Stoff seines schwarzen T-Shirts. Doch diese Kälte in seiner Zelle war nichts im Vergleich zu der Eiseskälte in seinem Herz.
Die Kälte, die sich schon lange her in seinem Herzen eingenistet hatte. Hass. Wut. Verabscheuung. Frust. Trauer. Schmerz. Das war das einzige, was sich in seinem Herz befand. Das einzige, was in ihm steckte. Das einzige, was in seinen himmelblauen Augen zu sehen war. Das einzige, was er noch spürte.
Monster. So bezeichneten sie ihn. Früher hatte ihn dieses Wort verletzt. Mehr als ein Stich mit dem Messer in seine Haut. Doch jetzt nicht mehr. Nicht mehr, nachdem seine Hoffnung auf Akzeptanz erlöscht war. Nicht mehr, nachdem eine unendliche kläffende Leer sich in seiner Brust breitgemacht hatte. Nicht mehr, nachdem sein Herz gestorben war.
Ja. Er war ein Monster. Ohne jeglichen Skrupel. Ohne Mitleid. Er ist zu dem herangewachsen, was sie in ihm schon von Anfang an gesehen haben. Zu einem Verbrecher. Zu einem Mörder. Zu einem Monster. Gefürchtet unter dem Namen Shukaku.
Gaaras Hand verkrampfte sich an seinem T-Shirt. Über der Stelle, wo früher mal sein Herz gewesen war. Bevor es gestorben ist. Mitsamt des unschuldigen, kleinen Jungen.
Gleich wird es so weit sein. Gleich wird er in den Gerichtsaal gebracht werden. Gleich wird er verurteilt werden. Auch wenn er noch hier war. In seiner Zelle, die nur durch das schwache Lampenlicht an der Decke beleuchtet war. Er wusste, was das Urteil sein wird.
Tod. Das wird das Urteil sein. Das wird es sein, was der Richter entscheiden wird. Er hatte keine Zweifel daran. Schließlich war er Shukaku. Der gefürchtete Mörder aus Sunagakure. Der Mörder mit den meisten skrupellos umgebrachten Opfer. Warum sollte er also zweifeln?
Seine azurblauen, eiskalten Augen fixierten eine Ecke des kleinen Raumes. Das war's also. So wird er enden. Zum Tode verurteilt. Hingerichtet vom Staat. Wegen seiner Attentate.
» Hast du Hunger? «, unterbrach eine weibliche Stimme seine Gedanken.
Er hob den Blick. Ein Mädchen. Ungefähr sechzehn-siebzehn Jahre alt. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr über die Schulter. Ihre helle Haut sah bleich im Kontrast mit ihren Haaren aus. Smaragdgrünen Augen glitzerten voller Lebensfreude und Freundlichkeit. Ein leichtes Lächeln zerrte ihre zarten Lippen, während sie an einem Apfel kaute. Sie saß in der Hocke und hielt ihm einen zweiten Apfel durch die eisernen Zellstäbe entgegen. Skeptisch schaute er die Frucht an.
» Ah, hab' dich doch nicht so! Oder magst du Äpfeln nicht? «, fragte sie fröhlich. Als wären sie irgendwo da draußen. Außerhalb des Gefängnisses.
Gaara ließ den Blick nicht vom Apfel ab und schaute ihn weiterhin skeptisch an. Ist er vergiftet? Nein. Das machte doch keinen Sinn. Ich werde doch sowieso in ein paar Stunden sterben. Er schaute in ihr Gesicht auf. Es war kein Hauch des Hasses oder der Angst zur erkennen. Er zögerte. Vorsichtig griff er nach der Frucht, die sie ihm durch die Gefängnisstäbe hervor hielt.
Mit seinen Fingerspitzen berührte den rot-grünen Apfel. Er beobachtete weiterhin ihre Gesichtszüge. Kein gefährliches Lächeln. Keine Angst in den Augen. Wer war sie überhaupt? Er lehnte sich leicht nach vorne und umschloss mit seinen frierenden Händen das Obststück.
Danach legte er die Frucht an seine Lippen, doch er wagte sich nicht hinein zu beißen. Er fixierte das Gesicht des Mädchens, die ein-zwei Jahre jünger zu sein schien als er. Sie biss genüsslich in ihr Apfel und lächelte Gaara freundlich an. Sie hatte schon den halben Apfel gegessen, bevor er in seinen hineingebissen hatte.
» Ich habe ihn gewaschen. Du kannst ruhig zu beißen «, versuchte sie ihn aufzumuntern.
In ihren grünen Augen glitzerte Zuversicht. Keine Spur der Hinterhältigkeit. Zögerlich biss er ein Stück ab. Der frische Saft breitete sich auf seiner Zunge aus und hinterließ einen süßlichen Geschmack. Er konnte sich nicht mehr erinnern, das letzte Mal ein Apfel gegessen zu haben. Nachdem er das erste Stück heruntergeschluckt hatte und nun sicher war, dass es nicht vergiftet war, nahm er noch ein Biss.
» Schmeckt's? «, fragte sie nach.
Er nickte und biss nochmal hinein. Dieser süßlicher Geschmack ... Er hatte vollkommen vergessen, wie lecker Äpfeln sind. Und jetzt verschlang er förmlich den Apfel, als hätte er schon lange nichts gegessen.
» Weißt du ... «, sprach das Mädchen plötzlich los, als er fast sein Apfel fertig gegessen hatte.
Er legte leicht den Kopf schief, um zu zeigen, dass er zuhörte. Doch die Braunhaarige sagte nichts weiter. Gedankenverloren schaute sie in die Leere. Nichts regte sich. Gaara beobachtete das Mädchen, während sie ihr Gesicht zum leeren Korridor gerichtet war.
Ihre smaragdgrünen Augen wanderten über die Leere. Als wäre sie auf der Suche nach etwas. Nach etwas, was nicht zu finden war. Etwas, was nicht mehr da war. Und wahrscheinlich nie mehr da sein wird. Ein trauriges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
» Der Korridor ist leer. Im Halblicht verborgen. Und so ... kalt «, meinte sie in ihren Gedanken nachhängend.
Sie schüttelte leicht den Kopf, um sich von den Gedanken wegzureißen. Dann wandte sie ihren Blick von dem Korridor ab und lächelte sie Gaara aufmunternd an.
» Aber das muss er nicht sein. Oder? «, fuhr sie fort,» es wird einmal ein Tag kommen, wo die kalten Mauern zusammenbrechen werden. Und an diesem Tag wird der steinerne, kalte Boden die warmen Sonnenstrahlen kennenlernen. Wer weiß, was dann passieren wird? «
Gaara schaute sie unverständlich an. Was meint sie damit? Skeptisch schielte er zu dem Korridor.
» Tja. Ich muss jetzt gehen «, sagte sie plötzlich entschuldigend und richtete sich auf,» wir sehen uns, Gaara-senpai. «
Der Name Gaara warf ihn völlig aus der Bahn. Es war schon lange her, dass ihn jemand so genannt hatte. Sehr lange her. Seit er zu einem kaltblütigen Mörder wurde. Seit er Shukaku war. Er hatte schon vollkommen vergessen, wie sein eigener Name klang. Und jetzt nannte sie ihn so. Bei seinem Namen. Einfach so. So plötzlich.
Er blickte ihr hinterher, als sie sich der Ausgangstür näherte. Je weiter sie war, desto weniger konnte er sie erkennen. Bis sie schließlich aus seinen Augen verschwand. Und somit auch die Wärme, die sie ausstrahlte, mitnahm. Die Wärme, die die Kälte hier weggeweht hatte. Die Wärme, die seinen eigenen Schmerz vergessen ließ.
Er hörte nur noch, wie sich ihre leichten Schritte entfernten. Die Note der Lebensfreude hallte mit jedem ihrer Schritte gegen die stumpfen, kalten Wände und ließ sie verklingen. Danach war nur noch ein Quietschen der Tür zu hören. Und dann fiel sie mit einem dumpfen Klang ins Schloss.
Die unheimliche Stille kehrte wieder in das Gefängnis zurück, in dem sich nur Gaara befand. Die Kälte erschien ihm noch kälter als zuvor, während ihn die erdrückende Leere umhüllte und seinen Schmerz noch deutlicher hervorbrachte. Er war allein. So wie immer. So wie er es immer gewesen war. Und bis zum Tode sein wird. Bis ans Ende.
Fortsetzung folgt ...