
Chapter 5
Severus sah alles wie durch einen dichten Schleier. In seinem Kopf war er wieder in seinem ersten Jahr in Hogwarts und verbrachte die Nachmittage zusammen mit Lily an den Ufern des Sees. Manchmal warfen sie Kiesel hinein, die im tiefen Wasser versanken und unzählige Kreise zogen. Sie machten ihre Hausaufgaben dort, und Lily hatte oft Muggel-Süßigkeiten dabei, welche ihre Familie ihr jede Woche zuschickte.
Er verstand nur am Rande, dass Albus Dumbledore sich im Ministerium für ihn eingesetzt hatte und der Prozess vorerst verschoben war. Währenddessen befand er sich wieder in einer kahlen Zelle im Ministerium, und schlief die meiste Zeit.
Inzwischen konnte er schon ein paar Schritte gehen, auch, wenn er dabei leicht hinkte. Sein Auge zuckte nicht mehr, doch seine Hände zitterten immer noch ein wenig.
Die Tür wurde krachend aufgestoßen und ein grimmiger Alastor Moody betrat den kargen Raum.
„Schlechte Neuigkeiten“, bellte er.
Severus zuckte jäh zusammen. Er hatte für einen Moment vergessen, wo er sich befand, der See und das Schloss und die schroffen Berge hatten sich so wirklich angefühlt.
Fragend blickte er nun zu Moody auf, der ihn finster anstarrte. Auch, wenn Moody Dumbledore vertraute, schien er nicht besonders viel von Severus und der Wahrhaftigkeit seiner Absichten zu halten.
„Es gab soeben einen Eilbeschluss und Du kommst heute Nacht noch nach Azkaban, wo Dich morgen der Kuss des Dementors erwartet“, sagte Moody.
Sein mechanisches Auge zuckte wild umher, doch seine Gesichtszüge wurden etwas mitfühlender.
Severus schluckte schwer.
„Wir haben alles versucht, und wenn Du mich persönlich fragst, hätte es eher Malfoy oder die Lestranges treffen sollen“, erklärte Moody übellaunig.
Es war plötzlich viel zu kalt in dem Raum. Die Stimmen und Geräusche aus dem Ministerium hallten zu laut hinüber, und Severus versuchte alles, um sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Plötzlich wünschte er sich, dass die Auroren in dieser Nacht nicht in dem Keller erschienen wären.
Er schloss die Augen und atmete langsam ein und aus. In seiner Erinnerung war er wieder in Remus‘ Keller und wurde von dem Werwolf zugedeckt. Alles roch ein wenig nach Hogwarts, nach frischgewaschenen Laken und alten Büchern, und für einen Moment hatte er sich geborgen gefühlt.
„Kann ich mich von Remus verabschieden?“, fragte er leise.
Es war die einzige Person, die ihm einfiel, die ihn vielleicht noch ein letztes Mal sehen wollte. Albus Dumbledore hatte alles bekommen, was er wollte, und das Mitleid, was in Minervas Augen schwamm, würde er kein weiteres Mal ertragen.
Moody hatte sich schroff zum Gehen gewandt, doch er drehte sich noch einmal um. Sein Auge flatterte schon wieder wild durch den Raum.
„Ich befürchte, dafür ist keine Zeit mehr“, sagte er.
Severus nickte, und lehnte sich auf der schmalen Pritsche an die Wand zurück. Er schloss die Augen und dachte an den Tag, als er seinen Brief für Hogwarts erhalten hatte. Alles hatte sich aufregend und besonders angefühlt, und ein bisschen hatte er gehofft, dass jetzt alles anders werden würde. Immer wieder war er die Liste durchgegangen und hatte sich sein neues Leben ausgemalt, in einem alten Schloss voller Magie.
Da bemerkte er, dass Moody sein enges Gefängnis noch nicht verlassen hatte. Still stand er in der Tür und schaute besorgt zu ihm herüber. Severus funkelte wütend zurück.
„Was ist jetzt noch?“, fauchte er.
Er konnte keine Zuschauer dabei gebrauchen, wenn er gleich auseinanderfiel.
Moody sah mehrmals über die Schulter und senkte die Stimme.
„Auch wenn es schwer zu glauben ist, habe ich mich tatsächlich für Sie ausgesprochen und meine Sicht auf das kaum legale Vorgehen sehr deutlich gemacht“, sagte Moody.
Dann raffte er seinen Mantel und verschwand hinkend im Gang, bevor die Tür hinter ihm wieder ins Schloss fiel.
Severus fühlte sich trotzdem nicht besser. Am Ende machte es für ihn keinen Unterschied, ob das alles auf Beifall oder Abneigung in der magischen Gesellschaft stieß. Seine Seele würde morgen schon ein Dementor verschlingen, und selbst der Gedanke daran fühlte sich so absurd an, dass er ihn sofort wieder verdrängte.
Hinterher konnte er nicht mehr sagen, wie lange er im Dunklen saß, den Kopf gegen die kahle und unverputzte Wand gelehnt, und dem Gewusel im Ministerium, welches sanft durch die Tür zu ihm hindurchwehte lauschte. Als eine Gruppe Auroren ihn in magische Fesseln legte und durch die Gänge schleifte, war sein Gesicht eine gleichgültige Maske.
„Snape!“, rief jemand, und er erkannte die Stimme von Aberforth Dumbledore, in dessen Pub sie sich früher heimlich geschlichen und zu viel Met getrunken hatten.
Aber er drehte sich nicht um, und bald hatten sie einen Bereich des Ministeriums erreicht, der wie ausgestorben wirkte. Ein paar Türschilder hingen schief an den Wänden, und die Porträts griesgrämig dreinschauender Zauberer folgten ihnen mit neugieren Blicken.
Schließlich hatten sie die Stelle erreicht, von der sie nach Azkaban apparierten. Es war eine schmale Nische in der Ecke des Ganges, die sich irgendwie kälter anfühlte als der Rest des Korridors.
Wortlos stießen sie Snape hinein, und wenig später wurde er von der aufgewirbelten Luft verschluckt. Die Auroren materialisierten sich ebenfalls neben ihm, während er seine neue Umgebung gleichgültige betrachtete.
„Ungemütliches Wetter heute“, schimpfte einer der Auroren, während ihnen ein hektisch aussehender Zauberer entgegeneilte.
Die Wellen des Meeres dröhnten durch das marode Mauerwerk, und die Luft roch nach Algen und schimmelnden Keller. Der Wind riss ihnen fast die Worte aus dem Mund, und hastig eilten sie in einen Gang, der die tosenden Gezeiten aber auch nur behelfsmäßig fernhielt. Es waren zugige, schwarze Korridore und gähnende, schwarze Löcher, in welchen sich unzählige Zellen verbargen, die sie hier erwarteten.
Die Auroren verschwendeten keine Zeit und verließen die eisigen Mauern von Azkaban schnell wieder. Severus konnte es ihnen nicht verdenken, die Atmosphäre war alles andere als einladend. Er hatte eine Zelle fast ganz oben erhalten und manchmal konnte er das irre Gelächter von Bellatrix hören. Scheinbar waren die anderen Todesser in jener Nacht auch nicht entkommen.
Er schluckte die bittere Ungerechtigkeit über die Situation hinunter und starrte durch die rostigen Gitterstäbe auf das aufgewühlte Meer hinab. Die Gischt stob auseinander und bedeckte alles mit einem salzigen Nebel.
Manchmal hörte er aus den anderen Zellen wirres Gemurmel. Dann wieder ein Flehen, oder ein leises Weinen. Die Dementoren glitten lautlos durch die Gänge, und es schien, dass alle um ihn herum schon vor langer Zeit aufgegeben hatten. Er hörte keine Schreie, und keine Wut, nur dumpfes, trauriges Schweigen die meiste Zeit.
Severus wollte wieder in seinem Kopf entfliehen, aber die Präsenz der Dementoren machte das unmöglich. Er war in Hogwarts, und der Dunkle See zog ihn in seine Tiefen hinunter, bis das Meer viele, viele Stockwerke unter ihm in seiner Zelle in Azkaban alles war, was er noch ausmachen konnte. Er dachte an Lupin, und dessen leeres Haus, das kaum bewohnt wirkte, und an die zu bunte Dose mit Keksen von Molly Weasley darin. Aber durch das Fenster brach die kalte Winterluft und drückte ihm den Hals zu, bis er gurgelnd Meerwasser einsog, das salzig, und ein bisschen nach Fisch schmeckte.
Severus seufzte und ließ seinen Kopf in die Hände sinken. Das Zittern war wieder stärker geworden und er versuchte mühsam, ein paar Schritte durch die schmale Zelle zu gehen, aber auch das misslang ihm. Erschöpf ließ er sich wieder in der Nähe des Fensters nieder und schaute in die Nacht hinaus.
Es war Vollmond, und der fahle Mond spiegelte sich in dem schwarzen Wasser. Severus schloss erneut die Augen und ließ seine Gedanken wandern. Legilimentik war für ihn schon immer ein Weg gewesen, der Gegenwart zu entfliehen und für eine Weile in der Welt von jemand anders zu leben. Die umliegenden Zellen stellten keine große Hürde dar, und bald schon lauschte er den Gedanken von irgendeinem armen Schlucker.
Doch dessen Inneres war von den Dementoren schon so grau gefärbt, dass Severus es dort nicht lange aushielt. Es kostete ihn einiges an Kraft, und er konnte nur die beiden angrenzenden Zellen auf diese Weise abhören, aber schließlich war er in dem Kopf des Gefangenen auf der anderen Seite von ihm.
Seine Hände zitterten stark und trotz der Kälte rann ihm der Schweiß den Rücken hinab. Aber als er realisierte, wessen Gedanken er da spürte, hatte sich das alles gelohnt. Er musste ein wenig grinsen, und die Schadenfreude, die in ihm aufstieg, fühlte sich warm und tröstend an.
Sirius Black lag nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem dreckigen, kalten Boden und starrte die von feinen Rissen überzogene Decke an. Seine Gedanken schwankten zwischen kalter Wut, Trauer um seine Freunde, und Ungläubigkeit angesichts der Ungerechtigkeit seines Lebens.
Bei Letzterem schnaubte Severus, es war klar, dass nur ein Gryffindor über das Elend der Welt weinen konnte. Aber es erfüllte ihn mit großer Genugtuung, dass auch der überhebliche, hochmütige Sirius Black endlich erkennen musste, dass die Welt in ihrem Kern ungerecht war.
Dann sprang er in einzelne Erinnerungen und sah Schnipsel aus Blacks Kindheit in einem einsamen und viel zu großem Herrenhaus, das vor Dunklen Artefakten wimmelte und dessen Bewohner wortkarg und kühl waren. Die Schulzeit in Hogwarts übersprang er, da er kein Bedürfnis hatte, in seinen letzten Stunden diese Erinnerungen aus der Sicht von Sirius Black noch einmal zu durchleben. Die Demütigungen und Erniedrigungen von damals waren ihm noch in guter Erinnerung.
Fast musste Severus schon wieder bitter auflachen. Aber dann kamen die Momente, die fast noch schlimmer zu ertragen waren. Er sah geheime Treffen des Orden des Phönix, und die Trauer, und das Entsetzen, wenn wieder etwas Furchtbares geschehen war. Fast immer waren Todesser dafür verantwortlich.
Und dann kam er zu den wirklich spannenden Sachen: Er hätte gedacht, dass es irgendwie tröstend wäre, mitanzusehen, wie der stets in seinen Überzeugungen so starre, loyale Sirius Black zum Verräter an den eigenen Freunden wurde. Er verachtete den Gryffindor zutiefst für das, was er getan hatte. Und er würde ihm den Tod von Lily Potter niemals verzeihen, auch wenn er selbst ebenso seinen Teil dazu beigetragen hatte. Doch die Prophezeiung und alles was danach kam verdrängte er wieder ganz an den Rand seines Bewusstseins.
Severus drang ohne zu zögern in die hintersten Ecken und Winkel des Verstands von Sirius Black ein, doch was er fand, verstörte ihn zutiefst. Scheinbar war der schleimige Black in seiner Nachbarzelle tatsächlich unschuldig und kam in seiner Trauer nicht darüber hinweg, dass er um seine Rache an Peter Pettigrew gebracht worden war.
Severus verließ dessen Gedanken wieder und lehnte sich an den eisigen Stein, der ihn einsperrte. Für eine Weile starrte er geschockt das Gemäuer an, dass dunkelgrau und von Wasserflecken überzogen dem Sturm trotzte. Der Wind heulte laut und pfeifend um Azkaban und die Wellen ließen den Boden unter ihnen leicht erzittern.
Plötzlich war da wieder das eingestürzte Haus in Godric’s Hollow, und der Regen in jener Nacht. Er wühlte sich durch die Trümmer, und fand zwischen ihnen selbst gestrickte Pullover, die nun zerrissen im Schmutz lagen, und alte Fotos, die eingerissen und vergessen von dem herabfallenden Wasser durchtränkt wurden, und Kinderspielzeug, das zerbrochen unter Holzsplittern lag. Es war unheimlich still gewesen, nur das Weinen eines Babys hallte durch die Nacht, und er hatte Harry nirgendwo erspähen können.
Severus schüttelte sich.
Dann fragte er sich, wie er diese Information von Sirius Black zu seinen Gunsten verwenden konnte. Vielleicht würde seine Mithilfe in der Aufdeckung des wahren Verräters den Kuss des Dementors abwenden können. Er traute sich nicht, die Hoffnung wirklich zuzulassen, aber versuchen würde er es.
Er lehnte sich wieder zurück, und fuhr sich durch die Haare. Inzwischen reichten sie ihm über die Schultern. Dieses Mal lachte er laut auf, und er hörte selbst, wie wahnsinnig und verzweifelt er klang. Bald schon wandelte sich das Lachen in ein Schluchzen, und er wischte sich wütend die Tränen aus dem Gesicht.
In dem Moment schreckte ihn ein Geräusch auf. Von den Dementoren konnte es nicht kommen, die glitten lautlos durch die Mauern von Azkaban, und die wenigen Zauberer, die hier die Stellung hielten, hatten sich längst für die Nacht in ihre Unterkünfte zurückgezogen.
Severus brauchte etwas, bis er die Gestalt hinter den Gittern ausmachen konnte. Erschrocken erkannte er, dass nur wenige Meter von ihm entfernt ein Werwolf mit gesträubtem Fell stand und leise ein grollendes Geräusch, das nur mit viel Fantasie als Bellen durchging, von sich gab.
Er kroch ein Stück zurück, doch da waren nur die schroffen, kalten Mauern und das tosende Meer. Er starrte den Wolf an und fragte sich, ob sein Ende vielleicht doch schon diese Nacht kam. Plötzlich kam ein Albtraum, den er schon fast vergessen hatte, wieder in ihm hoch. Der enge Tunnel unter der Peitschenden Weide und die verwüstete Heulende Hütte. Die glühenden Augen eines Wolfs, der kurz davor war, sich auf ihn zu stürzen, bevor James Potter ihn gepackt und zurückgeschleift hatte.
Der Wolf vor seiner Zelle scharrte ungeduldig mit den Pfoten und steckte seine Schnauze durch die angelaufenen Stäbe der Gitter. Er heulte leise, und es klang ein wenig wehmütig.
Der Mond fiel durch das schmale Fenster und die gezackte, wulstige Narbe über einem Auge des Wolfs erinnerte Severus an etwas.
„Lupin?“, fragte er ungläubig und der Wolf schüttelte sich. Dann stieß er mit seiner Nase erneut gegen die Gitterstäbe.
Vorsichtig kroch Severus zu ihm hinüber. Es war eine mühselige Angelegenheit und er musste mehrmals innehalten, um seine Kräfte zu sammeln.
Schließlich erkannte er, dass um Lupins Hals mit Lederband ein Flachmann befestigt war. Die Initialen A. D. und ein Phönix darauf verrieten, dass es sich um das Eigentum von Dumbledore handelte. Behutsam band er es ab und schaute Lupin fragend an.
Doch der sah nur von ihm zu dem Flachmann und wieder zurück.
Severus öffnete den Verschluss und roch daran. Widerwillig verzog er das Gesicht und schaute Lupin zweifelnd an.
„Der Trank der Lebenden Toten?“, sagte er und Lupin winselte leise.
Severus wusste nicht so recht, was der Werwolf damit bezweckte. Gerade für einen Werwolf gab es sehr viel kostengünstigere und effizientere Methoden, jemanden für immer zum Schweigen zu bringen. Es sei denn, Lupin wollte, dass er in ein paar Tagen wieder aufwachte. Schnell schob er die aufkeimende Hoffnung wieder beiseite. Hoffnung war etwas Gefährliches in so düsteren Umständen wie den seinen. Am Ende kam seiner Erfahrung nach doch wieder nur die Enttäuschung, bitter und kalt.
Lupin schaute ihn schon wieder mit glühenden, gelblichen Augen an und fast wirkten sie durch den Wolfsbann-Trank ein bisschen menschlich. Severus nickte schließlich, und prostete dem Wolf mit der Flasche zu.
Doch dann fiel ihm noch etwas ein, bevor er trank.
„Sirius Black hat die Potters nicht verraten“, flüsterte er mit rauer Stimme, weil er das Wort „unschuldig“ in Kombination mit Sirius Black nicht über die Lippen bekam.
Der Wolf heulte auf und aufgeschreckt sah Severus sich um.
„Shhhh“, machte er und Lupin verschmolz noch ein wenig mehr mit den Schatten.
„Falls das hier eine Rettungsmission ist, wäre es nur fair, ihn auch mitzunehmen“, sagte er.
Lupins Fell sträubte sich schon wieder, doch Severus ignorierte ihn. Stattdessen roch er ein letztes Mal an dem Trank, und filterte die einzelnen Bestandteile heraus. Alles machte den Eindruck, dass jemand Vernünftiges hier am Werk gewesen war. Trotzdem wollte er auf Nummer Sicher gehen.
„Ich nehme an, dass Du den Trank nicht selbst gebraut hast“, sagte er und Lupin knurrte leise, bevor er so etwas wie ein Nicken andeutete.
Dann trank Severus ohne zu zögern und schob den halbleeren Flachmann wieder unter dem Gitter zurück, bevor dessen schlafbringende Wirkung ihn schwer und müde machte. Sein letzter Gedanke vor der Bewusstlosigkeit war, wie wahnsinnig es Black machen würde, wenn er herausfand, dass ausgerechnet Snivellus ihn vor den Dementoren gerettet hatte. Trotzdem wollte er mindestens ein paar seltene Trankzutaten und einige andere nützliche Artefakte vom Grimmauldplatz Nr. 12 als Entschädigung.