March to the Sea

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March to the Sea
Note
Die Rechte an den Hauptfiguren liegen bei der ARD. Die Handlungen in der Geschichte sind teilweise an Ereignisse in der Serie angelehnt, ansonsten frei erfunden.PS: „Esther Schweins = deutsche Cate Blanchett und Julianne Moore zusammen.“ (c) @swanssmile

Chapter 1

Kapitel 1

 

I. Zwei Wohnungen - irgendwo in Hamburg

Der Himmel über Hamburg scheint tiefer zu hängen als sonst und die Wolken jagen darüber hinweg, getrieben vom stürmischen Wind, der von der Nordsee her weht. 
In einer hellen Parterrewohnung mit hohen Decken ist Barbara Geldermann, Staatsanwältin am Landgericht Hamburg, gerade dabei, ihr Make Up aufzulegen. Gleich muss sie los, wenn sie vor dem Beginn der Verhandlung noch einen Abstecher in ihr Büro machen will.
Mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel überzeugt sie sich, dass ihr Gesicht zu ihrer Zufriedenheit geschminkt ist und verlässt dann das Badezimmer. Sie zieht den hellgrauen Blazer über ihr schwarzes knielanges Businesskleid, wickelt sich den schwarzen Schal um den Hals und zieht dann den Wollmantel in der gleichen Farbe an. Den würde sie heute brauchen - das Wetter würde, ganz typisch für Oktober in Hamburg, den ganzen Tag kalt und nass bleiben. Sie schnappt sich ihre braune Arbeitstasche und schlüpft dann in ihre schwarzen Pumps, von denen sie weiß, dass sie den Weg über die glitschigen Pflastersteine bis zu ihrem Parkplatz überleben werden. Ihr gehen tausend Dinge durch den Kopf - ihre ToDo Liste für den heutigen Tag, der erste Termin des Tages im Gerichtssaal (es ist der Tag der Verfahrenseröffnung in einem Verkehrsdelikt) und die Tatsache, dass sie noch einen ziemlich heftigen Fall zu bearbeiten hat.

 

Mehrere Kilometer entfernt, in einem anderen Stadtteil, ist Isabel von Brede, Anwältin und Namenspartnerin der Kanzlei Brede & Gellert, gerade in der Küche in ihrer Wohnung ein Stockwerk über ihrem Büro, wo sie sich einen starken schwarzen Kaffee aufgebrüht hat. Den würde sie heute brauchen. Auch sie geht im Kopf bereits die Dinge durch, die sie am heutigen Tag erwarten würden. Als der Vollautomat endlich die große dunkelblaue Henkeltasse mit dem Logo der Universität Heidelberg mit der dunklen, dampfenden Flüssigkeit gefüllt hat, zwingt sie sich jedoch dazu, die Gedanken kurz von der Arbeit wegzuschieben. Sie greift nach der neuesten Ausgabe der Hamburger Morgenpost und überfliegt die Titelseite. Wenig später fällt ihr Blick auf die Wanduhr - und mit Schrecken stellt sie fest, dass es bereits nach acht ist - dabei muss sie doch um neun vor Gericht sein. Hektisch kippt sie den Rest Kaffee hinunter, schnappt sich im Flur ein Paar ihrer heißgeliebten halbhohen Stiefeletten und nimmt den dunkelgrauen Mantel samt passendem Schal vom Haken. Den würde sie zwar auf dem Weg in ihr Büro - der sie lediglich eine Etage tiefer führt - nicht brauchen, wohl aber, wenn sie später durch die Stadt und zu Gericht muss. Der Wetterbericht war in seiner Vorhersage eindeutig gewesen: kalt, nass, stürmisch. Herbst in Hamburg eben.

Nach einem letzten kritischen Blick in den großen Spiegel im Flur nimmt Isabel von Brede ihre schwarze Ledertasche, löscht das Licht und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Kurz darauf lässt sie sich in ihren Bürostuhl fallen und fährt ihren Laptop hoch, um sich ein letztes Mal die Akte des Falls anzuschauen, dessen Verteidigung sie übernommen hat und der sie dazu zwingen würde, um 8:40 Uhr ihr warmes Büro zu verlassen und sich auf den Weg zum Landgericht zu machen. 

Weder Isabel noch Barbara wissen zu diesem Zeitpunkt, wer ihnen jeweils auf der anderen Seite des Gerichtssaales gegenüber stehen wird.

 

II. Landgericht Hamburg, Foyer

Eine stürmische Brise weht in das Foyer mit dem marmornen Boden des Landgerichts Hamburg, als Isabel von Brede um 8:50 Uhr durch die gläserne Tür tritt. 
“Puh, endlich im Trockenen”, sagt sie halblaut zu sich selbst und fährt sich mit einer tausendmal geübten Geste durch die Haare, um diese wieder in Form zu bringen. Der Wetterbericht hatte wirklich nicht zu wenig versprochen.
Der Sicherheitsbeauftragte, der in seinem gläsernen Büro direkt am Eingang des Gebäudes sitzt, grüßt sie mit einem freundlichen Lächeln und einem “Guten Morgen!”, als sie grüßend die Hand hebt. Dann macht sie sich auf den Weg zum Saal II des Gerichts, in dem an diesem Morgen der erste Verhandlungstag angesetzt war. Während Isa die Treppe hinauf steigt, überlegt sie, wer von den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten des Landgerichts Hamburg wohl dieses Mal die Anklage führen würde. Sie hofft auf Staatsanwalt Weisgerber, ein junggebliebener Mittfünfziger, den sie seit langer Zeit kennt und von dem sie weiß, dass dieser sich normalerweise recht umgänglich vor Gericht gab.

Doch als sie den Flur zum Saal II des Gerichts betritt, wird ihr klar, dass ihr Hoffen umsonst war. Denn von der anderen Seite des Flurs nähert sich eine Frau mit kupferfarbenem Haar - sie ist schon in ihre Robe gekleidet und marschiert, ungeachtet ihrer hohen Absätze, schnellen Schrittes auf die große Holztür des Gerichtssaals zu.
‘Na prima, die Eiskönigin’, denkt sich Isa und verdreht innerlich die Augen. Das würde also kein ruhiges Verfahren werden - Staatsanwältin Barbara Geldermann eilte der Ruf eines gnadenlosen, arbeitswütigen Terriers voraus. Wenn sie sich einmal in einem Verfahren verbissen hat und von der Schuld des oder der Angeklagten überzeugt ist, setzt sie alles daran, dass die jeweiligen Personen ihre gerechte Strafen erhalten.  Isa weiß auch, dass sich die Staatsanwältin insbesondere auf Fälle von Missbrauch und häuslicher Gewalt spezialisiert hat; in den vergangenen Jahren hatte sie so gut wie jeden Angeklagten, der sich einer solchen Tat mutmaßlich schuldig gemacht hatte, ins Gefängnis gebracht. Isa schätzte und respektierte sie dafür, auch wenn ihr manchmal das Durchhaltevermögen der anderen das Leben schwer machte. 

Der rothaarigen Frau, die gerade unter dem Geklapper ihrer Absätze den Flur hinunterkommt, geht es ähnlich. Auch sie ist alles andere als begeistert, als sie Isabel von Brede ausmacht, die vor der noch verschlossenen Tür des Gerichtssaals steht. Sie würde es nie laut sagen, aber sie hatte auf Markus Gellert gehofft, von Bredes Namenspartner und Kollege. Von ihm weiß sie aus Erfahrung, dass er eher dazu bereit ist, einzulenken, wenn es um die Verteidigung seiner Mandanten ging. Isabel von Brede hingegen ist das komplette Gegenteil - sie ging, wenn es sein musste, bis zum Horizont und darüber hinaus für ihre Mandanten. Eine Tatsache, die Barbara zwar schätzt (schließlich war auch sie einmal Rechtsanwältin, bevor sie zum Staat wechselte), die aber oft dazu führt, dass sich Verhandlungstage in die Länge ziehen. Und das kann sie heute wirklich nicht gebrauchen, da sie den Großteil ihrer Zeit am heutigen Tag in den Fall eines vor zwei Wochen ausgehobenen Menschenhändlerrings auf St. Pauli investieren will und muss.

Der Fall heute Morgen betrifft etwas ganz anderes - es geht um einen Autofahrer, der mutmaßlich eine Radfahrerin im morgendlichen Verkehr übersehen und angefahren hat, als er nach links abbiegen wollte. Die entgegenkommende Radfahrerin war mit leichten Verletzungen davongekommen, dennoch will Barbara alles daran setzen, den Mann seiner gerechten Strafe zuzuführen, auch wenn sie ihn wohl nicht ins Gefängnis bringen würde.

“Guten Morgen, Frau Staatsanwältin”, begrüßt Isabel von Brede die Frau in der schwarzen Robe nüchtern, als diese vor dem Gerichtssaal ankommt.

“Guten Morgen, Frau von Brede”, erwidert Barbara die Begrüßung frostig und spürt zu spät, dass sie kälter und schnippischer klingt als eigentlich beabsichtigt.

“Brede reicht”, kommt es daraufhin von der blonden Frau in einem ebenso wenig freundlichen Tonfall.

Für einen Moment stehen die beiden etwas unschlüssig vor der verschlossenen Tür, keine von ihnen sagt ein Wort. Vielmehr betrachten sie sich gegenseitig intensiv, so, als würden sie abschätzen wollen, wie gefährlich ihnen die jeweils andere werden würde.

Isa kann nicht anders als festzustellen, dass die Staatsanwältin mit den kupferroten, zu einem Dutt gedrehten Haaren wieder einmal aussieht, als wäre sie geradewegs einem Modemagazin entstiegen. Da sie ihre schwarze Robe noch nicht geschlossen hat, sieht sie, dass Barbara Geldermann ein knielanges schwarzes Kleid trägt, darüber einen hellgrauen Blazer und schwarze Pumps mit so hohen und dünnen Absätzen, dass Isa sich fragt, wie um alles in der Welt sie damit so schnell den Flur hinunter gehen konnte. ‘Sie sieht wirklich gut aus’, denkt sich Isa und muss ein Lächeln unterdrücken. 

Auch Barbara mustert die Anwältin ihrerseits verstohlen. Die dunkle Anzughose samt passendem Blazer und die leuchtend grüne Bluse darunter stehen ihr ausgesprochen gut. Barbara fällt auf, dass Isabel von Brede trotz der halbhohen Absätze, die sie trägt, ein bisschen kleiner ist als sie selbst - was jedoch kein Wunder ist, da ihre eigenen Pumps von Salvatore Ferragamo immerhin knapp zehn Zentimeter hoch sind. Sie liebt diese Schuhe und hütet sie wie ihren Augapfel, sie sind mit die teuersten, die sie besitzt.

Gerade als beide Frauen zu dem Schluss kommen, sie müssten das Schweigen beenden und irgendwie eine Konversation in Gang bringen, werden sie erlöst - die Tür des Gerichtssaals wird von innen geöffnet und so nicken sie sich noch einmal kurz wortlos, aber nicht unfreundlich zu und begeben sich dann zu ihren designierten Plätzen.

Wenige Zeit später trifft dann auch der Richter samt Schöffen ein und der erste Verhandlungstag wird offiziell eröffnet.

Kurz darauf kommt es zum ersten verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden Frauen, als Isa das Wort ergreift und vorträgt, dass der Autofahrer zwar eine Teilschuld hat, aber auch der Radfahrerin ein Teil der Schuld zugesprochen werden sollte - schließlich war sie im Dunkeln ohne Licht am Fahrrad und ohne Signalkleidung unterwegs gewesen. Obwohl sie in ihrem Innern auch der Ansicht ist, dass, wenn der Fahrer des Wagens aufmerksamer gewesen wäre, der Unfall hätte vermieden werden können und der Mann ihr mit seiner Selbstüberzeugung ziemlich auf die Nerven geht, ist sie als seine Verteidigerin dazu verpflichtet, zu seinem Besten vor Gericht zu agieren. Und genau das hat sie vor.

Die Staatsanwältin kontert auf Isas Plädoyer, woraufhin diese wieder das Wort ergreift und so geht es immer hitziger hin und her, so lange, bis der Richter die beiden schließlich darum bittet, sich doch wieder auf ein normales Niveau der Gesprächsführung vor Gericht zu begeben.

 

Kurz vor Mittag endet der erste Verhandlungstag und das Gericht vertagt sich auf die kommende Woche. Der Richter und seine Schöffen haben gerade den Saal verlassen, als Barbara auch schon mit gepackter Tasche und wieder aufgeknöpfter Robe den Raum verlassen will, nicht jedoch, ohne sich von Isa zu verabschieden. “Dann bis nächste Woche, Frau Anwältin”, sagt sie lächelnd. Im Nachhinein fragt sie sich, warum in aller Welt sie genau diese Floskel gewählt hat. Seit wann legt sie so einen lockeren Ton an den Tag?

Diese Frage stellt sich Isa allerdings auch - so kennt sie die Staatsanwältin gar nicht. Ebenfalls lächelnd erwidert sie “So sieht’s wohl aus, Frau Staatsanwältin. Bis dann!”

Noch immer mit einem Lächeln auf den Lippen macht sich Barbara auf den Weg in ihr Büro, während Isa ihrerseits den Weg zum Parkplatz einschlägt. Auf dem Weg dorthin geht ihr durch den Kopf, dass die Staatsanwältin Geldermann ja doch nett sein konnte. Zumindest manchmal. Beim Gedanken daran, wie sie ihrem Freund und Kollegen Markus Gellert von der ‘Sinneswandlung’ der Eiskönigin, wie sie sie früher heimlich genannt hat, erzählen würde, muss sie grinsen. Das würde er ihr nie und nimmer glauben. 

Meatloaf singt Paradise by the Dashboardlight aus den Lautsprechern, als sie den Wagen anlässt und so macht sie sich laut mitsingend auf den Weg in ihre Kanzlei, während sie in Gedanken noch immer bei dem veränderten Verhalten der Staatsanwältin Geldermann ist. 

 

III. Kanzlei Brede & Gellert

Dort angekommen drückt ihr Markus’ Tochter Charlie unaufgefordert eine Tasse starken Kaffee in die Hand. Nach einer kurzen Tratschrunde mit ihrer Mutter Marion von Brede, in der sie über die neuesten Entwicklungen von deren WG-Leben informiert wird, zieht sie sich in ihr Büro zurück. Sie hat heute keine weiteren Termine und widmet sich zuerst der Nachbereitung des vergangenen Gerichtstermins. Dabei ertappt sie sich, dass ihre Gedanken immer wieder unweigerlich zu Barbara Geldermann schweifen - und sie muss sich eingestehen, dass sie die rothaarige Staatsanwältin eigentlich gerne mag. Auch wenn sie das niemals vor Markus zugeben würde, denn der genoss es regelrecht, Isa gegenüber regelmäßig zu sticheln, dass sie und die Staatsanwältin doch gut zusammenpassen würden. Beide seien sie ehrgeizige Juristinnen mit Leib und Seele, die einen Zwölfstundentag bei Gericht jedem terminfreien Urlaubstag vorziehen würden. Isa hatte in der Vergangenheit bei Markus’ Sprüchen immer nur die Augen verdreht, jetzt muss sie sich aber eingestehen, dass da unter Umständen sogar etwas Wahres dran sein könnte. Als sie sich daran erinnert, mit welcher sprühenden Energie die Staatsanwältin am Morgen mit ihr debattiert hat, lächelt sie. ‘Wer weiß, vielleicht freunden wir uns ja doch noch an’.
Einige Zeit später legt sie die Akte beiseite und atmet dann einmal tief durch, bevor sie sich dem Fall widmet, der ihr seit einigen Tagen schwer im Magen liegt: Menschenhandel.

Vor knapp zwei Wochen war auf St. Pauli bei einer Razzia ein ganzer Menschenhändlerring ausgehoben worden - Männer, die bevorzugt junge, aus Osteuropa stammende Frauen unter falschen Versprechungen nach Deutschland lockten um sie dann als Zwangsprostituierte an Zuhälter zu ‘vermieten’. 

Wie jedes Mal, wenn sie sich mit den menschlichen - und in diesem Fall männlichen - Abgründen beschäftigen muss, legt sie innerlich ihre Rüstung an - ohne die kann sie solche Fälle nicht bearbeiten. Sie würde so emotional und wütend werden, dass eine objektive Beratung ihrer Mandantinnen (sie vertrat drei der jungen Frauen, allesamt noch keine zwanzig Jahre alt, die von den Händlern in unterschiedliche Bordelle geschleust worden waren, wo sie gezwungenermaßen ihren eigenen Körper verkauft hatten) nicht mehr möglich gewesen wäre. Die Rüstung hilft ihr dabei, die Grausamkeiten nicht zu sehr an sich heranzulassen und ihr Wissen und ihre Kompetenz in die Formulierung einer Strategie zu stecken.

Wieder einmal vergisst Isa die Zeit. Draußen dämmert es und irgendwann legt sich die Nacht wie ein dunkler Mantel über die Hansestadt. Die Kanzlei ist mittlerweile verlassen, Charlie hat sie schon vor einigen Stunden nach Hause geschickt und auch ihre Mutter war gegen sechs Uhr verschwunden. Markus hatte noch kurz vorbeigeschaut, sich dann aber nach Hause verabschiedet, weil ihn ein Migräneanfall ereilt hatte.

Die Schreibtischlampe in Isas Büro ist das einzige, was noch Licht spendet. Irgendwann gegen halb neun - mittlerweile ist es draußen stockdunkel - kommt ihr der Gedanke, dass es gut wäre, in diesem Fall die Nebenklage mit der Hauptklage der Staatsanwaltschaft abzustimmen. Sie weiß nicht, wer der oder die führende Staatsanwältin sein wird - sie macht sich eine Notiz, damit sie gleich am nächsten Morgen bei der Staatsanwaltschaft anrufen und das in Erfahrung bringen wird. 

Eine halbe Stunde später, die Glocken der evangelischen Kirche schräg gegenüber schlagen gerade zur vollen Stunde, erhebt sich Teddy aus seinem Körbchen und streckt sich gähnend, um schließlich schwanzwedelnd zu ihr an den Schreibtisch zu kommen.

“Na mein Süßer, ist dir langweilig?”, fragt Isa den Hund, der ihr in seiner eigenen Sprache zu verstehen gibt, dass genau das der Fall ist. Mit einem Blick auf die Uhr beschließt sie, dass es für heute genug ist. Sie hat noch nichts gegessen, das Knurren ihres Magens hat sie schon vor zwei Stunden geflissentlich ignoriert. Dennoch entscheidet sie, zuerst mit Teddy eine Runde zu drehen und sich dann mit einem Sandwich auf die Couch zu fläzen.

Mit den Worten “Dann wollen wir mal los, ne?” steht sie auf, zieht den grauen Mantel an und wickelt sich den Wollschal um den Hals. Draußen nieselt es noch immer, als die beiden wenige Minuten später aus der Tür der Kanzlei auf die Straße treten.

 

IV. Landgericht Hamburg, Büro der Staatsanwältin Geldermann

Nur knapp einen Kilometer Luftlinie von der Kanzlei Brede & Gellert entfernt sitzt auch die Staatsanwältin bis spät in den Abend in ihrem Büro und beschließt irgendwann, als sie nicht mehr klar denken kann, einen Spaziergang zu machen, bevor sie den Heimweg antritt. Auch sie hat den Tag über den heute erstmals verhandelten Fall nachbearbeitet, einige Telefonate geführt und sich dann mit dem Fall beschäftigt, der sie schon die ganze Woche beschäftigt hat. Der Menschenhändlerring, den die Polizei zwei Wochen zuvor ausgehoben hat. Sie erinnert sich noch genau daran - in der Nacht war sie die zuständige Staatsanwältin in Rufbereitschaft gewesen und um halb vier in der Früh durch das schrille Klingeln ihres Handys aus dem Schlaf gerissen worden. Der Einsatzleiter hatte sie in knappen Worten darüber informiert, dass sie nun ‘durch’ waren und es ihnen gelungen war, zumindest fünf der Männer festzunehmen, die in dringendem Tatverdacht standen, die jungen Mädchen nach Deutschland zu schleusen, meist unter der Versprechung, dass sie eine gut bezahlte Stelle als Haushälterin oder Kindermädchen annehmen könnten. Beim Gedanken an das Telefonat hat sie auch jetzt wieder einen schalen Geschmack im Mund. 

“Diese Dreckskerle”, schimpft sie halblaut vor sich hin, als sie sich die Aufzeichnungen anschaut, die festhalten, in welchem Maße die Mädchen misshandelt wurden. Teilweise wurden sie grün und blau geprügelt, eine von ihnen hatte sogar kleine kreisrunde Narben auf ihrem Brustkorb gehabt - ein sicheres Zeichen dafür, dass regelmäßig brennende Zigaretten an ihr ausgedrückt worden waren. Für einen kurzen Moment schließt sie die Augen. Sie stützt ihre Arme auf dem Schreibtisch ab und legt das Gesicht in ihre Hände. Einen Augenblick lang verharrt sie in dieser Position und als sie die Augen wieder aufschlägt, wird ihr klar, dass sie für heute Schluss machen sollte. Wenn sie schon beim Gedanken an die mutmaßlichen Täter wütend wird, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Objektivität nicht mehr gegeben ist und stattdessen ihre Emotionen die Führung übernehmen. Und Barbara ist zu diszipliniert und schon zu lange im Geschäft, um über die Tatsache hinwegzusehen, dass Emotionen nie ein guter Ratgeber bei Entscheidungen sind. Kurzerhand beschließt sie, den Laptop herunterzufahren und lässt dann den Blick aus dem großen Fenster schweifen - draußen ist es bereits stockdunkel, der Wind rüttelt an den Fensterläden und es nieselt leicht. ‘Typisch Hamburg’, denkt sie mit einem schiefen Lächeln, als sie den Laptop in ihre Tasche packt und zum Garderobenständer geht, um ihren schwarzen Wollmantel samt passendem Kaschmirschal anzuziehen. Gerade als sie den Gürtel ihres Mantels zuzieht, kommt ihr spontan ein Gedanke. ‘Ich könnte eigentlich noch eine Runde am Wasser drehen, die passenden Schuhe habe ich ja hier’. Da sie als Staatsanwältin auch gelegentlich zu Terminen außerhalb des Gerichts gerufen wurde und diese Termine manchmal sehr kurzfristig anfielen, hat sie immer ein Paar flache Schuhe in im Schrank. Und die würden ihr am heutigen Abend gute Dienste leisten. Kurzerhand zieht sie ihre schwarzen Pumps aus und schnappt sich die flachen Chelsea Boots, ebenfalls aus schwarzem Leder, die auf dem untersten Brett stehen. Nachdem sie das Licht in ihrem Büro ausgeschaltet hat, verlässt sie das Gerichtsgebäude durch die mittlerweile menschenleeren Flure. 

 

V. Bezirk Hamburg-Mitte

Draußen vor der Tür atmet sie einmal tief die Hamburger Abendluft ein - den leicht brackigen Geruch des Wassers, den man eigentlich fast überall in der Stadt wahrnehmen konnte, und den Geruch nach nassem Asphalt. Es nieselt und es weht ein kräftiger Wind,  - aber Barbara Geldermann ist zu sehr eine Hamburger Deern, als dass sie einen Schirm genommen hätte. Ihre Haare sind sowieso zu einem Dutt gedreht - wie fast immer - und außerdem würde sie heute Abend niemanden mehr sehen. Nach kurzer Überlegung wendet sie sich nach links und spaziert in Richtung Außenalster. Auf dem größten Teil der Strecke ist niemand unterwegs, irgendwann jedoch fällt ihr eine Gestalt auf, die ebenfalls dem Wetter trotzt und mit einem mittelgroßen Hund unterwegs ist. Es ist zu dunkel und die Person ist zu weit weg, als dass die Staatsanwältin erkennen könnte, wer es ist. Es scheint jedoch, dass ihr die Gestalt und ihre Art zu gehen irgendwie bekannt vorkäme. Die Gestalt samt Hund kommt ihr entgegen und wenig später wird es klar, um wen es sich handelt.

“Wenn das mal nicht Frau Brede mit ihrem Zerberus ist”, begrüßt sie die blonde Frau im dunkelgrauen Mantel mit einem Lächeln und legt besondere Betonung auf das Wort ‘Brede’, ohne ‘von’. 

“Die Frau Staatsanwältin - na, genug Paragraphen herumgedreht für heute?” erwidert Isabel von Brede ebenfalls lächelnd und bleibt stehen. Barbara stellt erleichtert fest, dass der Tonfall der blonden Frau freundlich ist - sie scheint ihr also ihr Verhalten im Gerichtssaal nicht nachzutragen.

Teddy scheint froh darüber zu sein und beginnt begeistert, das Rasenstück mit der Nase zu untersuchen, das sich neben dem Trottoir erstreckt, auf dem die beiden Frauen stehen. Dann geht er schwanzwedelnd auf Barbara zu - Isa will ihn schon wegziehen weil sie davon ausgeht, dass die Staatsanwältin keine Lust auf eine Hunde-Begrüßung hat - aber sie täuscht sich. Barbara Geldermann lässt sich direkt in die Hocke sinken (Isa fällt auf, dass sie flache Schuhe trägt) und streichelt den Hund, der sich der Krauleinheit freudig hingibt. 

„Sie mögen Hunde?“, entfährt es Isa ein wenig ungläubig.

„Ja“, erwidert Barbara noch immer lächelnd und krault Teddy hinter den Ohren. „Warum so überrascht? Ist das so unerwartet?“

„Äh, nein, natürlich nicht“, stottert Isa. „Ich hab‘ nur nicht damit gerechnet. Ehrlich gesagt dachte ich, dass Sie eher der Typ für eine Katze sind.“

Barbara schmunzelt und richtet sich auf, während Teddy seine Inspektion des Grünstreifens fortsetzt.

„Nein, Katzen sind nicht wirklich mein Fall, da muss ich Sie enttäuschen. Ich bin mit Hunden aufgewachsen - wenn es nach mir ginge, hätte ich auch einen eigenen. Leider darf ich keinen Hund mit in mein Büro bringen, aus dem Grund habe ich mich dagegen entschieden. Ich könnte es nicht ertragen, wenn das Tier den ganzen Tag alleine zuhause sitzen und auf mich warten müsste.“

Wohlwollend nimmt Isa die Aussage zur Kenntnis - wieder einmal ist die Staatsanwältin in ihrer Achtung gestiegen.
“Sind Sie jetzt erst auf dem Heimweg?” Isa fragt sich, warum in aller Welt sie diese Frage stellt - es geht sie doch überhaupt nichts an, wo und wann die Staatsanwältin, die Staatsanwältin, die ihr heute früh bei Gericht den letzten Nerv geraubt hat, unterwegs ist.

“Ich bin im Feierabend, ja, aber nicht auf dem Heimweg. Bevor ich nach Hause fahre, muss ich meinen Kopf lüften. Ansonsten schleppe ich alles mit in meine Wohnung und dann kann ich es vergessen, schlafen heute Nacht zu schlafenvergessen.”

“Das Problem kenne ich”, erwidert Isa. “Ich bin froh, dass Teddy mich mehr oder weniger dazu zwingt, immer wieder zwischendurch an die frische Luft zu gehen. Anderenfalls würde ich wohl früher oder später wahnsinnig werden.” Sie verzieht das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. “Vor allem dann, wenn es Fälle gibt, die so grauenhaft sind, dass ich mich eigentlich gar nicht damit beschäftigen möchte.”

“Stimmt”, antwortet Barbara. “Haben Sie aktuell etwas Bestimmtes? Wenn ich fragen darf?”

“Dürfen Sie”, erwidert Isa und atmet tief durch, bevor sie antwortet. “Menschenhandel. Mit eines der widerwärtigsten Dinge, dieas unsere Gesellschaft hervorgebracht hat.”

Barbaras Augen werden groß, dann nickt sie verständnisvoll. “Ob Sie’s glauben oder nicht - ich habe bis gerade eben an genau dem gleichen Fall gesessen. Begleiten Sie die Nebenklage?”

“Ja, wir haben die Vertretung von drei der jungen Frauen übernommen. Ich habe den ganzen Nachmittag die Aufzeichnungen der Rechtsmedizin durchgearbeitet, die die Verletzungen der Mädchen dokumentieren. Ekelhaft.”

“Das trifft es auf den Punkt”, antwortet Barbara knapp. “Es ist nicht mein erster Fall, der sich mit einer solchen Sache beschäftigt, aber mit einer der grausamsten. So etwas habe ich in all den Jahren bei der Staatsanwaltschaft noch nicht gesehen.” 

Für einen Moment schweigen sie beide. Dann ist es Barbara, die erneut das Wort ergreift. 

“Wie wär's, Frau Brede - ein paar Schritte gemeinsam?“

Isa wirft  einen kurzen Blick auf Teddy, der noch immer mit der Nase am Boden umher stromert. “Was meinste, Teddy? Gehen wir noch eine Runde mit der Frau Staatsanwältin?”

Teddy antwortet auf seine Weise: er schaut sie kurz mit seinen dunklen Knopfaugen an - und beginnt dann, zaghaft mit dem Schwanz zu wedeln. “Die Entscheidung ist gefallen”, übersetzt Isa die Sprache ihres Hundes und lächelt. “Wir begleiten Sie ein Stück.”

 

Das, was sie sich jetzt sagen hört, kann Barbara im Nachhinein nicht mehr ganz einordnen. “Schön. Aber ich bin jetzt nicht mehr die Frau Staatsanwältin. Ich bin Barbara.” Und damit reicht sie Isa ihre schlanke Hand.

“Gut. Ich bin dann aber auch nicht mehr die Frau Brede, sondern Isa.” 

Die Hand der blonden Frau in ihrer eigenen fühlt sich warm und weich an, als Barbara sie drückt. Sie lächelt. “Dann lass uns mal Richtung Außenalster gehen, Isa.” Der Name rollt so leicht und flüssig über ihre Zunge, als wäre es das einfachste der Welt.

Hinter einem noch immer schwanzwedelnden Teddy streben die beiden Frauen dem Wasser zu, während sie sich unterhalten - so, als würden sie sich schon ewig kennen.