
Chapter 1
Die Morgensonne tauchte Motunui in ein sanftes, goldenes Licht, während die ersten Vögel ihr Lied anstimmten und eine warme Brise den Duft reifer Früchte und salziger Gischt über die Insel trug. Auf dem Dorfplatz saß Loto konzentriert über ihrem neuesten Projekt: einem detailreichen Modellboot. Sie hatte Vaiana versprochen, ein neues Boot zu konstruieren, nachdem das vorherige während ihrer letzten Reise von den Blitzen des Donnergottes Nalo zerstört worden war. Die Herausforderung war groß, doch Loto genoss es, mit geschickten Händen etwas Neues zu erschaffen. Jeder Schnitt, jede Verbindung musste perfekt sein.
Einige Stunden später schlenderte Vaiana mit ihrer kleinen Schwester Simea am Strand entlang. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, und das Meer glitzerte in strahlendem Blau. Simea, voller Neugier, zog immer wieder an Vaianas Hand, um ihre unzähligen Fragen zu stellen.
„Und wie hast du es geschafft, den Fluch zu brechen?“, fragte Simea aufgeregt. „Hat es wehgetan?“
Vaiana lächelte sanft und strich ihrer Schwester über das Haar. „Es war nicht einfach. Nalo war mächtig, seine Blitze unbarmherzig. Mein Boot wurde fast in zwei Hälften gespalten, aber ich wusste, dass ich weitermachen musste. Ich folgte meinem Herzen – und fand den richtigen Weg.“
Simea betrachtete Vaianas Arm, wo das neue Tattoo in dunklen Linien glänzte. „Und das? Ist das eine Erinnerung an deine Reise?“
Vaiana nickte. Niemand wusste, dass sie eine Halbgöttin war – nicht einmal Simea. Ihr magisches Ruder, ihr treues Werkzeug, war sicher an ihrem Rücken befestigt, verborgen unter den Bändern ihres Oberteils.
„Vaiana! Kann ich auch einmal auf große Fahrt gehen, so wie du?“
Vaiana blieb stehen, kniete sich zu ihrer Schwester und schaute ihr in die Augen. „Natürlich, kleine Abenteurerin. Sobald du älter bist, werde ich es dir beibringen.“
Simea strahlte, sprang aufgeregt auf und ab. „Versprochen?“
„Versprochen.“ Vaiana klopfte ihr sanft auf die Nase. Gemeinsam liefen sie weiter den Strand entlang und sprachen über Sterne, Wellen und die Abenteuer, die noch auf Simea warteten.
Nach dem Spaziergang suchte Vaiana Loto auf. Sie fand sie zwischen Holzplanken und Werkzeugen, vertieft in ihre Arbeit. Das neue Boot nahm allmählich Form an, und Vaiana erkannte bereits die präzisen Linien des Rumpfes.
„Loto? Wie weit bist du?“
Loto hob den Kopf und grinste stolz. „Noch besser als das alte. Stärker, schneller, widerstandsfähiger. Aber Vaiana, ich muss dir etwas sagen—“
Ihr Herz schlug schneller. Dies war der Moment. Sie hatte so lange gewartet, so viele Gelegenheiten verstreichen lassen. Nun war die Zeit gekommen, die Wahrheit auszusprechen. Sie atmete tief durch, öffnete den Mund—
Doch bevor sie weitersprechen konnte, erklang Chief Tuis Stimme.
„Vaiana, komm schnell! Simea fühlt sich nicht gut.“
Vaiana fuhr herum, Besorgnis spiegelte sich in ihren Augen. „Ich komme, Dad!“, rief sie und warf Loto einen entschuldigenden Blick zu. „Tut mir leid, Loto, später!“, fügte sie hastig hinzu, bevor sie eilends davonlief.
Loto seufzte tief. Wieder hatte sie es nicht geschafft. Mit gesenktem Blick strich sie über den fast fertigen Bootsrumpf. „Später also…“, murmelte sie, doch in ihr nagte die Angst, dass dieses „später“ niemals kommen würde. Was, wenn es nie den richtigen Moment gab? Was, wenn Vaiana nie davon erfahren würde?
Währenddessen rannte Vaiana durch das Dorf, ihr Herz pochte unruhig. Was war mit Simea? War es eine gewöhnliche Krankheit – oder ein Vorbote von etwas Größerem? Als sie das Haus ihrer Familie erreichte, fand sie ihre Mutter Sina, die besorgt am Bett ihrer kleinen Schwester saß. Simea lag blass und fiebrig unter einer dünnen Decke.
„Mama, was ist los?“ Vaiana kniete sich neben das Bett und legte eine Hand auf Simeas Stirn. Sie war heiß. Viel zu heiß.
Sina seufzte leise. „Ich weiß es nicht. Das Fieber kam plötzlich. Sie wirkt so schwach.“
Ein ungutes Gefühl regte sich in Vaianas Innerem – wie eine unterschwellige Warnung. „Ich werde Heilkräuter aus dem Wald holen“, entschied sie bestimmt.
Sina nickte, doch in ihren Augen lag Besorgnis. „Sei vorsichtig, Vaiana.“
Vaiana eilte aus dem Haus. Der Wald lag nicht weit, doch ein eigenartiges Gefühl begleitete sie. War dies nur ein gewöhnliches Fieber – oder kündigte es eine neue Prüfung an? Während sie durch das dichte Grün lief, gingen ihre Gedanken zurück zu Loto. Was hatte sie ihr sagen wollen?
Vaiana ahnte nicht, dass die Antwort darauf alles verändern würde.