
VII
Punkt neun Uhr klopfte es an der Haustür der Dumbledores. Albus hatte seine dunkelbraune Lederumhängetasche gerade fertig gepackt, als er Gellert öffnete. Seine Geschwister schliefen beide noch.
„Guten Morgen, mein Lieber.“ Albus schloss die Tür hinter sich, packte Gellert am Arm und apparierte ohne ein weiteres Wort vor die Tür des Tropfenden Kessels in London.
„Ich glaube, mir ist schlecht“, war das erste, was Gellert sagte, als er zum Stehen kam. Londons Straßen waren belebt wie immer, weshalb niemandem das plötzliche Erscheinen zweier junger Männer aufgefallen war. Überall fuhren Droschken oder Automobile entlang, und jede Person schien gestresst zu sein, sodass niemand sie bemerkte. Tagsüber war der Londoner Smog nicht ganz so schlimm, doch trotzdem musste Albus ein paar Mal husten, während seine Sinne sich an den Großstadttrubel gewöhnten. Der beißende Geruch der Themse drang sogar bis hierher und irgendwo in der Ferne spielte ein Straßenmusikant.
„Bist du noch nie appariert?“, fragte Albus beinahe belustigt, als er in seiner Tasche nestelte und zwei Zitronenbonbons hervor holte. „Hier, nimm.“
„Danke“, murmelte Gellert und musterte seine Umgebung interessiert. „Das ist mein erstes Mal in London.“
„Bedauere, dann lass mich dir doch die wichtigsten Plätze zeigen, wenn wir aus der Winkelgasse wiederkommen“, schlug Albus vor.
„Nichts lieber als das.“ Gellert lächelte, dann folgte er Albus, der die schwarze Tür zu einem Laden namens Tropfender Kessel aufdrückte.
Kaum traten sie ein, so wurde der dichte Nebel noch stärker. Diesmal roch es jedoch nicht nach Abgasen, sondern muffig nach Alkohol und Räucherkerzen. Vom Deckenfenster her erleuchtete ein fahler Sonnenstrahl den gutgefüllten Pub, wo sich viele Hexen und Zauberer angeregt unterhielten.
„Wenn das nicht Albus Dumbledore ist.“ Ein hochgewachsener Zauberer mit schwarzen Turban, unter dem angegraute Haare herauslugten und dunklem Bart erhob sich von einem der Tische und ging auf die beiden zu. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich Sie nach Ihrem Abschluss so schnell wiedersehen werde.“ Sie schüttelten die Hände.
„Hallo, Professor Black, mir geht es ebenso“, entgegnete Albus freundlich.
„Mein Beileid wegen Ihrer Mutter, ich hatte ja noch keine Gelegenheit gehabt, es Ihnen persönlich zu sagen“, sagte Professor Black und schüttelte betroffen den Kopf. „Ich habe Ihre Anzeige im Tagespropheten gelesen und freue mich, dass Sie Ihren Wissensdurst auch nach der Schule nicht verloren haben. Aus Ihnen wird etwas Großes.“ Dann bemerkte er Gellert. „Wie unhöflich von mir, ich habe noch gar nicht nach Ihrer Begleitung gefragt. Ich kenne sonst jedes Gesicht meiner Schülerinnen und Schüler; Sie sind nicht von Hogwarts, oder?“
„Ich heiße Gellert Grindelwald und war auf Durmstrang, kaum verwunderlich, dass Sie mich nicht kennen“, meinte der Blondhaarige.
„Ich bin Phineas Nigellus Black, Schulleiter von Hogwarts, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Professor Black hielt Gellert die Hand entgegen, der sie schnell schüttelte. „So, nun will ich euch aber auch nicht länger aufhalten. Richten Sie Ihrem Bruder liebe Grüße aus.“
Nachdem Albus seinen ehemaligen Schulleiter endlich abschütteln konnte, verließen sie den Tropfenden Kessel schnell durch die Hintertür. Für Muggel wäre es bloß ein winzig kleiner Hinterhof gewesen, der weit und breit von orangerotem Backstein umgeben war, doch eine Hexe oder ein Zauberer wusste, dass man mithilfe einer geheimen Zauberstabfolge auf den Steinen zum magischen Einkaufsviertel von Großbritannien und Irland kam.
„Das ist… faszinierend“, sagte Gellert, als die Backsteine der einen Wand sich langsam zurückschoben und den Blick auf eine große Einbahnstraße freilegten.
„Willkommen in der Winkelgasse.“ Albus lächelte, dann hakte er sich bei Gellert ein und zog ihn mit sich. Voller Begeisterung musterte der Blondhaarige die vielen großen Häuser, die sich über die gepflasterte Straße zu beugen schienen und nur mit Magie zusammengehalten wurden. Kein Laden glich dem anderen; es war ein Wirrwarr aus bunten Fassaden und grauem Zement, überall die verschiedensten Leute, sogar noch mehr, als vor dem Tropfenden Kessel. Sie hatten manchmal Mühe, sich einen Weg durch die verwinkelten Gassen hindurch zu schlagen und sich untereinander zu verstehen.
„In Österreich-Ungarn haben wir sowas nicht“, erzählte Gellert, als sie gerade in einer etwas ruhigeren Ecke waren und sich in normaler Lautstärke verständigen konnten.
„Und woher hast du dein ganzes Schulequipment?“
„Der Großteil stammt von meinen Eltern, den Zauberstab aus einem Laden im Deutschen Reich. Meinen Uhu habe ich von einem Züchter zu meinem fünfzehnten Geburtstag bekommen.“ Gellerts sibirischer Uhu Mephisto war der größte Vogel, den Albus je gesehen hatte, ein stattliches Tier mit beigefarbenem Gefieder, stechenden orangefarbenen Augen, welches mehrere Kilogramm wog. Gegenüber ihm war Dotty wie eine Maus.
„Ich würde vorschlagen, dass wir zuerst in die Magische Menagerie gehen. Ich weiß nicht, wie lang unser Gespräch mit Ollivander dauern wird, also ist es besser, schon ein Tier gekauft zu haben, bevor der Laden schon geschlossen hat.“
Eine halbe Stunde später standen sie also mit einem kleinen Ziegenweibchen, dessen weißbraunes Fell sich wie Seide zwischen Albus Fingerspitzen anfühlte vor dem Laden. Damit es in der riesigen Menschenmasse keine Panik bekam, hatte die Verkäuferin ihm einige Kräuter zu fressen gegeben, weshalb es jetzt willig hinter Albus herlief und nur ein paar Mal meckerte.
„Sie wird sich sicherlich freuen.“ Gellert hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und beobachtete gerade einen Schnatz, der durch das Schaufenster eines Quidditchladens flog.
Albus stimmte ihm zu und war froh, als sie endlich den Zauberstabladen Ollivander’s fanden. Mit einer gewissen Erleichterung drückte er die Klinke hinunter und trat gemeinsam mit Gellert und der Ziege ein. Hier drinnen hallten die aufgeregten Stimmen von draußen nur dumpf wieder.
Doch wie es schien, waren sie nicht die einzigen Besucher.
Hinter dem Tresen, fast schon im Lager, stand ein hochgewachsener, gut gekleideter blonder Mann mit dem Rücken zu ihnen und sprach mit jemandem, wahrscheinlich mit Mr Ollivander. Sie hatten ihr Eintreten nicht bemerkt.
„…ist von äußerstem Wert“, flüsterte der Mann dumpf und zeigte Mr Ollivander einen länglichen, dünnen Gegenstand in seiner Hand.
„Sind Sie sich sicher, Mr Gregorovitsch?“, fragte Mr Ollivander leise, woraufhin der Blonde angeregt nickte.
„Aber ja. Schauen Sie sich doch das Holz an, das muss er sein.“ Sein Akzent klang ähnlich wie Gellerts.
Dieser wandte sich nah zu ihm, um ihm ganz leise etwas ins Ohr zu wispern. „Ich kenne diesen Gregorovitsch. Er ging vor ein paar Jahren nach Durmstrang. Er ist sehr intelligent und wir haben uns manchmal ausgetauscht, obwohl er drei Jahrgänge über mir war.“
„Am Holunderholz besteht kein Zweifel“, murmelte Mr Ollivander. „Was das Thestralhaar angeht, bin ich mir noch nicht sicher. Das müsste man durch einen-“ In diesem Moment bemerkte er, dass Albus und Gellert anwesend waren. Schnell drehten die beiden Männer sich um. „Oh, hallo, ich habe Sie gar nicht bemerkt, Mr-“
„Petrificus Totalus!“ Gellert hatte seinen Zauberstab gezückt und einen Fluch auf Gregorovitsch gefeuert, der jedoch im rechten Moment sich zu ducken wusste, sodass nur ein paar Zauberstabkästen aus dem Regal fielen.
„Bis du des Wahnsinns?!“ Albus reagierte blitzschnell, packte Gellerts Arm (und die Ziege) und apparierte sofort aus dem Laden. Was hatte Gellert nur getan?!
Schwankend kamen sie in der Mitte einer Landstraße zu stehen, um sie herum nur Feld und Wiese. Albus war in die Nähe von Mould-of-the-Wold appariert, aus Angst, ihnen würde jemand folgen und nach Godric’s Hollow kommen.
„Bist du denn vollkommen bescheuert?!“ Albus entfernte sich ein paar Schritte von Gellert und schaute ihn durch vor Wut blitzende Augen an. „Es hätte alles perfekt laufen können! Warum musstest du ihn angreifen?!“Gellert wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, doch Albus schlug sie weg.
„Er hatte den Elderstab“, sagte Gellert dann. Seine Stimme klang viel zu ruhig.
Für einige Momente wurde Albus’ Miene weich. „Was sagst du da?“
„Der Zauberstab in seiner Hand“, ergänzte er. „Es war der Elderstab, hast du es nicht gesehen?“
In Gedanken ging er die eben erlebte Szene noch einmal durch, dann fiel ihm auf, dass Gellert recht hatte. Elder war ein anderes Wort für Holunder. Außerdem hatte Gregororvitsch etwas von äußerstem Wert und Thestralhaar erzählt. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Heiligtümer des Todes existierten wirklich, und sie hatten soeben den Elderstab gefunden.
„Trotzdem“, murmelte Albus und ging wieder etwas auf den Blondhaarigen zu. „Warum hast du ihn angegriffen?“
Gellert lachte. „Denkst du, er hätte uns den Zauberstab freiwillig gegeben?“ Es lag etwas Spöttisches in seiner Stimme, was Albus einen Schauer über den Rücken jagte. „Denkst du, er hätte ihn mir gegeben, mir, einem Jungen, der aus einer schwarzmagischen Schule verwiesen wurde, wegen des Einsatz von schwarzer Magie?!“
„Was..?“ Mehr brachte Albus nicht zustande. Spätestens jetzt hätte er sich eingestehen müssen, dass Gellert Grindelwald gefährlich war, dass er keine guten Absichten verfolgte. Doch wieder schloss er die Augen. „Was hast du getan?“
„Experimentiert“, sagte Gellert, doch er wusste, dass mehr dahinter stecken musste. Wegen so etwas wurde man nicht der Schule verwiesen. „Mit schwarzer Magie.“
„Was hast du getan?“, wiederholte Albus, diesmal in einem herrischeren Ton.
„Katzen haben keine sieben Leben, Albus“, antwortete er stattdessen nur. Sofort blickte Albus zur kleinen Ziege, die nur genüsslich ein paar Ähren abknabberte.
Gellert betrachtete seine Fingernägel, als befände sich Dreck daran. „Und menschliche Knochen sind leichter zu brechen, als man denkt - auch ohne Magie.“
„Du…“, begann Albus voller Wut, doch ihm fiel kein passendes Wort an, um ihn zu beleidigen. Er war viel zu sehr geschockt.
„Na los, betitele mich, wie du willst. Sag mir, dass du mich nie wieder sehen willst.“ Ein seelisches Lächeln bildete sich auf Gellerts Lippen. In seinem braunen Auge spiegelte sich die untergehende Sonne, sein blaues Auge wirkte eisige wie eh und je. „Ich weiß nun, wo ich nach dem Elderstab suchen muss.“
Doch das war das Schlimme: Albus wollte ihn sehen. Denn es lag eine gewisse Faszination in Gellerts schwarzmagischer Seite, aber nicht nur das. Er sah ihn gerne. Er verbrachte gerne Zeit mit ihm, schwarze Magie hin oder her. Trotzdem…
„Die dunklen Künste sind der Grund für den schlechten Ruf von Hexen und Zauberern in der Muggelgesellschaft“, antwortete er also nur.
„Bedenke, Albus Dumbledore, dass die Heiligtümer des Todes die Krone der schwarzen Magie sind. Und du willst sie finden, um deine Mutter zurückzubringen. Damit wirst auch du zum Schwarzmagier.“
Obwohl es Albus einen kleinen Schnitt im Herzen verpasste, wusste er, dass Gellert recht hatte. Er würde sogar schwarze Magie in Kauf nehmen, um seine Mutter zurückzuholen.
„Also gut“, sagte er dann zögerlich.
„Du entschuldigst mein Verhalten also?“ Gellert legte den Kopf schief und lächelte, diesmal war es freundlich und charmant.
„Ich toleriere es.“
„Großartig, Albus, dann lass und doch jetzt zurück nach Godric’s Hollow gehen.“
„Vorher versprichst du mir etwas.“
„Alles, was du willst.“
„Dass du keine Geheimnisse mehr vor mir hast.“