
Esther öffnete die Tür zum Büro mit ihrer freien Hand und seufzte, als sie den scheinbar leeren Raum vor sich sah. Da hätte sie sich die Bestechungscroissants sparen können, die sie als Entschuldigung für ihr eigenes spätes Ankommen besorgt hatte. Doch als die Bürotür hinter ihr lautstark zu fiel, regte sich dann doch etwas an einem der Schreibtische.
„Ich bin wach!“, brachte Pia eilig hervor, als sie ihren Kopf ruckartig anhob. Der Ärmel, auf dem sie zweifellos eingeschlafen war, hatte rötliche Rillen auf ihrem Gesicht hinterlassen. „Süße?“, fragte Esther besorgt. Sie legte ihren Mantel und ihre Tasche ab und hängte beides über ihren Schreibtischstuhl, während sie Pia im Auge behielt, die sich etwas verwirrt im Büro umschaute.
„Warst du überhaupt zu Hause?“ Pia schüttelte den Kopf und hob einen Stapel Akten an. „Ich bin gestern nochmal ein paar alte Fälle durchgegangen, auf der Suche nach irgendwelchen Verbindungen zu unserem Toten. Muss wohl eingeschlafen sein.“ Esther seufzte und griff die Papiertüte mit den Croissants. „Haben wir nicht letztens erst über die Sache mit dem zu Hause schlafen geredet?“ Zu Hause, oder eben bei Esther. Esther war es eigentlich ganz lieb, wenn Pia nach der Arbeit mit zu ihr kam. Zumindest heute würde sie das auch durchsetzen.
„Kann ich daraus schließen, dass Schürk und Hölzerchen auch noch nicht hier sind?“, fragte sie, als sie von Pia nichts außer einem müden Schulterzucken erntete. „Ne, die hätten mich bestimmt geweckt.“ Esther schaute auf die Uhr. Sie war bereits fast eine halbe Stunde zu spät gekommen. „Wo treiben die sich wieder rum?“ Pia lachte etwas verschlafen auf. „Die führen bestimmt tiefgründige Gespräche. Mit ganz viel Augenkontakt.“ Pia war überzeugt, dass da etwas lief, zwischen ihren Kollegen. „Abgesehen davon…“, Pia rollte mit ihrem Bürostuhl zu Esther herüber, „…habe ich gar kein Problem damit, ein entspanntes Frühstück zu zweit im Büro zu haben.“
Pia hatte ein breites, verschmitztes Lächeln auf den Lippen, als sie Esther die Papiertüte wegnahm und hineinsah. Sie atmete begeistert auf, als sie die Schokocroissants entdeckte und schnappte sich eins, ohne überhaupt zu fragen. Das musste sie auch nicht. Esther spürte, wie ihre Mundwinkel langsam nach oben wanderten, während sie Pia dabei beobachtete, wie sie genüsslich den ersten Bissen nahm und mit geschlossenen Augen auf dem Gebäck herum kaute. Sie vergaß ganz, dass da auch noch ein Croissant für sie in der Tüte war. Und für Leo und Adam, auch, wenn die ihr gerade gestohlen bleiben konnten. Sollten die sich noch ein bisschen länger tief in die Augen schauen.
Esther griff nach der Armlehne von Pias Stuhl und zog ihn noch ein bisschen näher an sich heran. So nah, dass Pia ein wenig errötete, als sie die Augen wieder öffnete. „Hey.“, flüsterte sie. „Hey.“, antwortete Esther, genauso leise und mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht. Pia brachte sie ständig zum Lächeln. Ganz am Anfang hatte es sie genervt. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Team wenigstens ein Mitglied brauchte, dass Professionalität bewahrte. Aber Pias Charme war entwaffnend.
„Du hast da was.“ flüsterte Esther und strich mit dem Daumen über Pias Lippe, genau dort, wo ein bisschen Schokolade in ihrem Mundwinkel hängengeblieben war. Noch bevor Pia etwas erwidern konnte, hatte Esther sich weit genug vorgebeugt, um sie sanft zu küssen. Pias Lippen schmeckten süß, nach Schokocroissants und naja, Pia. „Weg?“, flüsterte diese, als Esther den Kuss beendete. „Hm.“, machte Esther und küsste sie noch einmal. „Musste nochmal ganz sicher gehen.“ Pia lachte leise.