
Die Winkelgasse
Draco wachte früh am Morgen auf, geweckt von der harten Stimme eines Hauselfen, der ihn angewiesen hatte, sich anzuziehen und in die große Halle zu kommen. Mit einem flauen Gefühl im Magen zog er sich eine dunkelgrüne Robe über und ging die steinerne Treppe hinunter, die unter seinen Schritten leise knarrte. Unten erwartete ihn Lucius Malfoy.
Sein Vater saß am langen Tisch, das Gesicht von einer kalten, abweisenden Maske überzogen. Die silberne Haarsträhne, die ihm über die Schulter fiel, spiegelte das spärliche Licht des Raumes wider. Als Draco eintrat, wanderte Lucius’ Blick über ihn – nicht mit Interesse oder Sorge, sondern mit unverhohlener Verachtung.
„Du siehst schwach aus“, sagte Lucius, ohne eine Begrüßung. „Ein unwürdiger Erbe des Hauses Malfoy. Wie auch immer, wir haben keine Zeit für deine Unzulänglichkeiten. Zieh etwas Anständiges an. Wir gehen in die Winkelgasse.“
Draco nickte stumm, sein Herz zog sich zusammen. Er hatte gehofft, eine Spur von Wärme oder zumindest Neutralität zu finden, doch Lucius ließ keinen Zweifel daran, was er von ihm hielt.
Die Reise zur Winkelgasse verlief in eisigem Schweigen. Lucius sprach kein einziges Wort, sondern musterte Draco hin und wieder aus dem Augenwinkel, als würde er ihn bewerten. Draco widerstand dem Drang, etwas zu sagen – jede seiner Reaktionen schien Lucius nur zu reizen.
Als sie durch den Eingang zur magischen Einkaufsstraße traten, breitete sich vor ihnen ein geschäftiges Treiben aus. Hexen und Zauberer in Roben verschiedenster Farben eilten von Geschäft zu Geschäft, und das fröhliche Summen der Gespräche erfüllte die Luft. Draco hätte die Szene beinahe genießen können, wenn nicht der kalte Blick seines Vaters über ihm schwebte wie eine Wolke.
„Du wirst alles Nötige für Hogwarts kaufen“, erklärte Lucius mit schneidender Stimme. „Und mach schnell. Ich habe Wichtigeres zu tun, als Zeit mit dir zu verschwenden.“
Zuerst gingen sie zu Madam Malkins Anzüge für alle Gelegenheiten. Draco stand reglos auf einem kleinen Podest, während Madam Malkin eifrig Maß nahm. Lucius sah kaum hin und musterte stattdessen die vorbeigehenden Kunden mit einem Ausdruck arroganter Langeweile.
Danach führte Lucius Draco in die Buchhandlung Flourish & Blotts, wo sie die benötigten Lehrbücher erwarben. Zwischen den Regalen fiel Dracos Blick auf „Hogwarts: Eine Geschichte“, und er spürte einen seltsamen Anflug von Neugier. Würde diese Schule wirklich einen Neubeginn für ihn bedeuten?
Die nächste Station war der Apotheker Slug & Jiggers, wo sie Zutaten für Zaubertränke kauften. Der scharfe Geruch von Kräutern und pulverisierten Zutaten ließ Draco den Kopf einziehen, aber er wagte es nicht, sich zu beklagen.
Irgendwann verlor Lucius die Geduld. „Das reicht. Ich werde nicht den ganzen Tag in dieser armseligen Gasse verbringen.“ Er winkte eine der Hauselfen herbei, die im Schatten warteten. „Bring ihn zu Ollivanders und sorge dafür, dass er den Rest seiner Einkäufe erledigt. Anschließend bringst du ihn nach Hause.“
Ohne ein weiteres Wort drehte Lucius sich um und verschwand.
Draco fühlte sich erleichtert, als sein Vater fort war. Er ging mit der Hauselfe zu Ollivanders, wo er sich einen Zauberstab anpassen ließ. Der alte, geheimnisvolle Zauberstabmacher hatte für jeden seiner Kunden die gleiche unheimliche Geduld, und nach einigen Versuchen hielt Draco schließlich einen Zauberstab aus Weißdornholz mit Drachenherzfaser in den Händen.
Als sie wieder auf die Straße traten, zog plötzlich eine Bewegung am Rand seines Sichtfeldes seine Aufmerksamkeit auf sich. Draco blieb stehen und blickte genauer hin. Dort, keine zehn Meter entfernt, stand ein Junge mit schwarzen, zerzausten Haaren und einer auffälligen Narbe in Form eines Blitzes auf der Stirn. Er trug eine schlichte Brille und wirkte überwältigt von der belebten Gasse. An seiner Seite stand ein riesiger Mann mit buschigem Bart und warmem Lächeln – Hagrid.
Harry Potter.
Dracos Herz schlug schneller. Es war, als würde eine Welle von Erinnerungen über ihn hinwegspülen. Er wusste nicht, wie es möglich war, aber er erkannte Harry sofort. Dieses Mal, dachte Draco, könnte ich die Dinge anders machen. Vielleicht... könnte ich etwas richtigstellen.
Nach den letzten Einkäufen brachte die Hauselfe Draco zurück ins Herrenhaus. Es war spät geworden, und Draco war erschöpft. Er wollte nur noch auf sein Zimmer und über das nachdenken, was er gesehen hatte.
Doch auf halbem Weg begegnete ihm Lucius, dessen Schritte wankend waren und dessen Atem eine starke Spur von Alkohol trug. Draco stockte, als sein Vater ihn mit funkelnden Augen ansah.
„Du lässt dir viel Zeit, nicht wahr?“ knurrte Lucius. „Was hast du überhaupt so lange in der Winkelgasse gemacht? Trödeln, wie immer? Du bist eine Schande für den Namen Malfoy.“
Draco ballte die Fäuste. In seiner alten Welt hätte er solche Worte ertragen, doch hier und jetzt konnte er es nicht länger hinnehmen. „Vielleicht bin ich eine Schande, weil mein Vater nichts anderes kann, als an seinem Glas zu hängen und seinen Frust an anderen auszulassen!“ fauchte er.
Lucius’ Gesicht lief rot an, und für einen Moment herrschte eine furchteinflößende Stille. Dann zog er seinen Zauberstab.
„Du wagst es, mich zu beleidigen?“ Lucius’ Stimme war gefährlich leise. „Crucio!“
Dracos Welt explodierte in einem Meer aus Schmerz. Er krümmte sich, sein Körper zuckte unkontrolliert, und jeder Nerv schien in Flammen zu stehen. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch er biss die Zähne zusammen, weigerte sich, auch nur einen Laut von sich zu geben.
Schließlich ließ Lucius nach, und Draco blieb keuchend am Boden liegen. Ohne ein weiteres Wort drehte sein Vater sich um und verschwand in einem anderen Raum.
Eine kleine Hand berührte Dracos Schulter. Es war die Hauselfe, die ihn schweigend aufhalf und ihn in sein Zimmer brachte.
Draco ließ sich auf das Bett fallen, der Schmerz hallte noch in seinem Körper nach. Doch tief in seinem Inneren glomm ein Funken Hoffnung. Hogwarts. Dort würde alles anders werden. Er würde ein neues Leben beginnen und vielleicht, nur vielleicht, eine Chance finden, die dunklen Schatten seiner Familie hinter sich zu lassen – und etwas Gutes zu tun.
Mit diesem Gedanken schloss er die Augen und ließ den Schlaf ihn endlich überwältigen.