
Pia war sauer. Nein, sauer war das falsche Wort. Sauer war sie gewesen, als sie gemeinsam mit Adam die Wohnung von Andreas Schneider unter die Lupe genommen hatte. Weil Adam eine Platzwunde an der Stirn hatte und mit diesem triefenden Selbstbewusstsein, dass nicht nur nach einer fetten Lüge roch, sondern auch noch sehr offensichtlich eine fein säuberlich aufgebaute Fassade war, behauptete, vom Fahrrad gefallen zu sein. Sie war sauer auf Adam, weil er immer darauf bestand, alles mit sich selbst aus zu machen, dabei aber ein Händchen dafür hatte, das ganze Team mit in die Scheiße zu reiten.
Aber das war nun einmal genau das, was Pia von Adam zu erwarten gelernt hatte. Sie machte sich eher Sorgen, als dass es sie sonderlich störte. Sie mochte Adam, auch, wenn sie das niemals laut zugeben würde. Bei Esther hingegen war sie davon ausgegangen, dass sie beide keine Geheimnisse mehr voreinander hatten. Zumindest keine, die so oberflächlich waren, wie Freizeitbeschäftigungen.
Esther wusste so viel von Pia. Von ihrer Lieblingsbäckerei bis hin zu ihren Schlafstörungen, war beinahe alles schon einmal zur Sprache gekommen, aber Pia war plötzlich klar geworden, dass es da einen ganzen Teil in Esthers Leben gab, von dem sie gar keine Ahnung hatte. Wochenenden mit Menschen, deren Namen sie noch nie gehört hatte. Also war sie wütend gewesen und Adam nicht wirklich hilfreich, weil Esthers Freizeitbeschäftigungen ihm ziemlich egal waren und er deshalb auch nicht nachvollziehen konnte, warum Pia sich so daran aufhängte.
Aber Adam und Esther kannten sich nicht so, wie Esther und Pia sich kannten. Ihre Interaktionen beschränkten sich auf Sticheleien, von denen Pia nicht immer abschätzen konnte, wie ernst diese jetzt gemeint waren. Esther und Pia hingegen hatten Nächte zusammen im Präsidium verbracht, hatten ihr Bestes gegeben einander wachzuhalten, während sie ein Auto irgendwo im Dunkeln abgestellt hatten, um einen Verdächtigen zu observieren. Waren gemeinsam auf der dafür viel zu kleinen Sofa im Büro eingeschlafen. Esther und Pia waren Freunde.
Und dann war da noch dieses Kribbeln, das Pia vor allem in all diesen Stunden spürte, wenn Esther und sie alleine waren. Egal ob auf der Arbeit oder in ihrer Freizeit, wenn sie sich auf ein Bier oder einen Kaffee trafen, oder einfach durch einen Park oder am Fluss entlangschlenderten, um ein wenig Luft zu bekommen. Adam wusste nichts von den Blicken, die sie austauschten, wenn Leo und er zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Pia hatte noch nie irgendjemandem davon erzählt, wie Esthers und ihre Hände sich manchmal ganz zufällig berührten und sie diesen Drang bekam, einfach nach Esthers Hand zu greifen und nie wieder loszulassen. Oder davon, wie Esthers Hand manchmal einfach ein paar Herzschläge zu lange auf Pias Schulter oder ihrem Rücken liegen blieb.
Doch jetzt, wo sie ihrer Kollegin im Präsidium gegenübersaß und das knallblaue Trikot, das Esther trug, sich störend in ihre Netzhaut brannte, war Pia weniger sauer und viel eher enttäuscht. Vielleicht auch, weil es ihr beinahe unmöglich war, tatsächlich wütend auf Esther zu sein. Zumindest dann, wenn diese sie über Akten hinweg aus scheinbar völlig unschuldigen braunen Augen anblickte, während Pia sich alle Mühe gab, wirklich distanziert und genervt zu wirken. Sie wollte Esther spüren lassen, dass es sie störte, dass sie ihr so etwas Banales verschwiegen hatte.
„Ist was?", fragte Esther. Pia ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. „Nö.", sagte sie und fuhr mit ihrer Recherche fort. „Ich habe mir Gedanken gemacht. Über Geheimnisse.” Esther atmete tief ein.
„Über die unseres Opfers oder die des Mörders?", fragte sie, aber Pia nahm ihr nicht ganz ab, dass sie nicht wusste, worauf sie hinauswollte. „Über deine.", knickte Pia dennoch ein. Esthers Augen wanderten von der Akte vor ihr zu Pia, so groß und schokoladig braun, dass Pia sich ein Grinsen verkneifen musste. Zum Teil, weil das die übliche Reaktion war, die Pia hatte, wenn Esther sie so anschaute und zum anderen, weil sie sich gerade doch ein wenig lächerlich vorkam. Da war sie doch wirklich eingeschnappt, weil Esther ein paar kleine Geheimnisse vor ihr hatte.
„Bist du sauer?", fragte Esther und ihre Mundwinkel zuckten ebenfalls ein wenig nach oben. „Nur maßlos enttäuscht.", antwortete Pia, um noch ein wenig länger in der Sache zu schwelgen. „Ich bringe dir morgen Croissants mit." Pia murrte. So leicht würde sie nicht zurückzugewinnen sein. „Und übermorgen.", ergänzte Esther. Das klang doch schon ein wenig besser. „Du kannst meine Liebe nicht kaufen.", beharrte Pia dennoch und spürte augenblicklich, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Hatte sie das gerade tatsächlich so formuliert? Esthers Lächeln wurde noch ein bisschen breiter und ihre
Augen blitzten kurz auf.
Pia behielt sie fest im Blick, während Esther ihren Stuhl zurückschob und um den Schreibtisch herum auf sie zuging. Sie schluckte, als Esther sich neben ihr herunterbeugte, so nah, dass sie ihren Atem an ihrer Wange spüren konnte. „Dein Herz gehört sowieso schon mir.", sagte Esther. Pia war sich ziemlich sicher, dass sie hören musste, wie ihr Herz zuerst über die eigenen Füße stolperte und dann immer schneller zu schlagen begann, während sie verzweifelt versuchte, die Fassung zu behalten.
Esther war so nah und Pia hatte keine andere Möglichkeit, als wie gebannt auf den Laptop vor ihr zu starren und sich nichts anmerken zu lassen.
Ihr Atem stockte, als sie Esthers Hand spürte, wie sich sanft um Pias Kinn legte und ihren Kopf ein wenig zur Seite drehte. Mit allem, was sie schon gemeinsam erlebt hatten, so nah waren sie sich wirklich noch nie gewesen. Auf Esthers fragenden Blick hin, der von Pias Augen zu ihren leicht geöffneten Lippen und dann wieder zurückging, konnte sie nur nicken und dann die Augen schließen, hoffen, dass das hier gerade tatsächlich passierte und erleichtert ausatmen, als sie Esthers Lippen auf ihren spürte. Es war mindestens genauso gut, wie Pia es sich immer vorgestellt hatte und gleichzeitig wäre kein Tagtraum der Welt in der Lage gewesen, diesen Moment auf eine zufriedenstellende Weise darzustellen. Die Flut an Gedanken, die normalerweise durch Pias Kopf jagten, wenn sie Zeit mit Esther verbrachte, verstummte augenblicklich und sie gab sich voll und ganz dem Gefühl hin, wie sich Esthers weiche Lippen gegen ihre bewegten. Oder mit ihnen?
Doch genauso schnell, wie der Moment gekommen war, war er auch schon wieder vorbei. „Die Verletzungen deuten auf Fremdeinwirkung hin.", sagte Esther plötzlich und als Pia ihre Augen wieder öffnete, griff Esther nach der Akte vor ihr auf dem Tisch, um sie besser lesen zu können. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?", fragte Pia grinsend, griff nach dem Kragen von Esthers Fußballtrikot und zog sie wieder zu sich herunter. Den Fall würden sie wohl für ein paar Minuten vergessen können.