Obvious

Tatort (TV 1970) Tatort
F/F
G
Obvious
Summary
Ein Anruf, der hunderte Kilometer überbrückt.Zwischen zwei Menschen, die einander über die Jahre so wichtig geworden waren, dass man sich zum Heiligabend anruft, um zu fragen, wie es denn so geht.
Note
Für zwei ganz besondere Menschen.Ihr wisst wer ihr seid.Und dann ist es doch wieder passiert. Nach gut einem Jahr.Und wieder ist es ein CHPTRS Song, der das aus dem Nichts ausgelöst hat. Der Bilder im Kopf gezeichnet hat, die sich dann zu einer Idee gespinnt haben. Bin hoffentlich nicht ganz aus der Übung gekommen.Und vielleicht wird es nicht mehr ganz dasselbe sein wie früher. Aber vielleicht ist es auch ein kleines Zeichen, für einen Neuanfang. Die Zeit heilt ja irgendwie doch ein bisschen die Wunden. Ein bisschen gute Musik auch.Inspiriert durch den Song "Obvious" von CHPTRS.Viel Spaß beim Lesen.

Isn't it obvious?


Sie blickte auf die Uhr, fünf vor halb sieben. Julia Grosz hatte eben die letzten Zutaten für einen Eintopf in das Wasser gegeben, das gerade begonnen hatte, auf ihrem Herd zu kochen.

Es passierte wahrlich nicht häufig, das man sie am Herd kochend vorfand. Zu ganz besonderen Anlässen, oder wenn sie der Hunger oder die Lust einmal doch packte, konnte es schon hin und wieder einmal vorkommen. Das passierte bei ihrer wenigen Zeit nur relativ selten. Ihre Freundin war da wieder ganz anders. Sie kochte einfach gerne und es machte ihr überhaupt nichts aus, dass sie das zum Großteil übernahm. Julia wiederum erledigte dafür andere Sachen, für die Tine Geissler einfach keinen Nerv und noch weniger Geduld hatte. Allen voran die liebe, oft genug von Tine verfluchte Technik. Und so hatten sie sich sehr unkompliziert aufeinander eingespielt. So unkompliziert wie es schon immer zwischen ihnen gewesen war.

Heute aber, heute war so eine besondere Gelegenheit, hatte Julia beschlossen. Und hatte sich gestern noch entsprechend in den Tumult der letzten Weihnachtsbesorgungen vieler Menschen gewagt, um die Zutaten von Tines Lieblingsgericht entsprechend dem Rezept von Tines Mutter Birgit noch schnell einzukaufen.

Einfach, um ihrer Freundin eine Freude zu machen. Ihr etwas Gutes zu tun.

Soweit waren alle Vorbereitungen getroffen, sie blickte auf die Uhr. Der Eintopf würde eine gute halbe Stunde ziehen müssen. Tine selbst würde wohl erst kurz nach sieben zu Hause sein.

Im Hintergrund lief leise Musik, ein alter Klassiker aus den guten, alten Zeiten, als Chris Isaak ein "Wicked Game" besang.

Die Textzeilen erinnerte sie wieder daran, dass sie sich schon in den letzten Tagen etwas vorgenommen hatte. Das sie jemanden ganz bestimmtes anrufen wollte.

Einfach nur, um wieder seine Stimme zu hören.

Diese Zeilen jetzt zu hören, die sie ihm vor etwa einem Jahr zum Dienstjubiläum zum Besten gegeben und gesungen hatte, waren nun wirklich der letzte Wink mit dem Zaunpfahl. Keimte ein Gefühl von Nostalgie in ihrer Brust auf, dessen Wärme ihr in den letzten Monaten immer vertrauter geworden war, weil es immer mal wieder in ihr aufkam, in ruhigen Momenten.

Wenn nicht jetzt, würde sie es womöglich wieder nur unnötig aufschieben. Sie hatte die Zeit, sie hatte die Gelegenheit. Und sie hatte den Mut und auch irgendwie ein inneres Bedürfnis, ihn zu sprechen. Zu wissen wie es ihm ging, seine Stimme zu hören. Die sie wirklich auch vermisste. Jetzt, wo sie sich nicht mehr jeden Tag sahen, nicht mehr zusammen arbeiteten.

Sie trocknete ihre Hände am Geschirrtuch ab, zog dann ihr Handy aus der hinteren Hosentasche ihrer Jeans.

Mit flinken Bewegungen hatte sie die Kontakte geöffnet, suchte sie einen ganz bestimmten Namen, während sie nur in Socken langsam ins Wohnzimmer lief, wo das Feuer des kleinen Kamins leise vor sich hin loderte und sie feststellte, dass sie bald schon Holz nachlegen würde müssen.

Ein Name, die immer noch in ihrer Kurzwahlliste eingespeichert war. Und auch immer noch so besonders war.

Ihr Blick fiel auf den kleinen Weihnachtsbaum mit dem etwas schiefen Stern auf der Spitze, der vor der Glastür stand die zur Veranda und zu dem kleinen Garten hinausführte. Den Tine so hingebungsvoll geschmückt hatte. Auf den die kleine Autobahnpolizistin auch nicht verzichten wollte. Den Stern und seine leichte Neigung, die sich einfach nicht ausgleichen ließ, obwohl Julia es schon mehrmals vergeblich versucht hatte. Und deshalb immer mal wieder ihren Kopf missmutig schräg legte und ihn anblickte, als würde sie hoffen, dass der sich bei dem strafenden Blick wie von Geisterhand ganz von allein prompt aufrichtete. Der würde statt in ihrem bestimmt ganz besonders gut an Falkes Weihnachtsbaum passen. Insofern der denn dieses Jahr einen hatte. Wie sie hatte er nicht viel Wert auf weihnachtlichen Firlefanz in seiner Wohnung gelegt. In Hamburg. Jetzt aber jedenfalls war die Dekoration etwas, dafür konnte Tine einiges an Geduld und viele Ideen aufbringen, die Julia gänzlich fern lagen, das Haus aber doch warm, herzlich und einladend machten. Wohl punktiert, damit auch sie sich darin wohlfühlte, Tine sich ausleben konnte, gleichzeitig auf sie Rücksicht nahm und trotzdem nicht zu viel unnützer Kram herumstand.

Ihre Augen wanderten wieder zu ihrem Smartphone.

Sie hielt inne.

Thorsten Falke

Und ohne weiter nachzudenken, drückte sie auf das grüne Telefonsymbol. Und hielt das Handy ans Ohr.

Nach nur zwei Freizeichentönen erklang die ihr so vertraute Stimme, die immer wieder und immer noch eine ganz eigene, ganz besondere Wärme in ihrem Herzen hervorrief, "Julia. Naaa, hast mich vermisst?"

Sie konnte ihn sich redlich vorstellen.

Mit einer Zigarette zwischen den Lippen oder den Fingern, von der er einen tiefen, hastigen Zug nahm, was sie hören konnte.

Wie oft hatte sie ihn dabei besorgt von der Seite angesehen? Während der Arbeit, oder auch mal danach?

Und doch trotzdem nichts gesagt.

Damals.

Weil es seine Entscheidung war. Weil er alt und weise genug war, um zu wissen, was er seinem Körper damit antat. Oder eben auch nicht.

Und weil sie sehr gut wusste, das man von schlechten Angewohnheiten oder Marotten nur schwer ablassen konnte.

Sie wollte erst auf die überflüssige Frage nicht antworten, war schon kurz davor, die Augen so bezeichnend zu verdrehen, entschied dann aber ihn selbst aufzuziehen, "So offensichtlich?"

Er lachte hörbar auf, seine Stimme hell vor Freude über den Anruf, zumindest glaubte sie das aus seiner herauszuhören, "Wen rufst du denn sonst so spät am Heiligabend an?"

Die Frage war durchaus berechtigt. Und gar nicht mal so unwahr, wie sie es gerne gehabt hätte.

Denn mit nur diesen wenigen Worten zeigte sich, dass er sie, trotz der Entfernung die sie voneinander trennten und all den Monaten, die vergangen waren, immer noch ganz gut zu kennen schien.

Wann war das eigentlich noch mal so genau passiert? Und wann hatte sie es wirklich unvoreingenommen zugelassen?

Ein zartes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie keine so genaue Antwort darauf fand, dafür aber feststellte, dass sie eigentlich sehr glücklich darüber war.

Einen wahren Freund gefunden zu haben. Den sie so vorher noch nicht hatte.

Den sie selbst zu jeder Tag- und Nachtzeit, egal zu welchem Tag, getrennt von vielen hunderten Kilometern, selbst in unterschiedlichen Zeitzonen oder Galaxien und obwohl sie keine Partner mehr waren, trotzdem anrufen konnte und er ihr bedingungslos, unvoreingenommen zu hören würde, als würden sie sich morgen wieder zur Arbeit sehen. Der für sie zur Not auch sofort ins Auto springen und zu ihr fahren würde, wo auch immer sie sein würde.

Das Lächeln blieb, weil sie festgestellt hatte, dass sie an diesem Heiligabend in ihrer dezent weihnachtlich geschmückten Wohnung, wo alles für die Feiertage vorbereitet war, weil Tines Eltern sie besuchen kommen würden, in der Zeit, während sie darauf wartete, dass ihre Freundin nach Hause kommen und sie ihren ersten, wirklich gemeinsamen Heiligabend in Ruhe und Besinnlichkeit verbringen würden, die Eingebung und das unerwartete Bedürfnis verspürt hatte, gerne seine Stimme zu hören, weil sie ihn schon so lange nicht mehr gesprochen hatte.

Und genauso wie damals schon, schwieg sie wieder, bei unangenehmen Wahrheiten. Gefühle zugeben, über Emotionen reden war immer noch etwas, das ihr immer noch nicht unbedingt leicht fiel. Auch, wenn sie mit Tine daran arbeitete, sich bemühte.

Ja ja, das mit den alten Marotten ablegen, das kannte sie auch viel zu gut  ...

"Hast du mein Paket bekommen?", fragte sie stattdessen, um elegant auszuweichen.

"Ja. Wär' aber nich' nötig gewesen."

Ich weiß, ich wollte es trotzdem tun.

"Du selbst hast aber nicht reingepasst?", witzelte er.

Da verdrehte sie dann doch die Augen. Und schmunzelte trotzdem gleichzeitig, während sie sich auf der Couch niederließ.

Weil sie seiner kindlichen, höchst unrealistischen Frage den Schelm anhören konnte, in dem dieser so besondere, trockene, norddeutsche Humor von ihm durchblitzte. Und sie in seiner Stimme sein einseitig lausbubenhafte Schmunzeln heraushören konnte, dass der Hamburger Kiezjung sich immer irgendwie bewahrt hatte.

Gleichzeitig erinnerte es sie daran, dass sie mit dem Gedanken gespielt hatte ihn zu besuchen. Nach Hamburg zurückzukehren. Und er sie immer mal wieder dezent darauf angesprochen hatte, dass seine Tür und die der Bundespolizeiinspektion immer für sie und Tine offen stehen würden.

Zurückkehren zu dem Ort, der ihr einst Zuflucht gewährt hatte. Sie aber auch gedacht hatte, dort zu sterben. Beinahe dort ihre letzten Atemzüge in einer verregneten, dreckigen Seitenstraße neben einer von vielen Kiezkneipen, dem Silbersack, genommen hatte.

Diese Stadt, die ihr Leben grundlegend verändert hatte, sie auch ein bisschen verändert hatte. Besonders danach …

Im Uniklinikum war sie nach zwei Wochen Koma erwacht. An ihrer Seite, mit dicken Tränen in den Augen, die ihr schamlos über die Wangen kullerten, die Frau, für die sie ein Jobangebot in Wiesbaden vom BKA in Erwägung zog. Aber ihrem langjährigen Partner nichts davon gesagt hatte. Die tiefe Stichverletzung im Unterleib war nicht nur äußerst schmerzhaft, sondern auch akut lebensbedrohlich gewesen. Hatte zwar keine Organe verletzt, dafür aber ein nicht unwesentlich wichtiges und größeres Blutgefäß. Wäre sie nur wenige Minuten später im Klinikum angekommen und notoperiert worden, die Ärzte wagten nur zögerlich einzuschätzen, ob sie den Abend dann überlebt hätte und nicht doch verblutet wäre ...

Stattdessen aber hatten sie um ihr Leben gekämpft. Hatte sie gekämpft. Und gewonnen. Ein kleines Wunder vollbracht.

Die Reha danach und auch die Therapiestunden waren mühselig, aber notwendig gewesen. Und sie hatte Zeit gehabt nachzudenken. Viel Zeit. Über ihr weiteres Leben, dass ihr geschenkt wurde.

Ob sie so weiter machen wollte, wie bisher? Oder ob sie neue Wege gehen wollte? Ob sie zufrieden war, wie es lief? Oder ob da nicht doch noch mehr war, was sie entdecken und erreichen wollte? Ob das hier in Hamburg ging? Oder ob es nicht vielleicht sogar an der Zeit war, weiterzuziehen? Ob sie die Frau an ihrer Seite würde ziehen lassen können, ohne sie nicht doch zu vermissen? Oder ob sie der Grund dafür sein wollte, dass die ihretwegen eine Beförderung in einer anderen Stadt absagen würde, nur damit sie zusammen bleiben konnten?

Die Zeit half ihr dabei eine Entscheidung zu treffen, die tief in ihrem Herzen schon längst gefallen war.

Für Wiesbaden.
Vor allem aber für Tine.

Im nächsten Moment verschwand jeglicher Scherz aus seiner Stimme, wurde er ernst. Weil er eine Frage stellte, so unverbindlich wie möglich verstand sich, die ihm immer auf der Seele brannte, ihm am Herzen lag, wenn sie miteinander kommunizierten.

"Und, wie geht's?"

Weil auch er die Bilder in seinem Kopf nicht abschütteln konnte. Sie sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. Von dem Moment, als er sie da in der Seitenstraße gefunden hatte. Sie auf den Rücken gedreht und das ganze Blut erblickt hatte. Die tiefe Wunde ausgemacht und sie mit seiner Lederjacke abgedrückt hatte. Um sich um Hilfe geschrien und Rettungskräfte verständigt hatte. Er sie vor dem niederprasselnden Regen versucht hatte zu schützen, wenn das eigentliche Übel doch das durch seine zittrigen Finger sickernde Blut aus ihrer Wunde war. Sie sich einander angeblickt hatten. Und er die nackte Angst in ihren Augen gesehen hatte. So wie er sie noch nie gesehen hatte. Weil sie nicht sterben wollte. Weil sie leben wollte. Ihre Augen, die so panisch und alarmiert, aber auch immer müder geworden waren damals. Wie er sie davon abgehalten hatte einzuschlafen. In diese trügerisch verlockende, sichere, endlose Dunkelheit. Wie später im Krankenhaus Tine angerannt kam, mit diesem angsterfüllten Ausdruck in den Augen. Er sie einfach in die Arme geschlossen, getröstet und gut zugeredet hatte. Obwohl Julia zeitgleich operiert wurde und er nicht wusste, ob sie es schaffen würde. An dieses machtlose, dieses ohnmächtige Gefühl, nichts tun zu können, außer zu warten und sich um Tine zu kümmern. Die erlösende Nachricht der Ärzte. Und der anschließende Anblick durch ein Beobachtungsfenster des Patientenzimmers auf der Intensivstation, von Julia da reg- und bewusstlos in dem Krankenbett liegend. Und von Tine, wie sie an Julias Bett saß, ihre Hand in ihren eigenen festhielt und bitterlich still weinte.

Sie zögerte. Er hörte den tiefen Atemzug, mit dem sie sich einige Sekunden ergaunern wollte.

Sie hatten nicht oft darüber gesprochen. Über die schrecklich langen Minuten dort in der Gasse. Wie über so manch andere emotional aufwühlende Situationen oder Fälle während ihrer gemeinsamen Zeit und Partnerschaft.

Und eigentlich wollte er sie so viel mehr fragen.

Wie geht es dir? Wie geht es dir wirklich?
Wie ist es dir ergangen? Merkst du noch die Wunde? Beeinträchtigt sie dich?
Ist die Stadt gut zu dir? Sind die Leute da freundlicher? Kommst du mit ihnen besser aus? Vermisst du das Wasser, jetzt, wo wieder Meldungen von einer bevorstehenden Sturmflut in den Nachrichten herumgeistern? Oder vielleicht sogar ein bisschen mich?
Bin nur ich es, oder musst du auch manchmal an mich denken? An mich und unsere gemeinsame Zeit? So wie ich?

Nur kurz hatte sie ihren Blick verloren, besann sich aber schnell wieder und erhob sich von der Couch, als würde sie es innerlich nicht mehr aushalten stillzusitzen.

Stattdessen lief sie hinüber zu einem der Fenster und blickte hinaus ins Dunkel des Abends und beobachtete, wie kleine Schneeflocken im Licht einer Straßenlaterne sanft tanzten, "Es geht mir gut."

"Das freut mich", aber er kannte sie eben auch, dass sie gerne die Dinge herunterspielte, darum hakte er noch einmal vorsichtig nach, "Keine Nachwehwehchen?"

Dass das kein richtiges Wort für die Spätfolgen, auf die er abzielte, war, ließ Julia unkommentiert.

Er hatte ja mitbekommen, dass, obwohl die Wunde gut und komplikationslos verheilt war, sie ihr immer wieder Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Viele Worte des Leidens oder des Bedauerns hatte sie darüber nicht verloren. Litt sie leise und in sich hinein. Aber die gelegentlichen Handbewegungen, die eben an der Stelle verweilten, wo nun eine weitere Narbe ihren Körper zeichnete, sie wieder vom Leben gezeichnet war und ihre verzerrten Gesichtszüge in solchen Momenten hatten sie verraten. Bis sie ihm eröffnet hatte, dass sie immer mal wieder von wellenartigen Schmerzen regelrecht überfallen wurde, die manchmal aus dem Nichts kamen und sich anfühlten wie Stromschläge, die sich von der Wunde ausgehend durch ihren ganzen Körper zogen, bis sie ein taubes Gefühl zurückließen. Sie kamen in Schüben. Und meistens, wenn sich das Wetter änderte. Es beeinträchtigte sie nicht, aber lästig und eben schmerzhaft waren sie allemal, auf die sie gut und gerne verzichten konnte. Aber wie sollte es auch anders sein, wenn einem 12 Zentimeter Edelstahl in den Unterleib gerammt wurden ... ?

"Mal so, mal so."

Nichts, das sie nicht schon kannte. Und aushalten konnte.

Ihre Verletzungen ...

Auch so ein Thema, über dass sie nicht gerne redete, wie er wusste. Damals wie heute. Sowohl über den Streifschuss von Afghanistan, als auch über die Stichverletzung von vor einem Jahr. Als schäme sie sich dafür. Für ihr Versagen, dass kein Versagen gewesen war. Weder das eine, noch das andere. Und so gerne hätte er es ihr gesagt. Aber weil es für sie noch ein so sensibles Thema war, schwieg er. Wie so oft. Ihr zu liebe. Würde er ihr es stattdessen irgendwann einmal sagen, wenn sie dafür bereit war.

Dass sie ihn immer beeindruckt hatte, vom ersten Moment an. Wie stark sie war. Und wie besonders. Dass es kein Versagen gewesen war. Sondern ein Zeichen ihrer besonderen Stärke. Dass er so viel Respekt davor hatte, wie sie mit diesen Schicksalsschlägen umging und trotzdem danach mit tiefster Überzeugung wieder an die Arbeit ging. Wie sie sich wieder ins Leben zurückgekämpft hatte. Und den Menschen wieder begonnen hatte, zu vertrauen. Auch ihm. Und das sie sich nicht schämen musste, nicht sollte. Niemals. Dass sie stolz sein konnte. Dass er es war, auf sie.

"Wie geht's Tine? Steigt ihr die Beförderung schon zu Kopf?", scherzte er stattdessen, um in sichere Gewässer umzuschwenken.

Denn wenn er eins wusste, dann, dass allein der Gedanke an die andere Frau, die tobenden und stürmischen Gedanken hinter ihrer Stirn besänftigen konnten. Er hatte es ja gesehen, war selbst Zeuge davon geworden. Wie eine simple Berührung von Tine ausgereicht hatte, um Julia zu beruhigen. Es hatte ihn überrascht und fasziniert. Schon die simple Geste, einfach ihre Hand zu nehmen. Oder ihre Hand an Julias Wange zu legen, ihr mit dem Finger über die Haut oder das blonde Haar zu streichen. Egal ob im Krankenhaus, oder danach.

Was er natürlich auch wusste, dass Tine sich ihre Beförderung mehr als nur redlich verdient hatte.

Julia hörte, wie er wieder einen Zug seiner Zigarette nahm, ihn danach auspustete.

Vom Handy weg, als wollte er wie damals auf sie und ihre Abneigung des kalten, stinkenden Qualms Rücksicht nehmen.

"Sie arbeitet noch. Hat aber hoffentlich schon Schluss", sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr, "Müsste gleich nach Hause kommen."

"Uih. Habt ihr euch verdient. Erstes Weihnachten gemeinsam?"

Sie blickte zu Boden. Und ohne, dass sie es wirklich bewusst wahr nahm, legte sich eine sanfte Röte auf ihre Wangen. Wurde auch ihre Stimme weich, "Ja."

Und ja, sie freute sich auf die ruhigen, auf die gemeinsamen Stunden.

Weil sie seit letztem Jahr verstanden hatte, dass solche Momente nicht selbstverständlich waren. Das alles im Leben und das Leben an sich nicht selbstverständlich waren.

Sie hatte genickt, als könnte er es sehen. Als sie sich besann, dass ihr früherer Partner das eben nicht konnte, antwortete sie, "Und du? Bereitschaft?"

Ob Falke nickte oder nicht konnte sie nicht sehen, "Jo. Hab Hendrich mal zu seiner Familie nach Hause geschickt. Der verbringt in letzter Zeit zu viel davon hier."

Julia lachte leise auf, "Und du nicht?"

Schlagfertig wie eh und je war sie, so wie er sie kannte.

Das mit dem Schweigen bei unangenehmen Wahrheiten, dass konnte er auch ganz gut.

"Du doch früher auch."

Ja, früher. Mittlerweile aber legte sie es nicht mehr unbedingt darauf an, wenn es nicht nötig war. Denn mittlerweile gab es eine Alternative.

"Vielleicht versteckt sich Hendrich auch vor der Reetz."

Julia grinste einseitig. Und fragte sich insgeheim, wann ihre frühere stellvertretende, vermutlich immer noch stark kettenrauchende Chefin und wohl baldige Ministerin, wie gemunkelt wurde, ihre Bemühungen um den immer noch um seine viel zu früh verstorbene Frau trauernden Hendrich aufgeben würde.

"Grüß ihn von mir, Hendrich."

Ihr Chef bei der Bundespolizei in Hamburg, der ihr genauso angenehm in Erinnerung geblieben war und einen gleichwertig hohen Stellenwert hatte, wie einst Polizeirätin Hellinger am Hannoveraner Flughafen. Mit und für beide hatte sie gerne gearbeitet.

"Jo, mach ich."

Der sucht immer noch nach adäquaten Ersatz für dich.

"Und Torben?"

"Dem geht's prächtig. Bisschen wenig Schlaf vielleicht, aber haben sich gut eingelebt, als Familie. Der Jung' is mit einem Schlach' richtig erwachsen geworden."

Das mag daran liegen, das er erwachsen ist, Falke. Manche von uns brauchen ein einschneidendes, lebensveränderndes Ereignis, um das zu begreifen.

Den Gedanken behielt Julia allerdings für sich, hörte Falke weiter zu, der noch mehr Silben zu verschlucken schien, als der freudig berichtete, "Bin morgen bei denen eingeladen."

"Sag ihnen liebe Grüße von mir."

"Von seiner Ziehmuddi, mach ich, die wird er gerne hören."

Und sicher würde er ihr Bilder schicken, von ihrer kleinen, noch so jungen Namensvetterin, die ihren Zweitnamen nicht von irgendwoher hatte.

Torben hatte ihm das nie so direkt gesagt, aber eigentlich war es ein offenes Geheimnis  unter den Männern. Von Pina hatte Falke erfahren, dass Magdalena ihre verstorbene Oma gewesen war und sein Sohn wiederum den zweiten Namen vorgeschlagen hatte.

Warum hatte der ihm nie gesagt. Vielleicht würde er das auch nie. Oder vielleicht erst, wenn er älter war.

Vermutlich aber, weil sie ihm mehr eine Mutter gewesen war, in der kurzen Zeit, die sie sich kannten, als seine eigene es wirklich je gewesen war … ?

Das konnte wohl nur Torben wirklich wissen und beantworten.

Julia hatte ihn jedenfalls damals überrascht, fast schon ein bisschen entsetzt angesehen, aber trotzdem nichts weiter dazu gesagt, stattdessen schnell den Blick abgewendet.

Zeigte er ihr aber Bilder des kleinen Mädchens, betrachtete sie die mit einer gewissen Sanftheit in den sonst so starren Gesichtszügen und einem sanften Hauch eines Lächelns im Gesicht. Und einem kleinen Strahlen in den so tiefbraunen Augen.

Für Julia Grosz waren Kinder vielleicht selbst nichts, was sie sich für ihr Leben vorstellen konnte, nicht damit vereinbaren konnte. Sie selbst zu bekommen und groß zu ziehen. Seit die von Tines Bruder allerdings in ihr Leben getreten waren, hatte sie begonnen, Kindern anders zu begegnen. Mit weniger Skepsis, dafür mit mehr Sensibilität und Feingefühl. Und vielleicht war es Tines Leichtigkeit gewesen, die ihr dabei geholfen hatte. Und die Tatsache, dass die kleinen wirklich sehr vernarrt waren, in ihre Tante Julia. Und sie diese Rolle nach und nach immer offener angenommen hatte. Und sich damit auch wohl zu fühlen schien.

"Und ihr? Habt ihr die Feiertage frei?", fragte Falke.

Tatsächlich ja. Nach dem langen und harten letzten Jahr, war es einfach nötig gewesen. Das nächste Weinachten würden sie dafür arbeiten, hatten sowohl Julia als auch Tine ihren neuen, jeweiligen Vorgesetzten als Ausgleich angeboten. Und die genau wie die Kollegen hatten absolut Verständnis gezeigt.

"Morgen kommen Tines Eltern. Und danach fahren wir zu meinem Vater."

"Das klingt stressig. Schön, aber stressig", fasste Falke trocken zusammen.

Julia grinste bei Falkes doofen Spruch, schüttelte den Kopf dabei.

Der fügte dann auch gleich noch an, "Lasst es euch gut gehen, ja? Auch wenn's nach Stress klingt, wird's sicher schön."

Das waren die verbalen Zugeständnisse, die sie einander machten.

Denn auch er wusste, das Julia nicht viele Besuche in die alte Heimat aus Kindestagen unternommen hatte, ihr Herz aber, als Nordjung unverständlicherweise, immer irgendwie auch an ihren Bergen hing.

"Und dann irgendwann müssen wir aber mal wirklich auf Tines Beförderung anstoßen."

Er ließ bewusst unerwähnt, dass Tine ihm von Julias anstehendem Dienstjubiläum in diesem Jahr erzählt hatte. Und dabei quasi vorausgesetzt hatte, dass er sie zu diesem Anlass besuchen kommen würde. Das Dienstjubiläum, aus dem Julia typisch für sie kein großes Ding machen wollte.

Den Antrag auf Urlaub hatte er bereits bei Hendrich eingereicht, der ihn mit sanften Worten ohne zu zögern bewilligt hatte, nachdem er ihm von dem Anlass beiläufig erzählt hatte, "Richten sie Grosz unsere besten Wünsche aus."

Gerne hätten sie dieses Dienstjubiläum mit ihr gemeinsam in den Backsteinmauern der Hamburger Bundespolizeiinspektion gefeiert.

Jetzt aber ging im Kollegium eine Karte um, die Hendrich organisiert hatte, in die die Kollegen fleißig unterschrieben. Der Plan war, dass Falke die und einen Blumenstrauß im Spätsommer Julia übergeben würde.

Einmal Bundespolizei, immer Bundespolizei.
Und Teil der Familie.

Nur weil sie die Behörde gewechselt hatte, hieß das nicht, dass die Kollegen in Hamburg sie vergessen hatten. Ganz im Gegenteil. Oft wurde er nach ihr gefragt. Wie es ihr ging, was sie machte, ob oder wann sie mal nach Hamburg zurückkommen würde. Und das er ihr ausrichten sollte, dass die Kollegen gerne auf ein Bier bei ihrer Rückkehr auf sie und die alte Zeit anstoßen wollten. Okonjo zum Beispiel, hatte mit einem Augenzwinkern und einem verschmitzten Grinsen dazu gesagt, "Gerne auch auf 'ne Packung Salzstangen."

Und er war sich gar nicht mal so sicher, ob sie sich dem wirklich bewusst gewesen war. Welchen besonderen Platz sie inne und welche tiefe Lücke sie hinterlassen hatte.

Die ahnungslose Julia dachte wiederum still bei sich, typisch Falke, Hauptsache Freibier. Und grinste dabei.

"Gibt nur Bier oder 'ne Billstedter. Durcheinander getrunken wird nicht. Du musst dich schon entscheiden", zog sie ihn auf.

"Na hör mal, det kannste gleich ma' knicken."

Die Rechnung würde wohl horrend hoch ausfallen. Und sehr wahrscheinlich auf ihre Kosten gehen.

In Wiesbaden sah Julia, wie der Lichtkegel eines einbiegenden Autos in der Einfahrt an der Backsteinmauer der Garage ihres Einfamilienhauses erschien, dessen eine Haushälfte sie zusammen mit Tine bezogen hatte. Aus dem Fenster hatte sie das dunkle Dach des alten Golfs ihrer Freundin erkannt, von dem die sich nicht hatte trennen wollen und der es mit nach Wiesbaden geschafft hatte.

"Tine kommt gerade nach Hause."

Sie hörte wie Falke einen tiefen Atemzug nahm, seine Stimme aber war sanft und verständnisvoll, "Dann habt ma' jetzt 'nen schönen Abend zusammen."

So ganz aber wollten sie wohl beide nicht auflegen. Es war schon erstaunlich. Man konnte sich monatelang nicht hören, aber dann, wenn man sich dann doch endlich mal wieder meldete, hatte man zwar nie wirklich viel zu erzählen, aber die Zeit verging trotzdem wie im Flug und man wollte eigentlich noch gar nicht aufhören zu reden.

Julia schluckte, "Also dann."

Falke lächelte, "Na dann."

Er hörte, wie ihre Stimme sanft wurde. Die Aufrichtigkeit in ihren Worten, "Frohe Weihnachten Falke. Grüß Torben, Pina und die Kleine von mir."

Die kleine Magdalena Julia.

"Frohe Weinachten Julia. Sag Tine hallo von mir. Erholt euch gut."

Es vergingen einige Sekunden, die auf Julias silberner Armbanduhr vorüber tickten und sie noch auf den Namen ihres Handys blickte, nachdem sie aufgelegt hatten, während ihre andere Hand sich unbewusst in ihren Nacken gelegt hatte, in der sie wieder die Verspannung der letzten Tage spürte.

Dann hörte sie einen Schlüssel im Türschloss und ein Klicken.

Und keine Sekunde später Tines so vertraute Stimme, "Bin zu Hause!"

Das bin ich auch, jetzt wo du da bist.

Der Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal. Aber er überwältigte sie immer wieder aufs Neue. Und würde sie womöglich immer wieder in unerwarteten Momenten treffen. Immer dann, wenn sie sich wieder daran erinnerte, welches Glück sie gehabt hatte. Und gefunden hatte.

Als würden ihre Füße sie von alleine tragen, lief sie los, in den Flur, ihrer Freundin entgegen. Die hatte ihre Schuhe und Uniformjacke ausgezogen und war gerade dabei, die Jacke aufzuhängen, als Julia vor ihr stehen blieb, einfach ihr Gesicht in beide Hände nahm und ihr einen liebevollen Kuss auf die Lippen drückte.

Mit ihrem Gesicht eng bei Tines, ihrer Stirn an die ihrer Freundin ruhend, flüsterte sie fast leise, "Willkommen daheim."

Ich hab dich vermisst und auf dich gewartet …

"Frohe Weihnachten", wieder ein Kuss, dann ein Hauch von Julias Stimme, "Ich liebe dich."

Tines Hände hatten sich an Julias Ellbogen gelegt.

Dieses nur für ihre Freundin markant typische, über beide Ohren strahlende Lächeln zauberte sich in Tines Gesicht, "Ich dich auch."

Für weitere, lange und schöne Sekunden blieben sie einfach so, eng beieinander stehend, die Köpfe nah beieinander, wanderten Julias Hände über Tines Schultern und Armen zu ihren Händen, die sie in ihre eigenen nahm. Und versuchte zu wärmen.

Weil auch der Winter in Wiesbaden kühl und unbeständig sein konnte. Vor allem, wenn die kühle Polarluft sich in klaren Nächten landeinwärts Richtung Gebirge voranschob. Nicht so, wie die kalte, steife und salzige Meeresbrise in Hamburg, die einem um die Nase wehte. Es erinnerte sie viel mehr wieder an ihre Kindheit. Hier in Wiesbaden gab es durchaus auch mal Schnee, der verweilte und nicht am nächsten Morgen wieder verschwunden war, weil er der feuchten Seeluft weichen musste. Nur das Schreien der Möwen hatte sie sich anfangs noch eingebildet, nur um dann festzustellen, dass es die hier nicht gab, sie ihre Existenz misste und doch nicht vermisste, weil sie ihren BMW nicht ständig von ihren Fäkalien befreien musste.

Nein, es war eigentlich alles ganz gut so, wie es war. Hier. In diesem Moment. Mit Tine. In Wiesbaden.

Da rümpfte Tine entzückt die Nase, "Was riecht hier denn so gut?"

Sie zog die Augen zusammen, behielt das Lächeln bei, bei dem Verdacht, der ihr kam, "Hast du gekocht?"

Etwas, was vielleicht nur selten vorkam. Aber umso besonderer war, wenn es dann mal passierte. Und Tine war damit absolut fein. Weil sie wusste, was das in der Welt der Julia Grosz, wo Gesten und Taten manchmal einfach mehr zählten als die so wohlbedacht gewählten Worte, bedeutete.

Eine sanfte Röte stieg in Julias Wangen auf, sie schmunzelte, zuckte mit den Schultern.

"Hast du Hunger?"

Tine antworte erwartungsgemäß, "Und wie, Mordskohldampf."

Sie grinste breit bei dem Geisslerischem Overstatement.

Und wegen genau dem legte Julia den Kopf zur Seite und blickte sie amüsiert mit hochgezogener Augenbraue an.

Wann bitte hatte sie das zuletzt jemanden sagen hören?

Je mehr Sekunden jedoch verstrichen, desto inniger, ja verzückter schmunzelte sie Tine an. Und deren Grinsen wuchs schon allein deshalb, fast schon diebisch. So sehr, dass sie wieder die Nase rümpfte. Dieses Mal aber vor lauter Freude und Glückseligkeit.

Und ihr Strahlen erfüllte Julias Herz einfach auf eine nie dagewesene Weise.

Und auch Julia verfiel ganz schnell bei dem Anblick in ein lockeres, sehr verzücktes Grinsen, "Na dann komm."

Julia umschloss Tines Hand, gemeinsam liefen sie in die Küche, aus der nun leise Weihnachtsmusik zu hören war. Eine Playlist von Julias Handy, gerade lief eine Coverversion des Wham Klassikers aus den 80ern.

Und irgendwann, den Entschluss hatte sie schließlich nach dem Telefonat mit Falke gefasst, würde sie ihn besuchen kommen. Würde sie zurückkehren, nach Hamburg. Um sich dem zu stellen, was sie bisher genau davon abgehalten hatte und auch mit dieser Stadt ihren Frieden zu schließen, die ihr so wohlgesonnen war, die ihr aber auch ihre gefährlichen, ihre verruchten Schattenseiten gezeigt hatte.

Irgendwann im nächsten Jahr, das hatte sie sich als einzigen Vorsatz fest vorgenommen.

Für den Augenblick aber war einfach alles gut. Und schön. Sogar ein bisschen besinnlich.

Und so durfte es gerne noch eine ganze Weile bleiben, während draußen die Schneeflocken im Licht der Straßenlaternen tanzten und die Welt in einem dünnen, weißen Kleid bedeckten.


In Hamburg hatte Thorsten Falke das Handy vom Ohr genommen, in seinem Sessel im Wohnzimmer sitzend aufgelacht und gelächelt.

Mit Julias Anruf hatte er nicht unbedingt gerechnet, es war aber eine angenehm schöne Überraschung gewesen.

Drum blieb das Lächeln, als er die Zigarette in einem Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch ausdrückte und sich zu Elliot hinunterbeugte, dem er durch das rot-gestromte lange Fell strich, während der erst seinen Kopf, dann seinen Katzenkörper an Falkes Bein rieb und dabei immer lauter und inbrünstiger vor sich her schnurrte.

Dann lief er davon. Und Falke stellte sich wieder auf, steckte die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans.

Blickte auf das Paket vor ihm auf dem Tisch.

Während die ausgeleierte Schallplatte der Rolling Stones im Hintergrund lief, drehte er sich zu einem Schrank, zog ein Taschenmesser daraus und öffnete es damit schließlich.

Und staunte nicht schlecht.

Darin fand er einen rosafarbenen Strampler mit einem roten J darauf, einem eingestickten Krönchen, ganz viel Glitzer, dem, wie er wusste, Julia unter normalen Umständen so gar nichts abgewinnen konnte und kleine, dicke, bunte Wollsöckchen. Die beide sehr offensichtlich nicht für ihn, sondern für Torbens Tochter gedacht war. Mit einer kleinen, beigelegten Karte, die in Julias schnörkelloser Handschrift mit 'Von Tante Julia & Tante Tine' unterzeichnet war.

Darunter aber, lag eine Packung edler Zartbitterschokolade mit Minze von einem regionalen Laden aus Wiesbaden und noch etwas, das in braunem Papier eingewickelt war. Nachdem er es aufdeckte, fand er eine weitere Karte und eine dunkelbraune Lederjacke, ähnlich der, die er immer trug.

In diesem Moment hielt Falke den Atem an, nur für einen Augenblick. Verspannte sich seine Kiefermuskulatur, weil er die so heftig gegeneinander presste. Dann nahm er einen tiefen Atemzug. Und schluckte.

Nur dass er seine alte seit dem Vorfall beim Silbersack nie wieder angezogen hatte. Weil er nicht alle Spuren ihres Blutes hatte entfernen können. Und weil sie, auch wenn er es nicht mehr so deutlich sehen konnte, danach roch. Nach dem Blut, der Angst, der Ungewissheit. Er hatte sie noch in derselben Nacht wie besessen regelrecht gescheuert, hatte jedoch nicht alle Blutspuren beseitigen können und sie deshalb anschließend auf einem Bügel in den Kleiderschrank gehängt. Und nie wieder angezogen.

Weil ihm jedes Mal wieder die Bilder ins Gedächtnis schossen, nur wenn er an die Jacke dachte.

Diese hier war neu und darum nicht so ranzig und abgetragen, wie seine alte, zugegeben in die Jahre gekommene. Die immer noch nach dem getrocknetem Blut roch und nicht wie die Neue, nach dem frischen Lederstoff. Und ehrlich, wenn ihm nicht so viel daran gelegen hätte, er hätte sie schon längst entsorgen müssen. Jetzt aber war sie mit Blut befleckt und mit Erinnerungen verknüpft, die er weit verdrängen wollte. Die Neue war hingegen von einem namhaften Hersteller. Konnte auch nicht billig gewesen sein.

Er öffnete die Karte.

Auf das sie dich warm hält.
Und du das Geschehene hinter dir lassen kannst. Denn es ist nicht das von unserer Zeit was bleibt.
Frohe Weinachten Thorsten.
Danke,
Julia

Sie hatte es also doch bemerkt, damals. Dass er diese Jacke nicht mehr getragen hatte und auch nie wieder tragen konnte. Und ihre, wie immer sehr treffenden Schlüsse gezogen.

Der Dank galt wohl mehr.

Vielleicht für ihre gemeinsamen Jahre. Vielleicht für das Vertrauen und den Respekt, mit dem er ihr ab der ersten Sekunde an begegnet war. Und sie ihr Vertrauen genau dadurch auch wieder gefunden hatte. Oder das er ihr immer bedingungslos und so loyal zu Seite gestanden hatte, wie sie für ihn. Wie damals mit Ela.

Vielleicht auch dafür, dass er für sie da gewesen war, als sie ihm am meisten, am dringendsten, am entscheidendsten gebraucht hatte.

Da in der Seitengasse.

Vielleicht, weil dieses neue Leben für sie erst möglich wurde, weil er es möglich gemacht hatte.

Damals in Hannover. Und später auch in Hamburg.

Vielleicht waren sie sich immer schon auf einer ganz besonderen, ganz eigenen Ebenen nah.

So wie es nur wirklich tiefe Freunde sein konnten.

Und vielleicht war es schon immer irgendwie offensichtlich, waren sie offensichtlich gewesen. Dass sie sich doch eigentlich ganz gut verstanden. Und aufeinander Acht gaben, umeinander besorgt waren. So wie gute Freunde das eben machten. Zu denen sie geworden waren.

In diesem Moment klingelte sein Handy, das ebenfalls auf dem Tisch lag. Er griff danach.

Ein Toter wurde in der Alster gefunden.
Buisness as usual, hier in Hamburg.

Er wollte gerade in den Flur stapfen, da hielt er jedoch noch mal inne. Drehte sich um.

Zum Tisch, zu dem Paket.

Er musste die Jacke ja schließlich eintragen. Und wann, wenn nicht sofort war die beste Gelegenheit dazu.

Als er das Haus nur wenige Minuten später schließlich eilig verließ, fühlte es sich fast wie eine Uniformjacke an, die perfekt, wie angegossen saß und passte. Und als er in seinen alten Citroën einstieg, dem Drang widerstand sich die nächste Zigarette anzünden zu wollen und den abgegriffenen Schlüssel ins Zündschloss steckte, war es ihm wie in guten alten Zeiten. Als würde sie neben ihm auf dem Beifahrersitz sitzen. Erfüllte ein warmes Gefühl seine Brust, nicht nur wegen der Jacke, die er nun vortan trug.

Mit einem kurzen Blick zur Seite auf den leeren Sitz nuschelte er zu niemanden wirklich vor sich her, "Ich vermiss' dich ja auch immer noch so'n büsschen."

Und auch wenn sie nicht hier war, war sie trotzdem auch immer bei ihm.

Vor allem aber freute er sich für sie, für Julia Grosz. Für das neu gefundene Glück. Selbst wenn es in einer anderen Stadt sein sollte.

Aber er freute sich für sie, von ganzem Herzen.

Konnte er es kaum erwarten sie dann auch bald endlich wiederzusehen. Sie in die Arme zu schließen, sie an sich zu drücken und zu wissen, dass es ihr gut ging, dass sie endlich angekommen war, in dieser Welt. Ihren Platz gefunden hatte.

Und dieses Strahlen in ihrer Stimme zu hören, es war das größte Geschenk, was er sich zu einem Anlass wie Weihnachten wünschen konnte.

Zu wissen, dass sie glücklich und im Leben angekommen war.

Mit einem breiten Lächeln startete er den in die Jahre gekommenen, aber frisch geölten Motor.

Und fuhr hinaus in die Straßen seines Kiez.


Isn't it obvious?
You were right in front of me
With the answers
("Obvious" - CHPTRS)